Schlachtenlärm, allerseits
Seite 2: Bedarf es eines Feindes? Ja!
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Putin verlässt sich auf das Nationalgefühl seiner Landsleute. Er spielt geschickt mit Mythen und halben Wahrheiten. Dem Westen gegenüber (der das nicht anders macht) bedient er sich der Spaltungsdiplomatie, die vor hundert Jahren schon Lenin lehrte: Widersprüche und Gegensätze unter den imperialistischen Mächten finden, fördern und für die eigenen Zwecke ausnutzen.
Da hat Putin sich aktuell allerdings offenbar verrechnet, denn wie es aussieht: Der kapitalistische Westen hält zusammen, Weltmacht USA und Europa treten selten einig auf den Plan in diesen Tagen. Bedarf es dazu eines Feindes? Ja. Und nochmal ja. Auch Selenskij operiert mit der klaren Dichotomie von Gut und Böse.
Zurück zu Putin: Staatsgründer Lenin (1870-1924) ist für den starken Mann im Kreml von heute offenbar kein Vorbild. Er (Lenin) habe "eine Atombombe unter das Gebäude gelegt, das Russland heißt, und die ist dann explodiert", äußerte Putin in gereiztem Ton Anfang 2016 über den Mann, dessen Denkmäler noch überall in Russland zu finden sind. "Und die Weltrevolution haben wir auch nicht gebraucht", sagte Putin nach Angaben der Agentur Interfax.
Worum denn geht es?
Sollte es nicht "die große Alternative" sein, der revolutionäre Weltprozess – was dann? Eine humanere Ordnung etwa - ohne die Tendenz, unmenschlich zu werden? Die Abendnachrichten aus Kiew, Mariupol, Charkiw, Lwiw, Odessa geben hierauf die Antwort.
Man kann feststellen: Hinter dem russischen Kanonendonner verbirgt sich kein marxistisches Utopia. So wenig, wie sich hinter dem westlichen Expansionismus jemals christliche Werte finden ließen.
Was zählt, ist die Macht
"Die Welt ist in eine Epoche eingetreten, in der es keine Weltordnung mehr geben kann", so beschrieb Russlands Präsident Anfang Oktober 2019 auf dem Waldai-Forum in Sotschi die Lage.
Das eben ist die Losung des brachialen Pragmatikers. Stagnierende Wirtschaft, sinkende Einkommen und steigendes Renteneintrittsalter, das ist russische Alltagsrealität. Viele von Putins Untertanen ruinieren ihr Leben durch zu viel Hochprozentiges.
Putin selber spricht nicht vom "neuen Menschen". Er manipuliert seine Proles, die Mehrheit seiner Gesamtbevölkerung, von denen Millionen in einer armseligen Lebenswelt, vom Meister genannt "gelenkte Demokratie", ihr Dasein fristen, abgekoppelt von jedem Menschheitstraum, man nenne ihn nun individualistisch oder kollektivistisch.
Ein Großvater von Putin, Spiridon Putin, war Koch bei Lenin und dann bei Stalin und arbeitete in einer Datscha in der Moskauer Region. Das berichtete der Journalist Andrej Kondrascho 2018 in einer Dokumentation. Putins anderer Großvater, Iwan Schelomow, kämpfte im Ersten Weltkrieg an der russisch-österreichischen Front.
Der Kremlchef erwähnte auch seinen Vater: "Als Großvater mit Stalin zusammenarbeitete, besuchte ihn mein Vater und wurde sogar in ihr Haus gelassen und konnte beobachten, wie sie lebten", wird Putin bei Kondrascho zitiert.
Russlands Bevölkerung von heute lebt in einer Parallelwelt, sagt die Journalistin Inna Hartwich, die als Korrespondentin in Moskau arbeitet.
Sie analysiert Putins System des oligarchischen Kollektivismus, das sich nach Innen abriegelt und sich außenpolitisch keiner Seite verpflichtet fühlt:
Die Zusammenarbeit wird nicht an bestimmte Werte geknüpft. Es zählt der Machtgewinn.
Inna Hartwich, Moskau-Korrespondentin
Der Autokrat selber hat sich seinen persönlichen Traum jedoch anscheinend verwirklicht, wie man hier sieht.
Unter anderem gehören dazu eine opulente präsidiale Flugzeugflotte (inclusive 18 Hubschraubern), ein dienstlicher Luxuslimousinenpark, die Präsidentenjacht "Tschaika" neben einer Reihe weiterer Wasserfahrzeuge sowie eine private Fahrzeug- und Motorradsammlung (unter den Oldtimern ein in der Ukraine hergestellter Saporoschets aus dem Jahr 1972).
Im Westen nichts Neues
Halten wir fest: Es sind auf beiden Seiten Lügenmärchen, die erzählt werden. Die Großen spielen He-Man, und alle nehmen den Mund voll. Ein ebensolcher Unsinn wie die russische Apotheose der Macht in der Luft und auf dem Boden der Ukraine ist die westliche Selbstbeweihräucherung und das dazu passende Mantra: Mehr Waffen.
US-Präsident und Putin-Gegenspieler Joe Biden spitzt in seiner 27-minütigen Rede vom 26. März im Warschauer Königsschloss den Konflikt so zu:
(…) eine große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird.
US-Präsident Joe Biden, Rede vom 26. März 2022 in Warschau
Auf der einen Seite also die Demokratie. Auf der anderen Seite die Autokraten. Biden nennt es eine Entscheidung der jetzt lebenden Generation.
Es ist müßig, den hier unterlegten Demokratiebegriff zu hinterfragen. In Bidens gelobtem Land ist ja selber vom Freiheitsversprechen für den Normalbürger fast nichts übrig geblieben, außer einem täglich härter werdenden Kampf ums Dasein.
Der (US-)amerikanische Traum: längst ausgeträumt und zu einer Chiffre geworden, die bei Wahlveranstaltungen die falschen Leute mobilisiert. Unter dem Signum der Freiheit stürmten Trumps Anhänger das Kapitol und lieferten nichts als nur eine Fratze von Demokratie, eine durch und durch verkommene Vorstellung von Liberalität.
Die ins Extrem gesteigerte Individualkultur des Haifisch-Kapitalismus feiert sich gerne selbst. Sie bietet kaum Bausteine für den Aufbau einer gesellschaftlichen und moralischen Ordnung, in der sich Groß und Klein, Arm und Reich, Schwarz und Weiß wiedererkennen würden.
Von einer US-amerikanischen Mittelschicht ganz zu schweigen, die sich seit Jahren hart an den Rand der Unterschicht gedrängt sieht – oder schlicht überhaupt nicht mehr existiert.
Und das bei einer gleichzeitig gravierenden Zunahme reicher Haushalte. Für die Mehrheit heißt es: Struggle for Life.