Schwedens Sonderweg ist zu Ende
Stockholm plant strenges Pandemiegesetz zur Eindämmung des Corona-Virus. Diese Maßnahmen sollen nun durchgesetzt werden
Geht alles nach Plan, bekommt Schwedens Regierung am Freitag dieser Woche eine neue Waffe gegen die Verbreitung des neuartigen Corona-Virus Sars-CoV-2 in die Hand: Ein Pandemiegesetz, das ihr eine Reihe neuer Maßnahmen ermöglicht: Läden schließen etwa, oder den Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen beschränken. Ab dem 7. Januar gilt außerdem die Empfehlung zum Tragen einer Mund-Nasen-Maske während der Stoßzeiten im öffentlichen Nahverkehr. Damit gleichen die Anti-Corona-Maßnahmen des einstigen Sonderweg-Landes noch mehr denen anderer europäischer Staaten. Zudem erlitt die schwedische Regierung zuletzt noch einen PR-GAU.
Ministerpräsident Stefan Löfven besuchte vor Weihnachten das Stockholmer Einkaufszentrum Galleria. Justizminister Morgan Johansson kaufte ein verspätetes Geschenk während der "Mellandagsrea", den Schnäppchentagen zwischen den Jahren. Finanzministerin Magdalena Andersson fuhr Ski im Fjäll. Der Chef des Katastrophenschutzes, Dan Eliasson, flog lieber auf die Kanaren.
Das ist alles vollkommen legal in Schweden. Allerdings hatte Stefan Löfven Mitte November schon seine Gesundheitsbehörde rhetorisch überholt und von den Bürgern Verzicht auf praktisch alles gefordert - Feste, Einkaufsbummel, Besuch im Fitnessstudio und wo auch immer man sich das Virus aufschnappen kann: "Suche nicht nach Ausreden, die genau deine Aktitiväten rechtfertigen."
Kurz vor Weihnachten hatte Löfven dann noch einmal nachgelegt, in Maßnahmen wie in Ermahnungen: "Ich hoffe und ich glaube, dass alle in Schweden den Ernst der Lage verstanden haben". Und nicht nur in Schweden müssen sich Politiker daran messen lassen, ob sie sich an das halten, was sie selbst predigen, was auf Schwedisch heißt "att leva som man lär".
Die schwedische Coronastrategie baute nicht zuletzt mangels anderer rechtlicher Möglichkeiten darauf, dass Leute nicht alles taten, was juristisch erlaubt war. Zahlen des Mobilanbieters Telia zeigten, dass die Ermahnungen durchaus Wirkung hatten: Zwischen dem 21. und dem 26. Dezember, der Einzelhandel ist in Schweden auch an Feiertagen offen, gab es verglichen mit dem Vorjahr 50 Prozent weniger Betrieb rund um Hötorget in Stockholm, 64 Prozent weniger um Nordstan in Göteborg und 41 Prozent weniger um Triangeln in Malmö.
Wenn Löfven und Johansson nun in ihrer Verteidigung darauf hinweisen, dass bei ihrem Einkauf kein Gedränge geherrscht habe, lag dies nicht unbedingt an ihrer guten Planung, sondern daran, dass sich viele Mitbürger tatsächlich an die Empfehlungen gehalten hatten, die von Regierung und Gesundheitsbehörde wieder und wieder verkündet worden waren.
Krankenhäuser: Vergleich mit dem Frühjahr schwierig
Grund für die eindringlichen Ermahnungen war die Lage in den Krankenhäusern, die unverändert kritisch ist: Zuletzt waren mehr als 2.500 Personen mit Covid-19 in stationärer Behandlung, dazu kommen rund 350 auf der Intensivstation. Vergleiche mit dem Frühjahr helfen bei der Beurteilung nur begrenzt: Damals waren es zeitweise bis zu 550 Intensivpatienten.
Mit der Erfahrung, die es heute zu Covid-19 gibt, landen Patienten aber später auf der Intensivstation und bleiben auch kürzer. Und die Zahl der übrigen stationären Patienten übersteigt bereits die des Frühjahrs. Ein weiterer Gradmesser ist, dass inzwischen fünf Regionen, Stockholm, Västra Götaland (mit Göteborg), Skåne (mit Malmö), Gävleborg und Uppsala das "Krisenabkommen" aktiviert haben. Dabei handelt es sich um ein Sonderabkommen für Personal im Gesundheitswesen, das damit länger arbeiten muss, aber auch deutlich besser bezahlt wird.
Im Frühjahr hatte nur die Region Stockholm das Krisenabkommen aktiviert. Umfragen des Fernsehsenders SVT zeugen außerdem von erschöpftem Personal nach einem anstrengenden Jahr, gestrichenem Urlaub und vielen Krankschreibungen.
Pandemiegesetz – besser spät als nie?
Das neue Pandemiegesetz soll der schwedischen Regierung ermöglichen, was andere schon lange tun - zum Beispiel Fitnessstudios oder Einkaufszentren schließen. Um Gedränge in Shopping-Malls zu verhindern, konnte die Regierung bisher nur auf Appelle setzen. Die Beschränkungen durch das Pandemiegesetz sollen auch auf öffentlichen Plätzen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen oder für den ÖPNV je nach Bedarf angewendet werden können.
Erstmals könnte dann auch jemand, der sich nicht an die Regeln hält, mit Strafen belegt werden. Gleichzeitig sollen die Maßnahmen möglichst gezielt nur dort angewendet werden, wo sie nötig sind.
Für schwerwiegende Eingriffe wie die Schließung von Geschäften oder Plätzen ist eine Beteiligung des Parlamentes innerhalb von zwei Wochen vorgesehen. Allgemeine Ausgangsbeschränkungen, wie sie aktuell beispielsweise in Bayern gelten, gäbe das Gesetz nicht her.
Am 8. Januar soll das Parlament darüber abstimmen, geht es durch, würde es ab 10. Januar bis Ende September 2021 gelten. Ergänzende Änderungen in bestehenden Regelwerken, die gleichzeitig vorgeschlagen werden, sollen unter anderem die Schließung von Restaurants ermöglichen.
"Warum erst jetzt" ist die Frage, die in diesem Zusammenhang vermutlich am häufigsten gestellt wurde - von Journalisten wie Bürgern. Angekündigt wurde das Pandemiegesetz im Herbst. Anfangs dachte man im Sozialministerium sogar, sich bis zum kommenden Sommer Zeit lassen zu können. Es gehe darum, die Bewegungsfreiheit und die Berufsfreiheit zu beschränken, deshalb müsse dies sehr sorgfältig vorbereitet werden, sagte Sozialministerin Lena Hallengren damals. Stefan Löfven behauptete in einem Interview, man habe nicht wissen können, ob es eine zweite Welle gebe und dass sie so heftig werde.
Kurze Immunität – viele zum zweiten Mal erkrankt
Tatsächlich war die staatliche Behörde für Gesundheit bei ihren Prognosen für den Herbst zunächst viel zu zurückhaltend. Zu dieser Fehleinschätzung könnte beigetragen haben, dass die Immunität nach einer durchgemachten Erkrankung offenbar nicht so lange reicht wie erhofft und entsprechend weniger schützt. Im November berichtete Dagens Nyheter von 150 Personen, die bereits zum zweiten Mal erkrankt sind und nun von der Gesundheitsbehörde untersucht würden.
Staatsepidemiologe Anders Tegnell spricht zwar immer noch davon, dass diese Fälle selten seien. Doch in den seit Mitte Dezember gültigen Handlungsempfehlungen steht bereits explizit: "Wenn du im Frühjahr Covid-19 hattest, ist es nicht sicher, dass du weiterhin ein geringeres Risiko hast, dich und andere anzustecken." Es könnte weit mehr Fälle geben als bekannt, denn viele, die im Frühjahr erkrankten, wurden nie getestet. Die Kapazitäten waren damals denen vorbehalten, die ärztliche Hilfe benötigten.
Auch in den sozialen Medien wird das Thema diskutiert. Stockholm, im Frühjahr stark betroffen, ist jedenfalls in der zweiten Welle nicht besser dran als andere Regionen, sondern erneut ein "Hotspot". Eine Herdenimmunität auf natürlichem Wege, wie im Frühjahr immer wieder diskutiert, ist nicht in Sicht.
Die bisherige schwedische Strategie setzte zu einem großen Teil auf die individuelle Verantwortung der Einzelnen, die sich aus Solidarität mit Risikogruppen und Pflegepersonal beschränken sollten. Die jüngsten Ereignisse zeigen die beiden Seiten dieser Methode: Es gibt tatsächlich sehr viele, die sich einschränken und zurückhalten - ob dies reicht, um die Infektionszahlen zu senken, ist noch nicht klar. Die Grauzone zwischen dem, was gesetzlich und dem, was moralisch erlaubt ist, wird dann von sozialer Ächtung kontrolliert.
Dass sich Stefan Löfven nun für ein Weihnachtsgeschenk für seine Frau verantworten muss, ist streng genommen lächerlich gegen Fälle wie den britischen Regierungsberater Dominic Cummings oder den Fidesz-Politiker József Szájer in Brüssel (Der Gangbang von Brüssel), die es ebenfalls nicht so genau damit nahmen, das einzuhalten, was sie selbst anderen predigten.
Man kann sich aber fragen, ob Ladenschließungen möglicherweise nicht nur die effektivere, sondern auch die sauberere Lösung sind. Nicht zuletzt gegenüber den Ladeninhabern selbst: Diese wollen wohl kaum dazu beitragen, dass Menschen sich infizieren und möglicherweise erkranken. Sie sind aber für ihr wirtschaftliches Überleben darauf angewiesen, dass Leute gegen die Empfehlungen verstoßen.
Staatliche Ersatzleistungen könnten ihnen helfen. Genau hier schwächelt das Pandemiegesetz, denn die Kompensation ist bisher nur vage in Aussicht gestellt. "Wir haben uns klare Regeln gewünscht. Aber dass man eine Kompensation erwägt, wie Hallengren sagt, ist zu schwach. Das reicht nicht, finde ich", so Mats Hedenström vom Verband Svensk Handel.
Maske und Grenzschließungen
Das Gesetz kommt spät, aber nicht zu spät, denn trotz Impfbeginn ist die Pandemie bekanntlich noch nicht vorbei. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar, wie sich Weihnachts- und Silvesterfeiern auf das Infektionsgeschehen ausgewirkt haben und was passiert, wenn nach den Feiertagen wieder mehr Leute zur Arbeit gehen.
In Schweden haben die Gymnasieskolor, vergleichbar gymnasialen Oberstufen, vorsorglich noch bis zum 24. Januar Fernunterricht, und viele öffentliche Einrichtungen ebenfalls so lange geschlossen. Ab dem 7. Januar soll außerdem in Bussen und Bahnen an Wochentagen zwischen sieben und neun Uhr sowie zwischen 16 und 18 Uhr eine Maske getragen werden, heißt es nun von der Gesundheitsbehörde. "Wir wissen, dass es im öffentlichen Nahverkehr Situationen gibt, in denen man Gedränge schwer ausweichen kann", so Anders Tegnell. Damit fällt ein weiteres Markenzeichen des "schwedischen Sonderweges".
Auch die Politik der offenen Grenzen innerhalb der EU/EFTA/GB wurde inzwischen aufgegeben – nachdem bekannt wurde, dass es in Großbritannien eine möglicherweise noch ansteckendere Virusmutation gibt. Einreisen aus Großbritannien und auch aus Dänemark sind deshalb aktuell nur in Ausnahmefällen möglich, und auch deutsche Transitreisende durch Dänemark werden an der Grenze abgewiesen. Die Grenzschließung Richtung Dänemark soll nicht nur die Virusmutation stoppen, sondern auch verhindern, dass Dänen in den Einkaufszentren von Skåne die Freiheit suchen, die sie im eigenen Land gerade nicht haben.
Kolumnistin Gina Gustavsson verglich in Dagens Nyheter die schwedische Corona-Strategie mit der Vasa, jenem Schiff, das das Symbol der damaligen Großmacht Schweden sein sollte und das aufgrund eines Konstruktionsfehlers schon bei der Jungfernfahrt sank. Die schrittweisen Kursänderungen zeugen jedoch davon, dass man, wenn auch langsam, zumindest in der Lage ist, Fehleinschätzungen zu korrigieren und Realitäten anzuerkennen.<BR>
Interessant wird nun sein, wie das Pandemiegesetz angewendet wird, wenn es denn einmal in Kraft ist. Die Vollmachten, die sich die Regierung im Frühjahr befristet hatte geben lassen, wurden nämlich nie genutzt.
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