Schlafschafe und Schwurbler, redet miteinander!

Seite 2: Brasilien, USA – und Deutschland: Warum wir um ein neues Miteinander kämpfen müssen

Brasilia im Januar 2023, Washington im Januar 2021– wie sich die Bilder gleichen! Ein Zufall ist das nicht: Die Anhänger des rechtsextremen brasilianischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro haben in dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump stets ein politisches Vorbild gesehen. Kein Wunder also auch, dass Bolsonaro den Angriff auf die demokratisch gewählte Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva von den USA aus verfolgte – und dort damit für innenpolitische Konflikte sorgt.

Der Sturm auf demokratische Institutionen – der auch in Berlin im August 2020 und im Dezember 2021 versucht wurde – zeugt in den USA wie in Brasilien von einem grundlegenden politischen und – mehr noch – gesellschaftlichen, fast zivilisatorischen Dissens: Die Akteure der großen Lager fühlen sich nicht mehr dem gleichen Land angehörig, der gleichen Gemeinschaft; man begegnet sich nicht mehr auf Augenhöhe, entmenschlicht den politischen Gegner.

Das merken wir auch in Deutschland: Hier drückt sich der disruptive Trend auch darin aus, dass man das Gegenüber mit wenig schmeichelhaften Bezeichnungen herabsetzt: "Schlafschafe" und "Mietmäuler" einerseits, "Schwurbler" und "Querdenker" andererseits. Die durch Pandemie und Ukraine-Krieg geschürten Ängste haben diese Lagerbildung begünstigt.

Damit rückt, was zunächst weit weg und auf skurrile Weise fremd scheint, in erschreckend greifbare Nähe. Sicher, die Demonstranten am Reichstagsgebäude in Berlin hatten im August 2021 kaum eine Chance, in das Parlament zu gelangen. Und die Reichsbürger um einen abgehalfterten hessischen Adeligen im vergangenen Dezember flogen früh auf. Dennoch treten die Parallelen deutlicher hervor: Auch hierzulande entsteht eine Kluft derartiger Tiefe, dass eine rechtzeitige Überwindung, eine Begegnung und ein Dialog immer weniger möglich scheinen.

Radikalisierung und Entfremdung wird durch innere Faktoren, etwa die Debattenkultur, begünstigt. Aber auch durch internationale Kontakte. "Die Sicherheitsbehörden beobachten die (…) Szene sehr genau, und zwar mit sämtlichen Implikationen, also auch mit Blick auf internationale Verbindungen", sagte eine Sprecherin des Innenministeriums dazu unlängst bei der Bundespressekonferenz.

Präsident da Silva hat die Geschehnisse in Brasilia richtig eingeordnet: Es gehe nun politisch und juristisch darum, die Organisatoren des Sturms auf Regierungsgebäude ausfindig zu machen und zur Verantwortung zu ziehen. Zugleich aber ist es notwendig, die Mitläufer und die warum auch immer Verblendeten wieder in ein gemeinsames gesellschaftliches Projekt einzubinden. Das gilt nun vor allem für das zerrissene Brasilien, aber auch für die USA.

Und Deutschland? Auch hierzulande werden die Gräben tiefer und die Akteure mehr, die von politischer Seite ebenso wie von "etablierten" und "alternativen" Redaktionen aus tagtäglich bemüht sind, Andersdenkende zu diffamieren und auszugrenzen. Die Folgen sind noch nicht so gravierend, wie in Brasilien oder den USA, wo Religion wie ein Katalysator wirkt. Es ist gut, dass die gesellschaftliche Krise hierzulande noch nicht so weit gediehen ist. Denn es eröffnet die Chance, den Differenzen entgegenzuwirken, bevor sie unüberbrückbar werden.

Wer aber auf sozialen Netzwerken, in Medien – mitunter vom Staat bezahlt – gegen Andersdenkende vorgeht, sie zu isolieren und ihnen zu schaden versucht, statt eine – wenn auch noch so kleine – gemeinsame Basis zu suchen, muss diesen Weg konsequent zu Ende denken.

Denn entweder sucht man so gut wie möglich den Dialog, wenn auch über Konfrontation und Streit, oder man wird sich irgendwann gewaltsam der Machtfrage stellen müssen. Auch die Beispiele gibt es ja: Die épuration sauvage in Frankreich nach 1945, die mitnichten nur Kollaborateure traf. Die damaligen Vertreibungen in ganz Europa. Die Massenflucht von einer viertel Million Menschen aus dem kleinen Kuba sind nach 1959. Die Balkan-Kriege.

Anstrebenswert sind solche Brüche und Exzesse nie. Dennoch steuert der kollektive Westen wieder auf den großen Knall zu. Weil es in Politik und Medien zu viele Akteure gibt, die für Aufmerksamkeit oder Geld an aggressiver Abgrenzung Gefallen finden, an Diffamierung und Shitstorms. Und zu wenige, die Risse zu kitten versuchen.

Artikel zum Thema:

Wolfram Janzen: "Querdenken" als Ausdruck der Polarisierung?
Joachim Schappert: Give Peace a Chance
Harald Neuber, Sabine Schiffer: "Gegneranalyse" und Zentrum Liberale Moderne: Die Presse als Feind?

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.