Schwere Wasser

Aus dem historischen Rückblick auf den Beginn des Ersten Weltkriegs wurde in wenigen Monaten ein brennendes Pulverfass, das in der Lage sein könnte, unser Leben stärker zu beeinträchtigen, als wir uns das derzeit noch vorstellen wollen.

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Noch geht das Jahr nicht zu Ende. Aber es hat gewaltige Veränderungen mit sich gebracht. Noch vor den Olympischen Winterspielen dachte niemand an eine aktuelle Kriegsgefahr für Europa - natürlich bis auf die Zeitgenossen, die an eben diesen Veränderungen interessiert sind und sie gestaltet haben. Und heute? Wenn schon nicht die Ukraine in Putsch und Krieg versinkt, so sind es jedenfalls die Mörderbanden des "Islamischen Staates", die die Vorhersagen für einen dreißigjährigen Krieg liefern.

Wenn, dann wird kräftig hingelangt. Darüber vermögen auch die Bilder vom gestrigen Treffen der beiden Außenminister Lawrow und Kerry in Paris nicht hinwegzutäuschen. Zwar wurde da eine ominöse Zusammenarbeit vereinbart, die den Datenaustausch über den "Islamischen Staat" zum Inhalt haben soll. Was brauchen die USA noch Daten, nachdem sie und ihre nah- und mittelöstlichen Freunde die ganze Region in Flammen versetzt haben. Dazu zählt auch der "Islamische Staat". Für die Russen wurde damit die Leimrute ausgelegt und wir sind soweit, schon damit eine gewisse Hoffnung zu verbinden.

Bislang und fast seit 1990 war und ist die Perspektive für die jetzige Russische Föderation eindeutig. Wenn man von Moskau auf den Westen blickt, sieht man die westliche Offerte: ausgeplündert zu werden, was die russischen Bodenschätze anbetrifft, oder im Weigerungsfall das Wegschaffen aus dem europäischen Kontext. Das Völkerrecht führen die Verantwortlichen im Westen seit einigen Monaten nur im Munde, weil es ihnen passt, nicht, weil es ein Punkt echter Sorge ist. Man hätte mit dem Krieg gegen Belgrad seitens der NATO nicht anfangen dürfen, die im und mit dem Völkerrecht bestehende Friedensbasis in Europa systematisch der Erosion auszusetzen. Das Recht des Stärkeren ist doch eine westliche Erfindung. Man glaubte, es sich leisten zu können. Dabei hat man schon bei dem Georgien-Krieg 2008, den der georgische Präsident vom Zaune brechen durfte, sehen können, wie sich Russland darauf versteht, in einem solchen Fall "abzustauben".

Die Machtverschiebungen im Westen waren nie so eindeutig wie 2008. Wir können heute noch den Mut und die Tatkraft des französischen Präsidenten Sarkozy bewundern, der fast im Durchmarsch einen Waffenstillstand als Europäer vermitteln konnte. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, woher das Signal für exakt die Nacht gegeben wurde, als in Peking das Feuerwerk für das Völkerfest in den Himmel stieg und Tiflis gegen Moskau losmarschieren durfte. Und heute? Sarkozy ist weg und nichts und niemand ist eine an seine Stelle getreten. Dafür haben wir einen Bundespräsidenten, der hoffentlich nie auf die Idee kommt, seine längst gebotene Aufwartung in Moskau machen zu sollen. Wir haben alles, was sich gegen Russland und die Russen in den letzten Jahrzehnten in Bewegung setzen ließ, aus welchen Gründen auch immer im Wesentlichen mitgemacht. Wir fallen uns selbst in den Rücken, wenn wir vergessen sollten, dass Moskau den Schlüssel zur Wiedervereinigung hatte und uns diesen Schlüssel anvertraut hat.

Warum macht das viele so nachdenklich? Kann es doch sein, dass sich manches nur damit erklären lässt, weil wir an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor einhundert Jahren denken? Das Buch über die "Schlafwandler" hat mehr in Bewegung gebracht, als wir derzeit vermuten. Sind es nicht die "Hasardeure, die wiederkehren", wenn wir an die Inszenierungen für einen neuen Krieg denken. Putin kann für sich selbst sprechen. Aber wir Deutschen wissen doch, wie sehr die angelsächsische Kriegspropaganda den Deutschen Kaiser diffamiert hat, um die Koalition gegen Deutschland zusammenschmieden zu können und Versailles hinzukriegen. Nicht schon wieder, auch wenn sich in den letzten Jahren auch politisch Verantwortliche in Berlin darin gefallen haben, den Hitler-Vergleich auf jeden zu erstrecken, den man aus anderen Gründen fertigmachen wollte. Wenn amerikanische Gesprächspartner darauf angesprochen werden, reagieren sie überrascht. Wer denkt schon bei seinen Planungen für die neue angelsächsische Weltordnung an deutsche Befindlichkeiten oder europäische Erfahrungen? Man lässt aber auch keinen Zweifel aufkommen, wie eigentlich gedacht wird. Danach stellt man sich in Washington die Frage, "ob man Deutschland überhaupt noch braucht"?

Ob denen in Berlin überhaupt noch etwas einfällt oder sie irgendwas feststellen, das werden die kommenden Wochen zeigen. Es müsste ihnen allerdings zu denken geben, dass die normale Siedetemperatur für angebliche Menschenrechtsverstöße in anderen Ländern als Initialzündung für Aggressionen bei den Bildern aus Hongkong ausgeblieben ist. Die Menschen im Land haben die Nase voll davon, gleichsam am Nasenring durch die Willkür-Manege des Westens gezogen zu werden. Warum verrät man die Menschen in anderen Ländern dadurch, dass im Westen seit langem eine "Militarisierung der Menschenrechte" betrieben wird. Entweder um Handelsvorteile zu erhalten oder sich die jeweiligen Staaten gleich unter die Nägel reißen zu können.

Unserer Bundesregierung scheint gleichgültig zu sein, welches außenpolitische Bild sie abgibt. Da bestellt der amerikanische Präsident die militärischen Spitzen aus zwanzig Ländern nach Washington ein, um mit ihnen das Vorgehen gegen die Kräfte des "Islamischen Staates" zu besprechen, die es ohne amerikanisches oder saudisches Tun nicht geben würde. Treffen beim Oberbefehlshaber? Das macht die Bundesregierung mit?

Willy Wimmer ist CDU-Politiker. Er war zwischen den Jahren 1985 und 1992 verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU und Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung. Wimmer war Stellvertretender Leiter der Delegation des Deutschen Bundestages bei der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und von 1994 bis 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE.