Schnell baut der Staat Drohkulissen auf

Lebenselixier der Demokratie: Whistleblower tragen zur Sicherheit des Staates bei, die im Amt befindlichen Regierungen drehen den Spieß aber um

London - Am vergangenen Dienstag trat er nochmal in Erscheinung, der Grand-Daddy of Whistleblowing, Daniel Ellsberg. Bei der Einführungsveranstaltung zur Sommerausgabe des Londoner Magazins Index on Censorship sprach der 90-jährige Whistleblower der Pentagon Papers einprägsame Worte zum Themenkomplex Whistleblowing.

Der Special Report des neuen Magazintitels lautet: Whistleblower: Das Lebenselixier der Demokratie. Eine bewegende Geschichte nach der anderen führt in die aufregende Welt derjenigen Menschen, die sich von anderen dadurch abheben, dass sie den Mut aufbringen, offensichtliches Unrecht auszusprechen. Die Ausgabe ist ein Muss für alle, die wissen wollen, was auf Deutschland nach dem 17. Dezember zukommt.

Zu Wort kam auch die Schwester von Reality Winner, der ehemaligen US-Geheimdienstspezialistin, die die russische Einmischung in die US-Wahl 2016 an die Öffentlichkeit brachte und dafür zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde.

Durch das Programm führte Chefredakteur Martin Bright, der als Enthüllungsjournalist mit mehreren prominenten Whistleblowern zusammengearbeitet hat, darunter Katharine Gun, die als Geheimdienstmitarbeiterin spitzbekam, dass der britische Geheimdienst für die NSA die nicht ständigen Mitglieder im UNO Sicherheitsrat abhören sollte, um deren Abstimmungsverhalten manipulieren zu können, als die USA einen UNO-Beschluss herbeiführen wollten, in den Irak einzumarschieren. Der Stoff kam vorletztes Jahr in die Kinos, mit Keira Knightley in der Hauptrolle des Films "Official Secrets".

Freiheit

Aber manchmal braucht man gar nicht ins Kino gehen, um die Dramen dieser Welt zu sehen. Manchmal genügt es, eine Ausgabe von Index on Censorship zu lesen. Das Magazin wird weltweit (und sehr gerne in der akademischen Welt) gelesen, in Deutschland abonniert es bislang nur die Universität München.

Für die Erstausgabe von Index 1972 schrieb Alexander Solschenizyn einen Artikel. 1977 erschien hier eine Übersetzung der Charta 77 von Václav Havel. Später veröffentlichte Index die Welterklärung des Internationalen Komittees zur Verteidigung von Salman Rushdie, in der "das Recht aller Menschen, ihre Ideen und Überzeugungen zu äußern und sie mit ihren Kritikern auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz und frei von Zensur, Einschüchterung und Gewalt zu diskutieren" unterstützt wird.

Und sechs Monate danach veröffentlichte Index die Hungerstreik-Erklärung der vier Studentenführer der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens von 1989. Kurzum, Index ist ein Magazin für die Meinungsäußerungsfreiheit, welches Freiheitskämpfern aus der ganzen Welt eine Bühne gibt.

Am Dienstag war Reality Winners Schwester Brittany anzumerken, wie verzweifelt der Kampf ihrer Schwester gegen die Vereinigten Staaten von Amerika immer noch ist. Nach vier Jahren wurde Reality kürzlich aus dem Gefängnis entlassen. Brittany Winner, Daniel Ellsberg und viele andere Unterstützer erbitten gerade von US-Präsident Joe Biden eine offizielle Begnadigung, damit Reality und ihre Familie zumindest formal frei werden.

Denn augenblicklich darf die Familie nicht über den Fall sprechen. Gemäß dem Espionage-Act sei es Winner verboten, zu erklären, warum sie die Informationen geleakt hat. Die Winners erhoffen sich einen "Aufschrei der internationalen Gemeinschaft".

Die Situationen sind absurd

Die Situationen sind absurd. Gerade wegen der Aktion Winners war die letzte US-Wahl vor knapp einem Jahr die wohl sicherste der US-Geschichte. Brittany nennt den Leak ihrer Schwester gar eine patriotische Handlung. Whistleblower tragen zur Sicherheit des Staates bei, die im Amt befindlichen Regierungen drehen den Spieß aber um. Selbiges geschah in den letzten Wochen, als zwei mutige Whistleblower ins Gefängnis gesteckt wurden.

In den USA traf es mit 45 Monaten den jungen NSA-Analysten Daniel Hale, der Details rund um den US-amerikanischen Drohnenkrieg leakte. Ähnlich wie die US-Greueltaten in Vietnam ist der Drohnenkrieg ein Verbrechen. WikiLeaks nannte eines seiner berühmtesten Videos "Collateral Murder", weil ferngesteuerte Drohnen bei jedem Mordversuch eines einzigen Verdächtigen 10 bis 20 Mal so viele weitere Menschen töten, so Ellsberg am Dienstag.

Außerdem traf es mit acht Monaten Craig Murray, den ehemaligen britischen Botschafter. Vor einigen Jahren hatte Murray über die miesen Spiele seines Landes in Usbekistan, Afghanistan und im Irak ausgesprochen. Whistleblower trifft es manchmal erst Jahre später. Mit der Berichterstattung über einen schottischen Gerichtsprozess hatte man nun einen Anlass, den unliebsamen Reporter zu inhaftieren.

Den BIG-OIL Whistleblower Jonathan Taylor traf es ebenfalls Jahre nach seinem Leak. Erst kürzlich kehrte Taylor in seine Heimat England zurück, nachdem er ein Jahr in einem kroatischen Gefängnis gehalten wurde.

Wer Daniel Ellsberg zuhörte, der konnte enorme Kraft für die Sache der Wahrheit und des Friedens schöpfen, den zwei so wichtigen Komponenten für die Aufrechterhaltung der Demokratie. Ellsberg hatte das Glück, trotz seines starken Beitrags am Sturz von Präsident Nixon (Watergate) eben nicht im Gefängnis zu landen.

Vielleicht half es ihm, dass er vor seinem Leak für vier US-Präsidenten Atomkriege geplant hatte, und dadurch zu einflussreich war. Ja man konnte sogar den Eindruck gewinnen, dass Ellsberg eine Haftstrafe für lohnend hält ("it is worth"), wenn es der Demokratie nutzt.

Der Fall Lilith Wittmann vs. CDU

Auf einer anderen Ebene erlebt derzeit die Deutsche Lilith Wittmann Ähnliches wie Ellsberg vor genau 50 Jahren. Die IT-Expertin entdeckt eine erhebliche Sicherheitslücke in einer Wahlkampf-App der CDU, informiert die CDU, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und den Berliner Datenschutzbeauftragten. Die CDU zeigt sie an.

Die Anzeige erfolgt aber erst, als Wittmann das Angebot von CDU-Bundesgeschäftsführer Stefan Hennewig für einen Beratungsvertrag ausschlägt. Mit dem Vertrag hätte man Wittmann zum Schweigen bringen können, der Bundestagswahlkampagne wäre ein störungsfreies Fahrwasser bereitet.

In Bundestag und Landtagen werden Mitarbeiter förmlich zum Schweigen verpflichtet, und für den Fall des Bruches ihrer Verschwiegenheit werden ihnen - neben vertraglichen Verschwiegensheitserklärungen der Fraktionen - diverse Strafgesetzbuchsparagraphen unter die Nase gehalten. Zu nennen wären hier beispielsweise die Paragraphen 133, 201, 203, 204 oder 353.

Selbst wenn das LKA weiter ermitteln sollte: Die CDU hat die Anzeige zurückgezogen. Wittmanns gute Kontakte haben der CDU eine schlechte Wahlpublicity verschafft, also genau das, was man vor den Wahlen vermeiden wollte.

Fazit: Die Unabhängigkeit Wittmanns hat die Information fließen lassen.

"Kriminelle staatliche Arbeitgeber"

Ellsberg merkte am Dienstag an, Hunderte, wenn nicht Tausende Mitarbeiter hätten damals denselben Zugang zu den Informationen gehabt, die ihn zu dem Leak bewegten (es ging um die Missetaten der Amerikaner im Vietnamkrieg). Obwohl sehr viele von ihnen wussten, dass ihr Arbeitgeber, also die Regierung, kriminell handelte, und dass diese Information an die Öffentlichkeit gehörte, schwiegen sie - aus Angst, ihre Karriere in der Regierung zu gefährden.

So wurden damals Tausende zum korrupten Mittäter ihrer kriminellen staatlichen Arbeitgeber. So war es auch beim Irakkrieg, wo laut Ellsberg "jeder seinen Mund gehalten hatte". Und so ist es noch heute.

Eine aktuelle PR-Aktion der Münchner Stadtverwaltung mutet hier wie ein Ablenkungsmanöver an. "Wer die Hand aufhält, fliegt raus, da gibt es null Toleranz, da kommt eine Kündigung", sagt Personalchef Alexander Dietrich der Münchner Stadtverwaltung. Natürlich muss gegen behördliche Korruption angegangen werden, aber Dietrichs Drohung dürfte der Kategorie "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen" zugeordnet werden.

Was wohl wäre, wenn Dietrich gewahr würde, dass sein Chef, Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), ebenso gegen eklatantes Recht verstößt - wie seine Mitarbeiter, bei denen er null Toleranz verspricht? Oder wenn gar im großen Stil etwas im Argen liegt, so wie die Manipulationen von Bosch rund um den Diesel-Abgasskandal, auf die Karsten vom Bruch hinwies, der dafür seit Jahren von Bosch gerichtlich verfolgt wird? Oder im Falle etlicher Stadtverwaltungen, die ihren Fußgängern seit Jahren überhöhte Stickoxide zumuten, obwohl sie verboten sind?

Was in Deutschland zu tun ist

Die Erfahrungen zeigen, dass erfreulich viele Karrieristen (wie Ellsberg) den Mut aufbringen, die Missetaten ihrer hochrangigen Chefs ans Tageslicht zu bringen. Margrit Herbst, die BSE-Whistleblowerin, gehört dazu.

Ellsberg ermunterte am Dienstag auf so typisch amerikanische Art: "You can make a difference", und bildete damit einen gigantischen Kontrast zur erlernten Hilfslosigkeit im Sinne eines hierzulande gängigen "Das bringt ja sowieso nichts".

Zum 17. Dezember 2021 ist Deutschland von der Europäischen Union aufgefordert, die Whistleblowerschutzrichtlinie in deutsches Recht umgewandelt zu haben. CDU/CSU als politische Dauerverwalter haben unlängst gegenüber ihrem noch-Koalitionspartner SPD signalisiert, dass sie die Frist verstreichen lassen wollen und lieber ein Vertragsverletzungsverfahren der EU in Kauf nehmen.

Georgia Georgiadou, stellvertretende Abteilungsleiterin der EU-Generaldirektion Justiz, sagte im März dieses Jahres, die EU erwarte diese Verstöße. Zumindest Mitte März hätten der EU-Kommission noch keine Anträge von Mitgliedsstaaten vorgelegen, die auf die Fristverstreichung abzielen.

Georgiadou sieht die Glaubwürdigkeit des "Systems" auf dem Spiel. Man plane "kulturelle Veränderungen" in Europa. Zur Veränderung "neuer gesellschaftlicher Haltungen und neuen Verhaltens" gehöre auch, dass Arbeitgeber in Zukunft stärker zur Verantwortung gezogen werden. Im "neuen Europa würde man Vertrauen erst verdienen" müssen.

Dabei lieben Regierungen Whistleblower - so lange Missetaten von Unternehmen aufgedeckt werden. Die USA sind sicherlich federführend in der Art und Weise, aufgrund zumeist anonymer Whistleblowerinformationen Unternehmen mit hohen Strafzahlungen zu belegen.

Sobald die verdächtigen Aktivitäten aber durch staatliche Stellen selber erfolgen, etwa wie im Falle Wirecard, ändert sich die Lage. Schnell baut der Staat Drohkulissen auf, die nicht selten erst in letzter Minute fallen gelassen werden. Ellsberg sagte am Dienstag, Politiker würden ungern Journalisten oder andere in der Öffentlichkeit Exponierte verurteilt sehen.

So wäre es bei Katherine Gun gewesen, bei der die Anklage erst eine halbe Stunde nach Prozesseröffnung fallen gelassen wurde. Die Mitarbeiter von netzpolitik.org können ein Lied von politischen Drohkulissen singen.

Zwei Welten treffen aufeinander, wo sich einerseits Regierungen immer mehr herausnehmen, auf der anderen Seite die (digitalen) Zeichen auf mehr Öffnung stehen. Am Beispiel des amerikanischen "Espionage Acts" schlug Ellsberg vor, eine Menge krimineller Aspekte aus dem Gesetz zu streichen.

Ellsberg nennt beim Namen, was auch in Deutschland zu tun ist. Angesichts einer behördlichen Mode, immer mehr Informationen als Verschlusssache zu deklarieren oder der Anstellung von Politikberatern, die CDU-geführten Ministerien empfehlen, die Presse zu disziplinieren, erscheint es als höchste Zeit, Whistleblowing zu normalisieren.