Schule der Nation: Was Hänschen lernt

Seite 2: Eingeübte Loyalität hat Laufbahnrelevanz

Gesellschaftliche Gegensätze werden also aus der menschlichen Natur abgeleitet, ohne zu bemerken, dass die gleichzeitig deduzierte Überwindung dieser Wolfsnatur ein Widerspruch in sich ist.

Nach dieser Seite hin werden die bürgerlichen Ideologien tatsächlich zu einem Schulstoff, den der induzierte Opportunismus der Schüler aufnimmt, als wären es die Sätze des Pythagoras oder die Regeln der If-Clauses. Plausibilität beziehen die unterrichteten „Weltsichten“ nicht aus ihrer Wahrheit, sondern als gute Gründe der Anpassung, zu der die Konkurrenzgesellschaft ohnehin nötigt. Wenn daneben Haltung und Willigkeit z.B. über mündliche oder Kopfnoten in die Bewertung eingehen, erlangt auch diese Einübung von "Loyalität" ein wenig Laufbahnrelevanz.

Zweitens leistet die Schule zum „Akzeptieren sozialer Ungleichheit“ auch darüber ihren Beitrag, dass sie der Jugend zur falschen Verarbeitung von Lernerfahrungen verhilft. Die Selektion anhand des zu erwerbenden Wissens, also die Herstellung entsprechender Schülertypen und Schülerzahlen, ist zwar das praktische Werk des Bildungswesens selbst.

Es stellt sich den Lehrenden und Lernenden ideologisch aber so dar, als sei dies nur die Antwort der Schule auf von ihr ziemlich unabhängige Voraussetzungen, die gemeinhin auf den Namen „Begabung“ hören. Wenn jeder Schüler, ob reich oder arm, seine Talente frei und gleich entfalten kann – so versteht sich und das fordert das demokratische Schulwesen –, dann sind die unterschiedlichen Ergebnisse dieser Begabungsentfaltung auch legitimiert.

Von der Schulzensur zum Selbsturteil

Wem die Wege grundsätzlich offenstanden, wem sich alle Schulformen nach rechtlichen Regeln zugänglich und durchlässig zeigten, wer sogar einen begrenzten Anspruch auf Förderung oder Bafög hatte, der ist auch zu Recht auf dem gesellschaftlichen Platz gelandet, der ihm gebührt. Das bestärkt die einen darin, dass sie in ihrer erfolgreichen Punktlandung die Früchte von Charakter und Begabung ernten.

Aber auch die vielen anderen, deren Unzufriedenheit mit ihrer Platzierung die Regel ist, sollen sich die Verantwortung dafür zähneknirschend selbst zuschreiben. Mehr als Hauptschulniveau war bei ihnen offensichtlich nicht drin. Für die heranwachsenden Verlierer der Veranstaltung ist das natürlich ein harter Brocken, auf den etliche mit einer Devianz antworten, die "Restschul"-Lehrern das Leben schwer und Jugendrichtern Arbeit macht.

Die Schule der Nation hinterlässt also etwas, das den sachlichen Lehrstoff und auch die Details der ideologischen Inhalte überdauert. Nämlich die große Lehre aus ihrem Verfahren, mit dem sie ihre Absolventen veranlasst, das in den Zeugnissen und deren Rechtsfolgen ausgesprochene Urteil als Selbsturteil zu übernehmen.

Ganz im Sinne eines schulpolitischen Satzes aus Willy Brandts zitierter Regierungserklärung (siehe Teil 1), in dem er die Erziehung eines Bürgers fordert, "der imstande ist, die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten". Derart erzogen stehen die künftigen Erwachsenen dann als hinreichend qualifizierte, berufsperspektivisch vorsortierte und staatsbürgerlich justierte Konkurrenten um Beschäftigung und Einkommen einem Arbeitsmarkt zur Verfügung, der davon freien Gebrauch machen kann.

Nebenbei: Den verbreiteten Fehler, das Verdikt der Schule mit der Offenlegung einer höchstpersönlichen Eigenschaft zu verwechseln, teilt die Lehrerschaft, die erfahrene zumal, in einer Weise, die partiell zum Lachen ist. Weil sie ihr Schulsystem zwar nicht durchschauen, aber gut kennen, sind deutsche Pädagogen schnell dabei, einen Schüler selbstsicher danach zu taxieren, ob er "Gymnasiast", "Real"- oder "Hauptschüler" ist, und ihm je nach Spezies eigene "Lernkanäle", Grenzen des Verstandes oder eine falsche Schulwahl zuzuschreiben.

Ein Lehrerzimmer-Spruch dazu besagt, dass man aus einem Ackergaul kein Rennpferd machen kann. Das Lächerliche daran ist in dem seltenen Fall zu erleben, wo solche Lehrkräfte ihr waldursprüngliches System ausländischen, z.B. englischsprachigen Kollegen zu erklären versuchen, die beruflich anders, z.B. einheitsschulisch sozialisiert und ausgebildet wurden. Die wundern sich dann, warum die deutsche "main school" ausgerechnet die ist, wo keiner hinwill, weil die meisten lieber auf eine Schule wollen, die "Turnhalle" heißt. Und die Separierung angeblicher Schülernaturen halten sie glatt für eine "Diskriminierung".

Baustelle Chancengleichheit

Unter Kritik steht dieses Bildungswesen natürlich auch in Deutschland – wobei kaum jemand kritisieren will, was die Schule realiter leistet, sondern bemängelt, was sie an ideellen Erwartungen nicht bedient. Den Satz aus Brandts Programm von 1969 bekommt die Bildungspolitik daher seit 50 Jahren regelmäßig zu hören, dass nämlich „der zentrale Auftrag des Grundgesetzes, allen Bürgern gleiche Chancen zu geben, noch nicht annähernd erfüllt wurde.“

Das föderale deutsche Schulwesen existiert nach dieser Seite hin als Dauerbaustelle der Chancengleichheit, also dem Bemühen, die Karrieren der Klassengesellschaft nach oben und unten Jahr um Jahr „gerechter“ zu machen. Mit der Besonderheit, dass die schulische Konkurrenz der gesellschaftlichen zwar nachgebildet ist, aber nicht die Sachzwänge teilt, die in der kapitalistischen Wirtschaftsweise herrschen.

Der inszenierte innerschulische Leistungswettbewerb gibt daher ein paar Freiheitsgrade her, von denen die den Bundesländern konzedierte Bildungshoheit – unterschieden von Währung oder Militär – ein Fall ist. Wahlkampf und Parteienstreit finden hier ein Feld vor, auf dem auch der Elternwunsch nach besseren Chancen für die Kinder berechnende Rücksicht finden kann.

Zumal das deutsche Festhalten an der Dreigliedrigkeit sich immer ein wenig am demokratischen Prinzip der Gleichheit reibt, woraus Öffnungen oder Gesamtschul-Angebote hervorgehen, ohne dass sich die geschmähte "Einheitsschule" abzeichnen würde.

In angelsächsischen oder skandinavischen Ländern ist die demokratische Ausrichtung des Bildungswesens dahin gediehen, dass die historischen Separierungen in integrierte Sekundarschulen überführt wurden. Ihrem staatlichen Auftrag, der Gesellschaft und den Arbeitgebern eine vorbereitete, nach Leistungsunterschieden zertifizierte Schar von Schulabsolventen zu liefern, kommen auch sie nach. Sie sind aber nicht angehalten, schon im Kindesalter mit einer Vorsortierung zu beginnen. Das mag für das Schülerleben einen Unterschied machen.

Aber auch in Australien, wo Marktwirtschaft herrscht, verteilt sich das Volk auf die Hierarchie der Einkommensquellen; auch in Finnland kann nicht jeder Professor werden. Und auch dort verlaufen wie in Deutschland die Berufswege und Sozialkarrieren der Jugendlichen mehr oder weniger analog zu den Vermögensverhältnissen ihrer Elternhäuser.

Der Bildungsforscher Helmut Fend zeigt sich enttäuscht darüber, dass Arbeiterkinder, die eine Gesamtschule besucht haben, im Beruf nicht besser fahren als solche von Hauptschulen: „Solange die Schule intern agieren kann …, kann sie die soziale Selektivität durchaus reduzieren. Wenn es um die Berufslaufbahnen (geht), dann verliert sich dieser schulische Einfluss, und die familiären Ressourcen (…) treten in den Vordergrund.“

Diese Beobachtung nimmt kein Wunder, sie verdankt sich aber, um das abschließend zu wiederholen, nicht dem „ungerechten“ Zweck des Ausbildungswesens, sondern dem kapitalistischen Laden, der ihm vorausgesetzt ist. Die Klassengesellschaft ist über ihre Schule nicht auszuhebeln.