Schutzhaft in Pflegeheimen
Seite 2: Die Institutionen schweigen — Berichte von Whistleblowern machen Angst
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Ich habe für die Erstellung dieses Textes viele Anfragen an Pflege- und Behindertenwohnheime mit der Bitte gestellt, mir mitzuteilen, wie dort die entsprechenden Verordnungen umgesetzt werden. Doch die Verantwortlichen hüllen sich in Schweigen. Selbst meine Ex-Frau, die in Inden, bei Düren, in NRW ein kleines Pflegeheim betreibt, hat alle meine Anfragen um Information einfach unbeantwortet gelassen. Ein solches Verhalten habe ich von ihr in den vielen Jahren, die ich sie kenne, noch nie erlebt.
Alle meine ehemaligen Kollegen hüllen sich in Schweigen, sobald ich erwähne, dass ich einen Artikel zu dem Thema schreibe. Ich verurteile das nicht, ich kann es verstehen: Sie sind verzweifelt. Sie sollen Unmögliches zustande bringen und müssen nicht nur befürchten, mal wieder an den Pranger gestellt zu werden, sondern stehen auch mit einem Bein im Knast, egal was sie tun.
Wenigstens erhalte ich einige Informationen von Whistleblowern:
So wird mir ein Mailverkehr zugespielt, wonach ein "Wohnheim-Team" es für sinnvoll hält
... die Bewohner ab nächster Woche im Wohnheim zu behalten. Eine Ansteckung wäre für unser Wohnheim ein Drama. Ebenso ist es für uns wichtig, zu wissen wie wir uns in einem Notfall verhalten sollen? Wir haben keinerlei Informationen. Im Wohnheim gibt es kein Desinfektionsmittel mehr, wir können keine hygienische Pflege mehr durchführen. Handschuhe sind ebenfalls Mangelware.
Hier plant die Leitung eines Wohnheimes aus NRW, einfach alle mündigen erwachsenen Bewohner einer Behinderteneinrichtung einzusperren.
Diese Absicht entspricht dem Straftatbestand der Freiheitsberaubung und wird nach StGB §239 mit Freiheitsstrafe, schon für den bloßen Versuch, von einem Jahr bis zu 5 Jahren Gefängnis geahndet. Sollte die Freiheitsberaubung länger als eine Woche andauern, beträgt die Strafe sogar mindestens ein Jahr bis zu 10 Jahren Haft. Im Verteiler dieser Mail sind zig weitere Einrichtungen, die Ähnliches planen. Diese Information ist so brisant, dass ich die ganze damit zusammenhängende Korrespondenz vernichtet habe, damit ich auch im Fall einer Hausdurchsuchung den Quellenschutz garantieren kann.
Hat der Leiter das "Kleingedruckte" in den Ausführungsbestimmungen überlesen? Zwar soll er sicherstellen, dass Bewohner, die sich in Quarantäne oder Isolation befinden, das Heim höchstens unter Begleitung von Mitarbeitern verlassen, die, es grenzt an Satire, zu diesem Zweck wiederum zusätzlich bereitgestellt werden müssten, aber halten sich die Bewohner, auch und gerade auch die dementiell veränderten Bewohner, nicht an diese Vorgaben, so dürfen die Mitarbeiter eben nicht einfach freiheitseinschränkende Maßnahmen durchführen. Es heißt in den Bestimmungen nämlich klar:
Soweit zum Schutz der Bewohnerinnen und Bewohner sowie des Personals freiheitsbeschränkende Maßnahmen für erforderlich erachtet werden, können diese nur im Rahmen des geltenden Rechts in Abstimmung mit dem [...] Betreuungsgericht umgesetzt werden.
Tatsächlich sind aber für die allerwenigsten Bewohner solche freiheitseinschränkenden Maßnahmen richterlich angeordnet und beziehen sich regelmäßig auf zeitlich und sachlich sehr beschränkte Anordnungen, z.B. das Anbringen eines Bettgitters während der Nachtstunden.
Weiter wurde mir von einem anderen Heim z.B. berichtet, dass Praktikanten dort mit der regelrechten Jagd auf heimliche Treffen zwischen Heimbewohnern und Angehörigen beauftragt wurden. In diesem größeren Heim ist es den alten Menschen immer wieder gelungen, durch Nebeneingänge dem Ausgangsverbot zu entrinnen und sich in einer nahegelegenen Tiefgarage heimlich mit ihren Liebsten zu treffen. In anderen Häusern werden einfach alle dementen Bewohner in ihrem Zimmer eingesperrt, damit sie nicht unkontrolliert durch die verschiedenen Abschnitte laufen können. Ärzte werden bedrängt, höhere Dosen sedierender Medikamente zu verabreichen. Und vieles mehr. Es ist der reinste Horror!
Alles zum Schutz der alten Menschen und alles, ohne sie zu fragen, welchen und wie viel Schutz sie überhaupt wollen.
Es ist doch nur eine Ausnahme? Bald ist wieder alles normal?
Wir befinden uns ja in einer Ausnahmesituation? Bald werden doch all diese Einschränkungen wieder zurückgefahren werden?
Wer dies glaubt, übersieht, dass "...der ganz normale Gang des Fürsorgestaats eine schier ungeheuerliche Verdinglichung von den Alten, Asylanten, Behinderten, hilfebedürftigen Kindern, Kranken und allen anderen Personen nach sich zieht, die das Pech haben, in sein Räderwerk zu geraten. Zu all diesen Personen zählt, nicht zuletzt, auch das Personal: Ärzte, Berater, Gutachter, Klinikleiter, Pfleger, Psychologen, Richter, Sachbearbeiter etc."
Das schreibt Stefan Blankertz in seinem bereits 2015 erschienenen Werk "Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt" (S. 139f.). In diesem Buch beschreibt Blankertz auch, wie auf angebliche "Missstände" mit immer neuen Gesetzen oder Durchführungshinweisen reagiert wird. Diese "Verdinglichung" des Menschen ist dem Staat als dem "kältesten aller kalten Ungeheuer" (Nietzsche) immanent. Und zwar gerade dem Rechts-Staat, dessen Prinzip des Zu- und Abneigungsverbotes nicht nur im kategorischen Imperativ von Kant verankert ist, sondern weit zurückreicht auf das römische Recht, bis hin zur mutterlosen "Kopfgeburt" Athene in der griechischen Mythologie.
Gegen Athene steht Antigone, die, das Gesetz missachtend, darauf beharrt und es sich auch einfach herausnimmt, ihren toten Bruder zu bestatten. Nach derzeit herrschendem Recht dürfte sie ja nicht mal den noch lebenden sterbenden Bruder besuchen. Antigone folgt ihrem Herzen, denn nicht mitzuhassen, sondern mitzulieben will sie da sein.
Mein Vater verbrachte seine letzten Stunden in meiner Wohnung. Ich hielt seine Hand, während er starb. Wäre er mit dem heute geltenden Besuchsverbot im Heim gewesen, hätte ich ihn trotzdem nicht allein sterben lassen, sondern hätte es mir einfach irgendwie herausgenommen, bei ihm zu sein. Notfalls hätte ich mir schon irgendwie Zutritt verschafft, hätte mich an sein Bett gesetzt oder, falls noch so viel Zeit geblieben wäre, ihn aus dem Heim befreit. Solches nenne ich "liebevollen Widerstand" nach eben dem Vorbild der Antigone. Ich finde nicht, dass wir zulassen dürfen, dass unsere Eltern ohne die Nähe zu ihren Liebsten sterben müssen.
Dieses entschlossene "mitlieben" steht also auch 2500 Jahre nach Antigone, im Gegensatz zum verdinglichenden kalten Staat. Und es bedroht ihn auch heute, kann ihn, wie im Theaterstück Antigone, in seinen Grundfesten erschüttern, ganz ohne einem "bewaffneten Widerstand".
Die Verdinglichung durch den Staat ist keine Ausnahme. Sie wird im aktuellen Ausnahmezustand nur sichtbarer. Sieht man sich heute Meinhofs Film "Bambule" an, der damals die große Heimkampagne ausgelöst und so zu einer Dezentralisierung von totalen Institutionen führte, wird deutlich, wie harmlos uns heute dieses Fernsehspiel im Vergleich zu unserer aktuellen tatsächlichen Situation in den Heimen erscheinen muss. Gerade daran, dass der Film "Bambule" uns heute beinahe langweilig vorkommt, können wir erkennen, wie weit die wachsende Biopolitik (Foucault, Agamben) für uns inzwischen schon normal geworden ist.
Wie nur soll man den jetzt zu Hilfspolizisten erniedrigten Pflegekräften denn nach "Lockerung der Maßnahmen" in einer "neuen Normalität" beibringen können, dass sie nun wieder die Freiheit und Würde ihrer Kunden achten und ihre "Wohnung" als unverletzlich sehen müssen?