Schlussbilanz eines "Putin-Verstehers"

Seite 2: Mein Zerwürfnis mit Putin

Inzwischen sind 20 Jahre vergangen. 2001 ist nur noch Referenzpunkt für die Bewertung des Niedergangs des deutsch-russischen Verhältnisses. Der Akteur auf russischer Seite ist heute derselbe wie damals. In Deutschland haben die Politiker, die die Schrecken des Krieges und die Not der Nachkriegszeit noch am eigenen Leib erlebt haben, Platz gemacht für eine Generation, die den Krieg nur aus dem Fernseher kennt. Das erklärt Manches, aber nicht das Entscheidende.

Um die eigentlichen Ursachen des Zerwürfnisses zu verstehen, muss man tiefer schürfen. Dazu gehört die Einsicht, dass die Verschlechterung nicht erst mit Putins Überfall auf die Ukraine begonnen hat. Zwischen 2001 und heute waren (und sind!) fürchterliche Kriege, insbesondere die in Afghanistan, Irak, Georgien, Libyen, Syrien, Jemen und Mali.

In diese Zeitspanne fallen auch die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation, die Kämpfe im Donbass und die Nato-Osterweiterung (bis heute 14 Staaten, größtenteils aus dem ehemaligen Warschauer Pakt). Das hat Einflusssphären verändert und Bedrohungsängste geschürt.

Putin beobachtete das Heranrücken der Nato stets mit großem Argwohn. Seine wiederholten Bitten, die Sicherheitsinteressen seines Landes ernst zu nehmen, blieben ohne jegliche Resonanz, über viele Jahre hinweg. Hinzu kam neuerdings das sich verstärkende Drängen der ukrainischen Staatsführung nach einer Aufnahme in die Nato und die EU.

Putins eindringlicher Ruf, zumindest dies auszuschließen, blieb – wie zu erwarten – ungehört. Der Reflex hierauf waren die russische Anerkennung der Teilrepubliken Luhansk und Donezk und der Einsatzbefehl für die Invasion in die Ukraine. Zwei begreifbare, aber unverzeihliche Fehler Putins…

Scherbenhaufen

Heute stehen wir vor einem Scherbenhaufen.

Ein äußeres Zeichen der Wandlung ist, dass sich die ehedem weichen Gesichtszüge Putins versteinert haben. Sie gleichen heute einem Granitfelsen, dem jede Regung fremd ist. Zeichen von Empathie sucht man in dem verhärmten Gesicht vergebens. Der Präsident sieht sich offensichtlich in einer historischen Mission, schwadroniert von glorreicher sowjetischer Vergangenheit, verirrt sich in absurde Hirngespinste und setzt seine "Abschreckungswaffen" in erhöhte Alarmbereitschaft. Ein Irrer im Kreml? Oder sehen wir Spuren tiefer Enttäuschung und heilloser Verbitterung?

Die Amerikaner glauben, dass sie – ungeachtet ihrer inneren Zerrissenheit – ihren Fernzielen Ausschaltung der "Regionalmacht Russland" (Obama) und globale Hegemonie einen wesentlichen Schritt näher gekommen sind. Das könnte sich als großer Irrtum erweisen.

Zwar scheint es so, dass das vom Verfall bedrohte Militärbündnis Nato durch den Ukraine-Krieg nochmals gekittet worden ist. Doch der Preis hierfür ist hoch. Denn das weltpolitisch ins Abseits geratene Russland ist unübersehbar in die offenen Arme Chinas getrieben worden.

Auch von deutscher Seite ist nichts Gutes zu erwarten. An der Spitze steht ein phantasie- und empathieloser Kanzler. Wesentlich getragen wird er von einer kleinen Partei, die wie schon 2001 Teil der Bundesregierung ist. Diese Partei hat ihren Gründungsmythos (Gewaltfreiheit, Friedensbewegung) verraten. Der Unterschied zur Gründungszeit könnte größer kaum sein.

Die Führungsfiguren von heute sind glühende Anhänger der Nato und erschöpfen sich in der Dämonisierung Putins und Forderungen nach noch schärferen Sanktionen. Die kläglich gescheiterte grüne Kanzlerkandidatin ist jetzt deutsche Außenministerin und bemüht sich erkennbar, ihre männlichen Nato-Kollegen in Sachen Bellizismus zu übertreffen. Diplomatie Fehlanzeige. Jüngst sagte sie mit Blick auf das neueste Sanktionspaket triumphierend: "Das wird Russland ruinieren." Solche Worte sprechen für sich. Wir sind in einer heillosen Zeit.

Hysterie

Was ist los in unserem Land? Kirchenglocken läuten am siebten Kriegstag sieben Minuten lang. Behinderte russische Sportler werden von den Paralympics ausgeschlossen, "normale" Sportler ohnehin. Der russische Chefdirigent der Münchner Philharmoniker Valery Gergiev wird vom Münchner Oberbürgermeister ultimativ aufgefordert, sich von Putin zu distanzieren – und dann gefeuert. Ähnliches gilt für die weltbekannte Sopranistin Anna Netrebko, ihre Bühnenauftritte werden abgesagt.

Diskutanten, die es wagen, in Talkshows auch die russische Sichtweise darzustellen, werden von den vereinten Kräften eines entfesselten Moderators und der Front linientreuer "Atlantiker" überbrüllt.

Für militärische Aufrüstung werden über Nacht 100 Milliarden locker gemacht (für Umwelt- und Klimaschutz unvorstellbar). Das findet den ungeteilten Beifall der Mainstream-Medien. SPD-Politiker geraten unter massivem Rechtfertigungsdruck, weil sie sich jahrzehntelang für Friedenspolitik eingesetzt haben (Mützenich, Platzeck, Schwesig, Stegner).

Einem früheren SPD-Kanzler und Unterstützer der Gas-Pipeline Nord Stream 2 droht deswegen der Parteiausschluss; bis vor ein paar Tagen hat seine Partei das Vorhaben noch einhellig unterstützt. Die Liste der Absurditäten ließe sich beliebig fortsetzen. Es gibt keinen Widerspruch mehr. Ukraine über alles. Die Hysterie in Deutschland ist heute grenzenlos.

Gewissensfrage: Gab es Vergleichbares bei den Kriegen der letzten 20 Jahre mit Millionen von Kriegstoten, Verstümmelten und Flüchtlingen? Die Kriege gegen Serbien, Afghanistan, Irak und Jemen waren nicht weniger grausam und völkerrechtswidrig als der Ukraine-Krieg.

Allein für den Irak-Krieg schätzt eine US-Studie 500.000 Tote, andere sprechen von einer Million. Auch die Behauptung, der Krieg gegen die Ukraine sei der erste Krieg in Europa nach 1945, ist schlicht und einfach falsch. Wer es nicht glaubt, frage die Menschen auf dem Balkan oder die Nord-Iren.

Das Narrativ hinter dem Unfassbaren ist simpel und einprägsam: Wir sind die Guten und die anderen sind die Bösewichter, immerzu und überall. Die Wahrheit ist: Wir haben uns daran gewöhnt, mit zweierlei Maßstäben zu messen. Das verletzt jedes intakte Gerechtigkeitsgefühl.