Schulen ans Netz: Top oder Flop?

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"Die Initiative ist schon jetzt eine Erfolgsstory. Der Run aufs Netz zeigt, dass Schüler und Lehrer wissen, wie wichtig es ist, sich fit zu machen für die Informationsgesellschaft." So tönten Bundesbildungsminister Rüttgers und Telekom-Chef Sommer in einer Verlautbarung der Initiative Schulen ans Netz im August 1996. Die Wirklichkeit war prosaischer. Aufgrund einer ersten Ausschreibung des Projektes konnten rund 3000 Schulen gefördert werden - anstatt der ursprünglich angepeilten 10 000. Und die Dinge wiederholen sich. In einer Mitteilung vom 18. März 1997 heisst es mit ähnlicher Euphorie: Mitte Februar 1997 ist die zweite Ausschreibungsrunde von "Schulen ans Netz" gestartet. Das Echo ist überwältigend: schon 7000 Antragsunterlagen sind inzwischen versandt worden".

Doch wie "überwältigend" ist "Schulen ans Netz" wirklich? Vor jeder Kritik ist eines festzuhalten: Solche Initiativen der Kooperation von wirtschaftlichen uns staatlichen Trägern sind notwendig, wenn die Schulen den Anschluss ans Informationszeitalter gewinnen wollen. Das zeigt etwa der Vergleich mit der Schweiz, wo es keine solche Initiativen gibt. In Sachen Internet herrscht hier buchstäblich eine ausgedörrte Wüste - wo die wenigen Lehrer und Lehrerinnen, die sich auf eigenen Antrieb in individuellen Projekten versuchen, nichts weniger als den sprichwörtlichen Tropfen auf den heissen Stein darstellen.

Doch auch für die deutsche Situation gilt: Solche medienwirksamen Aktionen wie Schulen ans Netz können eine systematisch geplante Breitenarbeit in den Schulen nicht ersetzen. So heisst es im Editorial der Zeitschrift "Pädagogik", die das Märzheft dieser Problematik widmet, bezeichnenderweise: "Da den Anschlüssen weder Kompetenz noch begründete Konzepte beigegeben sind, gibt es auf diesem Feld allem eines: Anfänge und Anfänger (innen): in der Fortbildung, in der Erprobung mit Schülerinnen und Schülern, in der Diskussion über Probleme und deren Bewältigung."

Probleme der Vernetzung

Hinter diesen Anfangsschwierigkeiten sind erst einmal zwei Problemfelder zu sehen.

1. Einmal sind die meisten Lehrer technisch kaum auf den Computereinsatz vorbereitet. Auch wenn die Programme im Zeitalter grafikorientierter Benutzeroberflächen einfacher zu bedienen sind, so stehen viele Lehrer und Lehrerinnen buchstäblich wie der Esel am Berg, wenn ihre Maschinen einmal haken. Die berüchtigten "allgemeinen Schutzverletzungen", ein unerwarteter Absturz durch Viren oder ein Programm, das sich nicht richtig auf der Festplatte installiert, kann die schönsten Träume über Computer in der Schule zum Platzen bringen. Was all dies für die Lehrerinnen und Lehrer bedeutet, beschreibt Anette Bruhns in einem Spiegel-Artikel zum Berliner Comenius-Projekt: "Allein die ewigen Pannen erfordern eine ungemein hohe Motivation. Das Comenius-Netz beispielsweise war nicht, wie geplant, im August 1995, sondern erst im Januar 1996 einigermassen stabil." Empfehlenswert wäre hier sicher das, was Renate Schulte-Zander vorschlägt, nämlich dass "die Schulleitung diese Projekte unterstützt, indem z.B. eine Person für die technische Betreuung des Netzes freigestellt wird, die bei Problemen berät und hilft."

Nicht zuletzt stellt sich die Frage , was geschieht, wenn dann die Förderung ausläuft und die Schulen Internet-Zugang und Gebühreneinheiten selbst zutragen haben. Peter Diebolds Hinweis darauf, "dass die Preise in den nächsten zwei Jahren noch kräftig fallen werden", scheint da eher dem Prinzip Hoffnung verpflichtet. Denkbar wäre ja auch, dass man sich nach ersten Ernüchterungen über die Widrigkeiten des Surf-Alltags weitere Kosten für solche Projekte lieber erspart.

2. Wenn aber die technischen Hürden überwunden sind, stellt sich erst die eigentliche Frage des "Wie" eines Computereinsatzes. Sieht man sich auf den Schulseiten des Internet genauer um, so fällt auf, dass dort vor allem Links zu Hard- und Software-Ressourcen angegeben sind. Fachunterrichtliche Themen sind breit vertreten, darunter auch manches Handgestrickte - meist ungeordnet und ziemlich beliebig. So beginnen die 207 Einträge zum Deutschunterricht auf dem Deutschen Bildungs-Server - säuberlich und wie es sich gehört, nach dem Alphabet geordnet - wie folgt:

365 Tage: Nachrichten für Deutschlerner
A Day in My Life PROJEKT/ ein Tag in meinem Leben
A Recipe of Tradition/ Wie verbringen Schüler ihre Ferien
Academy One
Aesop, Der Fuchs und die Weintrauben
Aesop, Der Löwe und die Maus
Aesop, Fabeln
Aesop, Wolf und Lamm
Andersen, Hans-Christian, Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern
Andersen, Hans-Christian, Des Kaisers neue Kleider
Andersen, Hans-Christian, Die Prinzessin auf der Erbse
Anthology of European Literature in English/ Gedichtsammlung europäischer Literatur
Austen Jean, Stolz und Vorurteil (Pride and Prejudice)
...

Alter Wein in neuen Schläuchen

Wenig Hilfe findet man dagegen auf die Frage, wie man die durchs Internet möglichen neuen Inhalte auf pfiffige Weise in den Unterricht integrieren kann. Da besteht der begründete Verdacht, dass die Computer häufig dazu verwendet werden, um die alten Inhalte in neuer Verpackung an die Schüler und Schülerinnen zu bringen. Doch diese tarnt nur, dass Schule bleibt, was sie immer war. Kaum weiterführend sind in dieser Richtung auch die Ziele der Initiative "Schulen ans Netz", wie sie im Konzeptpapier "Konzeption der BMBF/Deutsche Telekom AG-Initiative Schulen ans Netz dargestellt werden. Danach stehen folgende Teilziele im Vordergrund:

  1. "Nutzung einer interaktiven Technik, die zuhause und in der Freizeit bereits genutzt wird und im Beruf zum notwendigen Handwerkszeug gehören wird;
  2. Entwicklung von Fähigkeiten, mit Medien und Computern umzugehen (Medienkompetenz);
  3. Kommunikation und Kooperation mit anderen Schülern und Schulen weltweit;
  4. kreative Aufbereitung neuer, mediengerechter Lehr- und Lernangebote;
  5. Nutzung von Datenbanken und Bibliotheken;
  6. Austausch von Unterrichtskonzepten und -materialien besonders zu Entlastung der Lehrpersonals;
  7. Veränderung der Rolle des Lehrpersonals."

Das hört sich sehr pragmatisch an und lässt wenig von einer Vision der Schule für das 21. Jahrhundert spüren. Auch wenn es ein Vorteil sein kann, Technologie aud diese Weise schnell und ohne ideologischen Hickhack in die Klassenzimmer zu bringen, wäre immerhin einzuwenden: In diesen Zielen wird der blosse Anwendungsaspekt der Technologie zu stark betont. Medienkompetenz wird mit der Fähigkeit gleichgesetzt, mit Computern umzugehen und nicht, die Arbeit mit neuen Medien sinnvoll in den Alltag und den Unterricht zu integrieren (vgl. dazu meine Überlegungen zur Medienkompetenz). Wozu all diese "Nutzung" der Technik und das vermittelte Handwerkszeug förderlich sein soll, wird nicht erwähnt - oder scheint selbstverständlich.

Was ich insbesonders in den Diskussionen um "Schulen ans Netz" vermisse, sind wegweisende didaktische und pädagogische Überlegungen. Hier rächt es sich, dass die Medienpädagogik an den deutschen Universitäten ein Mauerblümchendasein fristet. Letztlich geht es nämlich bei der Frage nach dem Einsatz des Computers in den Schulen nicht einfach um ein weiteres technisches Mittel. Vielmehr wird die Schule den Anschluss ans Informationszeitalter nur dann finden können, wenn sie sich selbst verändert.

Es fehlen die Visionen für eine andere Schule

"Internet" und CD-Rom stellen Mittel dar, die es jedermann erlauben, die Wissensspeicher der Gesellschaft anzuzapfen - ohne Vermittlung und Zensur des Wissens durch zwischengeschaltete Instanzen. Neil Postmans Thesen, wonach mit den Medien die Geheimnisse der Erwachsenen fallen, ist demnach nicht allein darauf zu beziehen, dass Kinder und Jugendliche im Internet auch ungeschützten Zugriff auf Pornographie oder krude Ideologien des Rechtsradikalismus erhalten. Viel radikaler: Institutionen wie die Schule verlieren in der Informationsgesellschaft immer stärker ihr Informationsmonopol. Oft scheint es so, dass das faszinierende und bedeutsame Wissen auf raffiniert gemachten CD's oder auf Homepages abzuholen ist. Der Schule dagegen verbleibt die Aufgabe, jenen ungeliebten Rest abzudecken, der seit eh und je ihre Curricula prägt. Ihr Wissen erscheint so immer mehr als Resultat eines nur noch auf sich selbst bezogenen, von der Umwelt abgeschotteten und zum Aussterben verdammten Dinosauriers.

Die wesentlichste Frage ist deshalb, wie die Schule auf diese Entwicklungen reagiert, und ob es ihr gelingt, eigene Visionen über das Potential der Technologie und die Möglichkeiten ihrer Anwendung zu entwickeln. Allein mit dem Bereitstellen von Internet-Anschlüssen ist es nicht getan. "Schulen ans Netz" steht deshalb vor einem Scheideweg: Das Projekt kann sich auf die Integration des Computers in die gegenwärtige Aufgabenstruktur der Schule beschränken oder einen Schritt in Richtung ihrer Öffnung auf die Aussenwelt machen. Gerade dort, wo es nur darum geht, traditionellen Stoff durch neue Lernspiele und computergestützte Methoden zu vermitteln, ist wenig Innovatives in Sicht. Und es reicht auch nicht aus, raffiniertere Lernprogramme und computerbasierte Übungsmöglichkeiten für Fächer wie Mathematik, Deutsch und den Fremdsprachen zu entwickeln. Im Gegenteil eignen sich m.E. didaktische Arrangements am besten zur qualitativen Veränderung des schulischen Lernens, welche an die Unterrichtsformen der Reformpädagogik anknüpfen.

Ein Beispiel

Nehmen wird das Beispiel der Volksschullehrerin H.: Sie strukturiert ihren Unterricht nach dem Konzept des Wochenplans. D.h. ihre Schüler und Schülerinnen bekommen zu Beginn der Woche eine Reihe von Aufgaben, die sie in eigens dafür bestimmten Stunden nach individuellem Rhythmus bearbeiten. Gleichzeitig arbeitet die Lehrerin nach dem Konzept des Werkstattunterrichts an einzelnen fachübergreifenden Themen - im Moment geht es gerade um Dinosaurier. Kleine Schülergruppen und einzelne Kinder bearbeiten hier Teilaspekte der gemeinsamen Thematik selbständig und tragen sie am Schluss zusammen. Daneben ist der eigentliche Fachunterricht auf einige wenige Stunden beschränkt. In einem solchen Arrangement des Unterrichts kommt der Computer als Arbeitsmittel fast überall zum Einsatz. So könnte zum Beispiel im Werkstattunterricht die Gestaltung einer Schülerzeitung zum Thema Dinosaurier vorgenommen werden, welche dann später auf dem Internet publiziert wird. Und im Rahmen der Wochenplanaufgaben dient z.B. ein Mathematik- oder Deutschprogramm immer wieder für einzelne Schüler als willkommener Lernhelfer. Übrigens wird nächstens eine Schülerin aus der Klasse für zwei Jahre in die USA übersiedeln; das ist ein guter Anlass für ein E-Mail-Projekt.

Rahmenbedingungen für den Einsatz vernetzter Computer

Das Beispiel stammt nicht aus Deutschland, sondern aus der Schweiz. Es ist im übrigen real, aber auch dort eine einzigartige Ausnahme. Immerhin wird dadurch der Blick auf einige wesentlichen Rahmenbedingungen für einen Unterrichts gelenkt, der auf das Leben in der Informationsgesellschaft vorbereiten soll:

  1. 1. Der Computer ist ein Arbeitsmittel unter anderen, das im Klassenunterricht über all dort eingesetzt wird, wo es sinnvoll ist. Weil der Computer nicht selbst das zentrale Unterrichtsmittel ist, braucht es auch nicht für jeden Schüler ein eigenes Gerät. Vielmehr reichen drei bis vier Geräte für die ganze Klasse aus.
  2. 2. Elemente wie Wochenplanunterricht, Projektarbeit oder Werkstattunterricht etc. erscheinen als Rahmenbedingungen für einen solchen Unterricht unverzichtbar, da sie einen flexiblen Einsatz der Geräte erlauben. Sie unterstreichen das Prinzip, dass Lehrer mehr Lernbegleiter sind wie Pauker des alten Typs. Die Schüler eignen sich ihre Umwelt selbständig an, wobei ihnen jene Mittel - darunter auch der Computer - zur Verfügung gestellt werden, die sie zu diesem Zweck benötigen.
  3. 3. Die Verfächerung und der Stundentakt der Schulen sind solchen neuen Formen der Informationsvermittlung gegenüber hinderlich. Wenn nicht grössere Zeiteinheiten (die Reformpädagogik sprach von "Epochen") geschaffen werden, dürften alle jene Lernprojekte ausfallen, die zeitintensiv sind. Die Gefahr besteht dann, dass Computerlernen auf Übungsprogramme beschränkt wird, die häppchenweise dosiert konsumiert werden. Sollen indessen der Computer "fächerübergreifende Sichtweisen" fördern, wie es Renate Schulz-Zander fordert, so passt dies nur schlecht in die heute vorherrschenden Schulstrukturen.

Bedeutet dies, dass sich für solche Bemühungen wie "Schulen ans Netz" ein Flop abzeichnet? Im Moment erscheint mir dies nur schwer abzuschätzen. Denn neben manchem Unausgegorenem geht auch vieles in die richtige Richtung. Schwierig scheint mir vor allem, dass die Euphorie fürs Technische - und manchmal auch ihr Gegenteil: das angstbehaftete Vorurteil - sehr oft noch überwiegen. Doch mit technologischen Offensiven konnte die Qualität von Lernen und Schule noch nie entscheidend verbessert werden. Viel wichtiger wäre es, jene Visionen und Profile zu entwickeln, welche den Schulen einen unverwechselbaren Platz für das Lernen in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhundert zuweisen.