Schlussbilanz eines "Putin-Verstehers"

Seite 3: Der Stab über Putin wird gebrochen

Jetzt endlich kommt das, was ungeduldige Leser schon lange vermissen. Ich sage es ohne Umschweife: Putins Kriegsbefehl ist unverantwortlich, brandgefährlich und absolut völkerrechtswidrig. Außerdem hat Putin die Welt hinter die Fichte geführt, mich auch, das ärgert mich. Denn ich habe immer wieder versucht, ihn vor ungerechten Vorwürfen in Schutz zu nehmen.

Der einzig angemessene Aufenthaltsort für so jemanden ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Dort könnte er sich mit amerikanischen Präsidenten (z.B. Bush Vater und Sohn, Clinton, Obama) zum Spaziergang im Gefängnishof treffen. Denn auch sie haben das Völkerrecht mit Füßen getreten.

Dieses elitäre Treffen bleibt jedoch bis auf Weiteres ein Wunschtraum. Eine Strafverfolgung dieser Kriegsverbrecher ist derzeit nicht möglich. Weder Russland noch die USA (und auch nicht die Ukraine!) haben bisher den Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert – und sie wissen warum.

All die Schelme, die nach jahrelangem peinlichen Schweigen plötzlich so laut nach dem Völkerrecht rufen, mögen sich dafür einsetzen, dass die genannten Staaten das "Rom-Statut" unterzeichnen!

Nur der Vollständigkeit halber: Aus dem gutgläubigen Putin-Versteher von 2001 ist ein enttäuschter Putin-Verächter geworden. Doch ich bleibe dabei, es hätte auch besser laufen können, wenn die auf der anderen Seite … siehe oben.

Und Russland?

Mein Urteil über Putin gilt nicht in gleicher Weise für Russland. Es sind nicht die Russen, die den Krieg beschlossen haben. Immer mehr mutige Russen protestieren öffentlich gegen ihn.

Deshalb widersetze ich mich der wohlfeilen Hetze der letzten Tage gegen Russland. "Der Russe" ist nicht kriegssüchtiger als "der" Ami oder "der" Deutsche. Ein kurzer Blick in die neuere Geschichte zeigt anderes.

Nicht die Russen haben ständig den Westen überfallen. Es ist umgekehrt (Napoleons Russland-Feldzug 1812, Kriegserklärung Kaiser Wilhelm II. an Russland 1914, Hitlers "Unternehmen Barbarossa" 1941). Die behauptete, russische Aggressivität wird auch nicht durch die Militärausgaben belegt (im Jahr 2020: Russland: 67 Milliarden US-Dollar, USA: 767 Milliarden US-Dollar; Nato-Staaten: 1,1 Billionen US-Dollar).

Für meine persönliche Einschätzung noch wichtiger ist, dass Russland den Warschauer Pakt aufgelöst, Staaten der ehemaligen UdSSR in die Selbständigkeit entlassen, sein Militär aus Deutschland abgezogen und der deutschen Wiedervereinigung zugestimmt hat. Das sollten die Scharfmacher nicht vergessen.

Zerrbilder und Hysterie waren noch nie gute Ratgeber. Schauen wir auf die Tatsachen: Putin wird verschwinden, das kann schneller gehen, als wir heute denken. Russland gehört zu Europa und es wird immer unser geografischer Nachbar bleiben. Die russische Kultur ist aus Europa nicht wegzudenken. Deshalb ist es unerlässlich, mit diesem großen Land so bald wie möglich ein gutes Verhältnis aufzubauen.

Der klügste Weg ist, deutsche und europäische Interessen in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen und nicht strategische Wünsche einer kränkelnden Weltmacht.

Sanktionen

Sanktionen sind generell weder gut, noch schlecht. Es kommt darauf an, ob sie zielgenau und berechenbar sind. So gesehen sind Maßnahmen gegen verbrecherische Führungseliten genauso legitim wie Sperrungen von Rüstungsgütern und von durch Korruption erlangten Oligarchenvermögen.

Hochproblematisch ist der auf massiven amerikanischen Druck beschlossene deutsche Stopp von Nord Stream 2. Zwar kann damit der Druck auf die russische Staatsführung gesteigert werden. Aber dann ist nicht zu verstehen, dass Amerika weiter Öl aus Russland bezieht. Hier gilt, entweder beide oder keiner.

Unangemessen sind die in den letzten Tagen beschlossenen Sanktionen, deren Leidtragende vor allem die einfachen russischen Menschen sind. Meines Wissens ist noch niemand auf die Idee gekommen ist, die Bevölkerung der USA für völkerrechtswidrige Kriege ihrer Präsidenten zu sanktionieren. Warum sollte es im Falle Russlands anders sein? Es zeigt sich, dass das Arsenal der legitimen Sanktionen schnell erschöpft ist.

Aber was kann man sonst noch tun? Ehrliche Antwort, ich weiß es nicht. Die Erfahrung lehrt, nichts tun ist selten eine gute Lösung, aber das Falsche tun, ist meist noch schlechter. Die Welt steht wieder einmal vor einem kaum aufzulösenden Dilemma.

In einer solchen Lage bleibt nur das Gespräch, und zwar nicht nur mit Freunden, sondern auch – und vor allem – mit dem erklärten Feind. Es ist die Stunde der Diplomatie und das heißt, zuzuhören und zu versuchen, die Sorgen des anderen zu verstehen. Das wurde im Fall Putin leider sträflich versäumt. Hier ist für die Zukunft noch viel Spielraum nach oben.

Waffenlieferungen

Das Dilemma geht noch weiter. Es betrifft auch die umstrittene Frage, ob die angegriffene Ukraine mit Waffen versorgt werden darf und soll. Unser ziviles Rechtssystem hält es für zulässig, dass man einem Angegriffenen hilft ("Nothilfe"). Das Völkerrecht ist komplizierter.

Umstritten ist, ob man durch Waffenlieferungen an eine Konfliktpartei das Neutralitätsgebot verletzt, das die andere Konfliktpartei zu Gegenmaßnahmen berechtigt. Noch heikler ist die Frage, ob Nothilfe auch dann noch sinnvoll und ratsam ist, wenn absehbar ist, dass Waffenlieferungen dem Krieg keine entscheidende Wendung zugunsten des Angegriffenen geben können, sondern nur die Zahl der Opfer erhöht wird.

Die Bundesregierung hat sich damit erkennbar schwergetan. Sie wurde über Nacht vom Saulus zu Paulus. Ich glaube, das Recht gibt hierauf keine befriedigende Antwort, wenn doch, ich kenne sie nicht…