Schöne neue Arbeitswelt: Verantwortung ohne Macht
Das Management hat ein Problem. Wie Beschäftigte zu Verantwortungsträgern gemacht werden – und warum das nicht zu weniger Ausbeutung führt. (Teil 1)
Im Jahre 1943 hatte der Präsident von IBM ein schreckliches Erlebnis. Während eines Rundgangs durch das IBM-Werk in Endicott, einer Kleinstadt im Bundesstaat New York, entdeckte er eine Arbeiterin, die nichts tat. Obwohl sie ihre Maschine selbst hätte einrichten können, wartete die Arbeiterin auf einen Einrichter, da das Einrichten nicht zu ihren Aufgaben gehörte. Sie hätte – laut ihrer Aussage – auch ihre Arbeit selbst kontrollieren können, aber dafür wiederum war ein Fertigungskontrolleur zuständig.
Würde Arvind Krishna, der heutige Chief Executive Office (CEO) von IBM, einen Rundgang durch die Büros und Abteilungen einer IBM Niederlassung tätigen, bliebe ihm ein solches Erlebnis erspart. Stattdessen würde er intensiv in ihre Arbeit vertiefte Beschäftigte sehen, die mit Maus oder Headset ausgestattet, unablässig auf ihren Computerbildschirm schauen und ihre Hände über die Tastatur bewegen. Er könnte sicher sein, dass die Beschäftigten nicht tatenlos verharren, sondern selbst für den Fluss ihrer Arbeit sorgen würden.
Verantwortung zu übernehmen erscheint uns heute ein so selbstverständliches Verhalten zu sein, dass wir geneigt sind, die Untätigkeit der Arbeiterin als Ausdruck von Verantwortungsmangel oder Desinteresse an der eigenen Arbeit zu bewerten. Ihr Verhalten deutet auf eine "Dienst nach Vorschrift"-Mentalität, auf eine schwache Arbeitsmoral und geringer Bereitschaft "über den eigenen Tellerrand" zu schauen.
Eine solche Arbeitseinstellung erscheint uns heute wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, als Silodenken und Bummelei verbreitet waren. Und vermutlich spekulieren wir im Hinterkopf, ob die Arbeiterin für ihre demonstrative Untätigkeit wohl sanktioniert oder vor die Tür gesetzt wurde. Richtig?
Falsch! Das Management tat nichts dergleichen. Sie wurde nicht gefeuert und auch nicht in anderer Weise sanktioniert. Der Gedanke, ihre Untätigkeit als Mangel an Verantwortung zu deuten, lag zu der damaligen Zeit noch außerhalb des Denkhorizonts in den Chefetagen. Vielmehr signalisierte ihr Verhalten, dass der arbeitsteilige Produktionsfluss im Werk Endicott nicht funktionierte und dadurch Störungen und Stillstände im Arbeitsfluss entstanden.
Ihre Untätigkeit war also eine Folge mangelnder Organisation – und diese hatte nicht die Arbeiterin zu verantworten, sondern das Management der Niederlassung. Wenn also jemand zur Verantwortung zu ziehen war, dann das Management selbst. Im Falle der Arbeiterin aus Endicott handelte das IBM-Management sofort und traf eine arbeitsorganisatorische Lösung. Voneinander getrennte Teilarbeiten wie Einrichten und Kontrollieren wurden zusammengelegt und der Arbeiterin und ihren Kolleg:innen übertragen.
Das verantwortungsfreie Personal
Nicht nur in Endicott auch in vielen anderen Unternehmen wurde die Arbeit in Anlehnung an ein Managementkonzept organisiert, das auf den Ingenieur und Unternehmensberater Fr. W. Taylor verweist und in den Arbeitswissenschaften als Taylorismus bezeichnet wird. Ausübung von Kontrolle und Autorität gehören in diesem Konzept genauso zu den Aufgaben des Managements wie klare Abgrenzungen der Arbeitsplätze, detaillierte Planungen der Abläufe und ein hohes Maß an Arbeitsteilung.
Eine über den eigenen Arbeitsplatz hinausgehende Verantwortung der Beschäftigten war in diesem Konzept nicht nur nicht vorgesehen. Sie stand auch im Gegensatz zum betriebswirtschaftlichen Menschenbild des Taylorismus. Die Beschäftigten galten als Personal und Produktionsfaktoren vergleichbar mit anderen Faktoren wie den Maschinen, Fahrzeugen oder Gebäuden eines Unternehmens.
Das Management in den Unternehmen betrachtete Beschäftigte als ein Betriebsmittel, das beschafft, eingesetzt und geführt wird, das Kosten verursacht und deshalb auch rationalisiert und entlassen wird. Daher machte es auch keinen Sinn an eine Verantwortung zu appellieren oder ein vorhandenes Verantwortungsgefühl bei den Beschäftigten zu wecken, das über den unmittelbaren Arbeitsplatz hinausging.
Im Grunde hatte sich die Arbeiterin also genauso verhalten wie es das tayloristische Konzept von ihr erwartete. Sie war frei von Verantwortung, sie war eines von vielen Gliedern in einer Kette der arbeitsteiligen Produktion.
"Du bist verantwortlich für den Erfolg des Unternehmens!"
Die heutigen Beschäftigten sehen sich mit einem Verantwortungsbegriff konfrontiert, der über den eigenen Arbeitsplatz weit hinausgeht. Sie sollen Verantwortung für die Zusammenarbeit im Team, für die mit dem Kunden vereinbarte fristgerechte Fertigstellung des Projekts und für die Erfüllung der Ziele des Unternehmens übernehmen. "Du bist verantwortlich für den Erfolg des Unternehmens!", lautet die Ansage an die Beschäftigte.
Solche Appelle finden durchaus Resonanz. Viele Beschäftigte fühlen und verspüren ein starkes Verantwortungsgefühl, wenn es um die eigene Arbeit geht. Das äußert sich in Phänomenen wie bspw. der eigenen Erreichbarkeit in der Freizeit, wenn Kunden oder die Kolleg:innen einen Rat brauchen; der Arbeit am Wochenende, weil nur so die Aufgaben erfüllt werden können, für die das Team Verantwortung übernimmt; oder dem Einspringen aus dem Frei, damit die Station oder Abteilung nicht unterbesetzt arbeitet.
Für viele Beschäftigte sind Ereignisse dieser Art inzwischen der Normalfall täglicher Arbeit. Dazu gehört auch der Entschluss trotz eigener Erkrankung zu arbeiten. Laut einer Umfrage der Techniker Krankasse (TK) vom Mai 2022 geht jeder vierte Beschäftigte häufig krank zur Arbeit. Als Gründe werden dafür "fehlende Vertretung", "dringende Termine" oder "Führungsverantwortung" genannt.
Diese alltäglichen Begebenheiten verdeutlichen wie sehr individuelle Verantwortung gewachsen und zu einem charakteristischen Merkmal unserer Arbeit geworden ist. Auch sind die Zeiten, in denen Arbeitgeber an das Verantwortungsgefühl ihrer Beschäftigten lediglich Appelle gerichtet haben, längst vorbei. Sie nehmen die Beschäftigten ganz selbstverständlich in die Verantwortung und betrachten Verantwortungsübernahme inzwischen als eine Art Verpflichtung, die die Beschäftigten zu erfüllen haben.
Das in diesem Zusammenhang verwendete Schlüsselwort lautet "Eigenverantwortung", ein Begriff, der ursprünglich im Kontext der neoliberalen Hartz-IV-Reformen Anfang der 2000er-Jahre vermehrt auftauchte. Beschäftigte werden aufgefordert, "Leistungen zu erbringen und Verpflichtungen zu übernehmen, die zum Erreichen übergeordneter Ziele und zum Gesamterfolg des Unternehmens beitragen", wie die Gewerkschaft ver.di feststellt.
Die Verteilung der Rollen ist dabei klar: Das Unternehmen definiert Kontext und Rahmenbedingungen, unter denen die Beschäftigten dann "eigenverantwortlich" agieren und vereinbarte Ziele erfüllen sollen.
Was hat sich wie geändert?
Von solchen Forderungen nach Eigenverantwortung blieb die Arbeiterin in Endicott verschont. Niemand erwartete von ihr eine Übernahme von Verantwortung für das Unternehmen und dessen Ziele, und der Begriff Eigenverantwortung existierte noch nicht im Sprachschatz des Managements. Die Fragen stellen sich von selbst: Warum ist es heute anders? Was hat sich wie geändert? Wodurch werden Beschäftigte dazu gebracht, sich für den Arbeitsfluss im kapitalistischen Unternehmen verantwortlich zu fühlen?
In arbeitssoziologischen Analysen wird die Zunahmen von Verantwortung als Zeichen einer "Subjektivierung" des Arbeitshandelns gedeutet. Verstanden wird darunter ein ambivalenter Prozess. Einerseits sei eine höhere Verantwortung Ausdruck gestiegener Ansprüche der Beschäftigten an ihre Arbeit, andererseits stehe der Begriff für das gesteigerte Interesse der Unternehmen am profitablen Einsatz ihrer Arbeitskräfte.
Verantwortung erscheint in diesem Zusammenhang als subjektive Eigenschaft, die von den Beschäftigten nicht nur eingefordert, sondern als Fähigkeit beziehungsweise Arbeitsvermögen von Management und Unternehmensleitungen auch systematisch genutzt wird.
In diesem Essay wird ein anderer Blick auf das verantwortliche Handeln der Beschäftigten geworfen. Die These, die hier erläutert wird, lautet, dass – lange bevor der Begriff der Subjektivierung aufkam – bereits Firmenvorstände und ihnen nahestehende Berater Überlegungen anstellten, wie eine Verantwortungsbereitschaft bei den Lohnabhängigen zu wecken sei und wie diese Bereitschaft zur Steigerung des Mehrwerts nutzbar gemacht werden könnte.
Folge konkreter Maßnahmen zur Leistungssteigerung
In engem Bezug dazu entstanden zur gleichen Zeit einige Machttechniken, die heute als Dezentralisierung und Responsibilisierung bezeichnet werden und auf eine Lösung des Verantwortungsproblems im Sinne von Management und Unternehmensleitungen hinarbeiteten. Sich für das eigene Team oder für den reibungslosen Ablauf des Arbeitsprozesses verantwortlich zu fühlen und zu zeigen, ist demnach nicht einfach so entstanden oder etwas, was sich Beschäftigte im Laufe der Zeit angeeignet haben.
Es ist vielmehr eine Folge konkreter Maßnahmen, die zum Ziel haben, Leistung und Motivation der Beschäftigten zu steigern. Die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown versteht die genannten Techniken in diesem Sinne als "eine Herrschaftsform, in der die singuläre menschliche Fähigkeit zur Verantwortung entfaltet wird, um Subjekte zu konstituieren und zu regieren und durch die ihr Verhalten organisiert und gemessen wird, wodurch sie für eine neoliberale Ordnung umgestaltet und neu ausgerichtet werden." (Wendy Brown : "Die schleichende Revolution – Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört", Suhrkamp-Verlag, 2018)
Im folgenden Teil 2 werden die in den Unternehmen geführte Diskussion um den Verantwortungsbegriff und die angesprochenen Techniken in ihrer Bedeutung für die Übertragung von Verantwortung auf die Beschäftigte skizziert. Dieser Diskurs und die Anfänge dieser Techniken lassen sich bis in 1950er-Jahre zurückverfolgen. Gegenwärtig findet Verantwortungsübertragung in Form von Vereinbarungen statt, die das Management mit einzelnen Beschäftigten oder Teams schließt.
Diese Zielvereinbarungen sind eine weit verbreitete Methode zur Erhöhung von Leistung und Arbeitsintensität in den Unternehmen. Übertragen wird dabei eine Verantwortung, ohne dass Beschäftigte über eine wirkliche Handlungsmacht verfügen (Teil 3). Dies steigert den äußeren und inneren Druck, auf die Beschäftigte, die darauf mit Gegenwehr und Formen von Widerständigkeit reagieren.
Hermann Bueren ist Autor des Buchs "Bewegt Euch Schneller! Zur Kritik moderner Managementmethoden. Ein Handbuch" 300 Seiten, Kellner Verlag Bremen