Scott Morton gibt auf: EU muss jetzt doch kompetente Europäer suchen

Vor antritt angetreten: Scott Morton. Bild: Kaiser Permanente Institute for Health Policy, CC BY 3.0

Die Kommission von Frau von der Leyen wollte eine US-Amerikanerin an Bord holen und die Kritik zerreden. Es folgte ein Shitstorm. Ein etwa lockerer Rückblick.

Schluss, aus, das war’s: Die US-Ökonomin Fiona Scott Morton hat angesichts einer heftigen Diskussion über ihre Nominierung als Chefökonomin für Wettbewerb in der EU-Kommission aufgegeben, bevor die Lobbyarbeit richtig beginnen konnte. Das teilte die Brüsseler Behörde mit. Ein kommentierter Rückblick.

Während die Personalie Scott Morton in Frankreich im ganz großen Stil debattiert wurde – Zeitungen, TV-Runden, Wissenschaftler, ehemalige EU-Beamte, Oppositions- und Regierungspolitiker, Minister bis hin zum Staatspräsidenten – hatte die deutsche Presse ihren Standpunkt mal wieder von der Presseerklärung der Kommission abgepaust: alles normal, eine Expertin, bitte gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen.

Deutsche Journalisten könnten mit Ihrem Heinrichmann‘schen Welt- und Institutionenbild, in dem jede (noch so berechtigte) Kritik an den USA wie eine Gotteslästerung und jede (noch so berechtigte) Kritik an der EU-Kommission wie Majestätsbeleidigung behandelt wird, ganze Bibliotheksregale von "Lustigen Taschenbüchern" füllen.

Martin Sonneborn ist Vorsitzender der Partei Die PARTEI und Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Bild: Olaf Kosinsky, CC BY-SA 3.0 DE

Es obläge ihnen stattdessen, die Kommission wegen formal fehlerhafter Entscheidungen und mangelnder Vertretung europäischer Interessen zur Ordnung zu rufen. Ein paar Kilometer weiter südlich hat Macron die Personalentscheidung nicht nur als "zweifelhaft" und "bedenklich" eingestuft, sondern auch seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass es doch kaum so lausig um Europas Akademiker stehen könne, dass man eine US-Amerikanerin rekrutieren müsse. (Da kennt er wohl Annalena Baerbock schlecht.)

Er unterstütze nicht nur das Prinzip der strategischen Autonomie, das die Autonomie des Denkens einschließe, sondern auch das der Reziprozität, stelle allerdings fest, dass es einem Europäer per Gesetz untersagt sei, einen derart wichtigen Verwaltungsposten in den USA oder China zu übernehmen.

Derweil hat eine Reihe (hereingelegter) EU-Kommissare - der Franzose Thierry Breton, der Italiener Paolo Gentiloni, der Spanier Josep Borrell, der Luxemburger Nicolas Schmitt, die Portugiesin Elisa Ferreira - Frau von der Leyen schriftlich aufgefordert, die Personalentscheidung rückgängig zu machen.

Im Europäischen Parlament haben sich Abgeordnete aller Fraktionen ähnlich ausgesprochen - mit Ausnahme der Grünen, deren Ko-Fraktionsvorsitzender Philippe Lamberts seinen anfänglichen Protest aus unerfindlichen (und bestimmt auch anderen) Gründen zurückgezogen hat. LOL.

Die dänische Wettbewerbskommissarin Margarete Vestager hat ihre Entscheidung gestern Abend vor dem EP "verteidigt". Das ritualisierte Frage-Antwort-Pingpong, dem sie gegenüber dem Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) des Europäischen Parlaments ausgesetzt war, beherrscht Vestager nach zehn Dienstjahren eigentlich im Schlaf - ebenso wie die Kunst, falls es eine ist, der wortreichen Inhaltsleere und des inhaltsreichen Schweigens.

Ihren intendierten Zweck scheint die einstündige Veranstaltung dennoch verfehlt zu haben. "Vestagers Verteidigung mit Halbwahrheiten überzeugt nicht", notiert Le Monde, "zögernd", "stockend", immer wieder über ihre eigenen Worte "stolpernd" habe sie von ihrem Zettel abgelesen.

Vor allem wirft Vestager mehr Fragen auf als sie beantwortet und schafft mehr Widersprüche als sie ausräumen kann. Und wo Transparenz hätte entstehen sollen, wurde gleich eine ganze Batterie von Nebelkanonen gezündet.

Knapp tausendmal beruft sich Vestager auf Geheimhaltung, knapp zweitausendmal findet sie ihre eigene Entscheidung richtig und über die verbleibende Zeit paraphrasiert sie schließlich beides (geheim!, aber richtig!), ohne die von den Ausschussmitgliedern gestellten Fragen auch nur ansatzweise zu beantworten.

Die Zusammenfassung

Wir fassen wie folgt zusammen:

1. Da es an kompetenten Europäern für die Stelle gemangelt habe, habe sie sich für die Streichung der EU-Staatsangehörigkeitsvoraussetzung entschieden. Wann immer Morton sich wegen ihrer (ziemlich zahlreichen) Interessenkonflikte werde zurückziehen müssen, würden kompetente Europäer das Ruder übernehmen. (Ja, genau. Lesen Sie das ruhig zweimal.)

2. Die Liste der Interessenkonflikte wird von der Kommission derzeit noch bearbeitet. Aber die Entscheidung, Morton einzustellen, ist bereits gefallen. Inzwischen ist, wie eingangs erwähnt, die gefallene Entscheidung wieder gefallen.

3. Die Liste der Interessenkonflikte von Fiona Scott Morton sei "vertraulich" (?), unterliege der Geheimhaltung (?) und werde auch den Mitgliedern des Europäischen Parlaments nicht zur Verfügung gestellt (?). (WTF?)

4. Morton habe keine Sicherheitsfreigabe erhalten. Sie benötige auch keine, selbst wenn sie Zugang zu strategischen und vertraulichen Informationen erhalte, die für Ihr Heimatland (USA) von vorrangigem Interesse sind. (Hä, was?)

5. Die Abschaffung des EU-Staatsangehörigkeitserfordernisses sei eine Ausnahme und werde nicht die Regel sein. (Na, immerhin.) Allen, die das mit dieser Ernennung verbundene Problem nicht erkennen konnten, möchten wir es durch Ersetzung der Parameter leichter machen. Es ist, als würde die EU einem russischen Berater von Gazprom die Schaltstelle der europäischen Gasmarktregulierung übergeben. Oder einem saudi-arabischen Vizescheich die Gestaltung der europäischen Ölversorgung. Oder Jeff Bezos die Hoheit über die Steuersätze Luxemburgs.

Unfassbar, dass die Kommission auf eine solche Idee überhaupt gekommen ist. Bevor die Personalie auf dem heutigen Treffen der Kommissare (erstmals!) zur Sprache kommen konnte, hat Fiona Scott Morton ihren Verzicht auf den Posten mitgeteilt.

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