Schwedischer Sonderweg - Alte bleiben auf der Strecke
Mit 200 Millionen Euro will Schwedens rotgrüne Regierung das Sozialsystem für alte Menschen retten und dabei gleichzeitig seine Reputation als fürsorgende Politiker
Das Geld soll vor allem in die Ausbildung für Pflegekräfte investiert werden. Knapp die Hälfte der 3460 mit Coviud-19 verbundenen Toten (am Mittwoch wurden147 Todesfälle gemeldet) betraf die Menschen in Altersheimen, jede Region des Landes ist betroffen, am meisten der Raum Stockholm (Übersicht).
Dabei sollten gerade die Alten im schwedischen Sonderweg, der einen Lockdown bislang vermieden hat, besonders geschützt werden. Das Land hat für seine Strategie, Restaurants und Kneipen sowie Kindergärten und Grundschulen bislang offen gelassen zu haben, große internationale Aufmerksamkeit erregt.
Der "Staatsepidemologe" Anders Tegnell glaubt an die Herdenimmunität, eine langsame Durchinfizierung des gesunden Teils der Bevölkerung, die so gesteuert ist, dass die Krankenhäuser nicht überlastet werden.
Allgemein sparte der schwedische Staat deutlich in der Fürsorge für alte Menschen, setzte auf Privatisierung; das Land ist längst nicht mehr der Wohlfahrtsstaat wie in den Siebziger Jahren. So wurden innerhalb von zwanzig Jahren dreißig Prozent der kommunalen Altersheime abgeschafft, die Menschen, die eingeliefert werden, sind darum weitaus gebrechlicher und kränker.
Zudem war das Gesundheitsamt nicht in der Lage, die Pflegekräfte zu testen und mit Schutzausrüstung zu versorgen. Auch sind die Pfleger zu einem großen Teil schlecht bezahlte Migranten, die in beengten Verhältnissen wohnen, wo sich das Virus rasch ausbreiten kann. Oft lassen diese sich nicht krankschreiben, da sie auf den Lohn angewiesen sind.
Alte Menschen werden auch in kommunale Altersheime eingewiesen, in denen Covid-19-Fälle gemeldet wurden. Im schwedischen Gesundheitsamt, dessen Vertreter tagtäglich eine Pressekonferenz zur Corona-Lage abhalten, zeigte man sich über die Ausmaße der Covid-19 Fälle in den Altenheimen überrascht.
Erst Ende der vergangenen Woche war eine sonst für solche Tätigkeiten nicht geeignete OP-Maske für das Personal vorgeschlagen worden. "Trotz der geringen wissenschaftlichen Grundlage kann man dies als Extra-Maßnahme erwägen", sagte Malin Grape, die Verantwortliche für Hygiene der Behörde.
In Schweden wurde der Besuch der betagten Altersheimbewohner durch Angehörige seit Mitte März verboten, diese Verbote würden jedoch unterlaufen, erklärte Marta Szebehely, pensionierte Professorin für Sozialarbeit. Sie kann die Überraschung des Gesundheitsamtes nicht nachvollziehen, die Probleme in den Altersheimen seien schon lange bekannt gewesen.
"Die ganze Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen"
Diesen Satz wiederholt die Gesundheitsministerin Lena Hallengren seit einiger Zeit. Gleichzeitig macht sie die Arbeitgeber in den Heimen für die mangelnde Schutzausrüstung verantwortlich.
Doch dies bringt viele Angehörige auf, die beklagen, dass die in Pflegeheimen Verstorbenen viel Steuern bezahlt und nun nichts davon hätten. Es fehle die Handlungsverantwortung der Politik.
Mittlerweile rührt sich auch die Opposition, die sich lange zurück gehalten hat: "Die ganze Strategie baut ja darauf auf, dass Alte und andere Risikogruppen geschützt werden. Und dies ist im großen Maß missglückt", kritisierte Jimmie Akesson, der Chef der rechten Schwedendemokraten. Der sozialdemokratische Regierungschef Stefan Löfven würde sich hinter dem Beamten Anders Tegnell "verstecken".
Diesem Vorwurf pflichtet auch Ulf Kristersson zu, der Vorsitzende der bürgerlichen "Moderaten". Er hat neben dem politischen Kalkül auch ein persönliches Motiv - seine Mutter wurde im Altersheim vor kurzem angesteckt.
Als Beobachter hat man durchaus den Eindruck, dass sich die expertenhörige Politik hinter dem Gesundheitsamt klein macht. Zumeist wiederholt Löfven die Empfehlungen der Mediziner, deren tägliche Pressekonferenzen um 14 Uhr große Aufmerksamkeit erfahren.
Bislang kam die Symbiose aus Regierung und Gesundheitsamt gut in der Bevölkerung an. So ist das Vertrauen nach Umfragen in das Gesundheitsamt von März bis April von 50 Prozent auf 71 Prozent gestiegen, das der Regierung von 34 auf 53 Prozent. Wer mag da Unruhe hineinbringen?
Vielleicht die WHO. Dort wurde Schweden Anfang Mai noch gelobt. Direktor Mike Ryan, zuständig für Notstände und Katastrophen, begrüßte, dass das Land nicht allein via Verbote versucht, die Epidemie einzudämmen, sondern auch auf die Einsicht der Bürger setzt. Von dem Land könne man lernen, wie man aus dem Lockdown herauskomme.
Doch diese Woche hat die Weltgesundheitsorganisation keine guten Nachrichten für Schweden und warnte, dass man die Lösung durch Herdenimmunität nicht zu hoch einschätzen sollte. Nach jüngsten Studien seien weniger Antikörper in der Bevölkerung verbreitet, als vorige Studien dies publizierten. Überdies solle man diesen Begriff für menschliche Infektionen vermeiden, da er zu einer "brutalen Arithmetik" führen kann, Menschen seien keine Herden.
Ob dies eine Reaktion auf die Thesen des Stockholmer Mathematikers Tom Britton war? Dieser erklärte letzte Woche, die "Herdenimmunität könne schon bei 40 bis 45 Prozent der Infizierten erreicht werden, anstatt wie man bislang glaubte bei 60 Prozent". Und das bei einer Reproduktionszahl von 2,5. Tegnell glaubt, auf dieser Zahlenbasis voraussagen zu können, dass Stockholm schon im Juni eine Herdenimmunität erreichen könnte, bei der aber weiterhin Vorsichtsmaßnahmen zu gelten haben.
Die R-Zahl für Schweden wurde schon seit Ende April auf unter eins geschätzt, eine R-Zahl für Stockholm gibt es (offiziell) nicht.