Schockzustand in Serbien

Nach der Ermordung des Premierminister Zoran Djindjic herrschen in Belgrad Angst und Verunsicherung. Alle Finger zeigen auf die mächtige Mafia als Auftraggeber der Todesschüsse

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Nach den tödlichen Schüssen auf Premierminister Zoran Djindjic befindet sich Serbien im Schockzustand. Nachdem die Nachricht vom Attentat am Mittwoch Nachmittag wie ein Lauffeuer durch die Stadt ging und zeitweise das Mobilfunknetz zusammenbrach, versammelten sich rund um den Tatort in der Belgrader Innenstadt Tausende Bürger, um Neuigkeiten zu erfahren. Zunächst hieß es, Djindjic habe das Attentat überlebt. Gegen 15.00 Uhr aber trat Finanzminister Bodizar Jelic vor die Presse und bestätigte die Nachricht vom Tod des Chefs der Demokratischen Partei (DS), der vor zweieinhalb Jahren den Sturz Slobodan Milosevics angeführt hatte (Die serbische Oktoberrevolution). Das ungläubige Staunen wich tiefem Entsetzen und einem Gefühl von Unsicherheit.

Nur wenige Minuten nach dem Attentat riegelten schwer bewaffnete Polizeikräfte die Hauptverkehrsstraßen ab und begannen mit Personen- und Fahrzeugkontrollen. Der Belgrader Flughafen und Grenzübergänge wurde gesperrt. Der nationale Sicherheitsrat, der am Abend zusammentraf, proklamierte bis auf weiteres den Ausnahmezustand. Das Militär kann jetzt Polizeifunktionen übernehmen und Verhaftungen vornehmen. Generalstabschef General Branko Krga erklärte im Staatsfernsehen RTS, das Militär stünde bereit, "die Situation im Land zu stabilisieren". Die Bevölkerung wurde aufgerufen ihrer Arbeit nachzukommen, gleichzeitig wurden aber Versammlungen verboten. Staatliche Institutionen sollen Sicherheitsvorkehrungen treffen. Der stellvertretende Ministerpräsident Nebojsa Covic übernahm vorübergehend die Amtsgeschäfte.

Noch liegen die Hintergründe des Attentats im Dunklen. Zwar soll die Polizei am Tatort zwei mutmaßlich in den Mord verwickelte Männer festgenommen haben, ihre Identität blieb aber bislang unbekannt. In jedem Fall aber weisen die Tatumstände auf eine professionelle Planung hin. Augenzeugen berichteten telepolis, sie hätten zwei Schüsse gehört. "Es muss ein Scharfschütze gewesen sein, der aus sicher Entfernung genau getroffen hat", meinte ein Bauarbeiter, der keine zweihundert Meter entfernt vom Tatort arbeitete, als Djindjic gegen 12.45 Uhr erschossen wurde.

Der Tatort ist ein Parkplatz vor einem Regierungsgebäude Mitten in der Belgrader Innenstadt. "Wer hier den Premierminister ermordet, will damit deutlich machen, über welche Macht er verfügt", sagte eine Passantin. Tatsächlich befinden sich rund um den Tatort das Gebäude des Generalstabs der Armee, eine Kaserne der Elitetruppen und das Gebäude des Innenministeriums.

Mafiaverwicklungen

Alle Reaktionen von Politikern und Medien deuten auf die Mafia als mutmaßliche Drahtzieher des Attentats. Bereits am 21. Februar war Djindjic nur mit Glück einem Mordversuch entkommen, als ein LKW-Fahrer seine Limousine rammen wollte. Der festgenommene Täter, Dejan "Bugsy" Milenkovic, stand offenbar auf der Gehaltsliste einer Mafiaorganisation. In den vergangenen Wochen lieferten sich Mafiaclans einen blutigen Machtkampf.

Djindjic hatte mehrmals angekündigt, hart gegen die "Organisierte Kriminalität" vorgehen zu wollen, beklagte sich aber über mangelnde Kooperation der Justiz und Polizei. So wurde der Attentäter vom 21. Februar nach nur vier Tagen aus der Haft entlassen. Mafiaorganisationen, die in den vergangenen Jahren eng mit der Polizei und Politikern zusammenarbeiteten, waren seit Ausbruch der Kriege in Jugoslawien 1991 zu einer wichtigen politischen und wirtschaftlichen Macht geworden.

Kritiker warfen Djindjic allerdings vor, selbst mit mafiösen Strukturen verbunden zu sein. Er sei mit diesen eine Allianz eingegangen, um Milosevic stürzen zu können. Seither habe er sich nicht aus ihrer Umklammerung befreien können, hieß es in zahlreichen Presseberichten der vergangenen Tage. Auch Djindjics Erzrivale Vojislav Kostunica hatte Djindjic vorgeworfen, das Land "kolumbianisiert" zu haben.

Kostunica und Djindjic waren gemeinsam zum Sturz Milosevics im Oktober 2000 angetreten (Ein revolutionärer Nachtmittag in Belgrad)), hatten sich dann aber in einem erbittert geführten Machtkampf entzweit. Während Djindjic als serbischer Premier auf die Kooperation mit der "internationalen Gemeinschaft" drängte und den Weg in die Europäische Union als Hauptziel proklamierte, bestand Kostunica als jugoslawischer Präsident auf Distanz zum Westen. Nach zwei Versuchen im vergangenen Jahr zum serbischen Präsident gewählt zu werden, die an mangelnder Wahlbeteiligung scheiterten, ist Kostunica seit der offiziellen Überführung Jugoslawiens in den neuen Staatenbund "Serbien und Montengro" im Februar ohne offizielle Funktion. Serbien verfügt nun weder über einen gewählten Präsidenten noch über einen gewählten Premierminister.

"Die Macht liegt auf der Straße", meinte ein junger Mann, der sich am Tatort mit Passanten eine Diskussion lieferte. Andere meinten, die Mafia habe nun endgültig die Macht übernommen. Ob diese Einschätzung stimmt, werden die nächsten Tage zeigen. Politiker von Djindjics Demokratischer Partei fordern ein schnelles und energischen Vorgehen gegen die mutmaßlichen Drahtzieher des Attentats.

Das Fernsehen begann am Mittwoch Abend, die Steckbriefe von einen Dutzend angeblicher Mitglieder der sogenannten "Zemun Mafia" zu zeigen. Diese Gruppe aus dem Belgrader Stadtteil Zemun wird vom ehemaligen Chef der Polizeispezialtruppe "Rote Barette", Milorad Lukovic alias "Legija" geführt. Regierungskreise nannten Legjia als mutmaßlichen Drahtzieher des Attentats, legten aber keine konkreten Hinweise vor. Legija soll nach Anschuldigungen eines abgetauchten Mafiarivalen, Ljubisa Buha alias "Cume", für zahlreiche politische Morde während der Milosevic Zeit verantwortlich sein und bis heute ein florierendes Geschäft im Drogen-, Frauen- und Waffenhandel führen.

Während des Sturzes von Milosevic im Oktober 2000 spielte Legjia eine zwiespältige Rolle. In einem Offenen Brief zur Verteidigung gegenüber den Vorwürfen von Cume betonte der ehemalige Kommandeur der Roten Barette, er habe sich an die Seite Djindjics und der Demokratischen Opposition Serbiens (DOS) gestellt, als diese am 5. Oktober zum Sturm auf das Parlament aufrief. Auf diese Weise habe er Blutvergießen verhindert. Auch Djindjic bestätigte diese Darstellung. Diejenigen, die ihn wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen an das Tribunal in Den Haag ausliefern wollten, warnte Legija: "Die Geschichte wird euch nicht vergeben." Dies wurde als eine direkte Warnung an Djindjic verstanden, der zwar im Oktober 2000 mit Legija verhandelt hatte, unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft in der Folge aber zunehmend härter den Verhaftungsanforderungen Den Haags entsprach.

Boris Kanzleiter aus Belgrad