Selbstbewusste Menschen reisen nicht zum "Islamischen Staat"
Kriminologin berichtet von der Sehnsucht europäischer Jugendlicher nach dem Reich der Dschihadisten und die Rolle der Sexualität im IS
Die akute Dringlichkeit ist erstmal weg; es gibt nochmal ein "Zeitfenster" für die Regierung in Berlin, was die Rückholung deutscher IS-Anhängerinnen und ihrer Kinder aus dem Lager al-Hol in Nordsyrien betrifft. Dazu kursierten Zahlen von über hundert Personen, die jedoch aufgrund der schwierigen Umstände wenig verlässlich sind.
Das Lager al-Hol liegt in der Nähe von Hasaka, in einem Gebiet, das von den SDF kontrolliert wird, so auch das Lager, in dem überwiegend Frauen und Kinder untergebracht sind, die zuvor im IS-Kalifat gelebt haben. Nach dem Einmarsch der türkischen Armee und den mit ihr verbündeten islamistischen Milizen in Nordsyrien wurde befürchtet, dass die Lagerinsassen befreit werden könnten und mithilfe von Schleusern durch die Türkei zurück nach Europa kommen, um sich dort radikalen Milieus anzuschließen und sie weiter aufzubauen.
Da die USA entgegen erster Absichtserklärungen nun doch in dieser syrischen Region bleiben wollen, verändert sich die Situation erneut. Der russische Außenminister Lawrow beklagt, dass die Verhandlungen zwischen den Kurden in der SDF und der Regierung in Damaskus stocken. Die Kurden würden aufgrund der US-Präsenz nun weniger Interesse an Abmachungen zeigen. Auch sieht es im Moment nicht so aus, als ob die türkischen Militärs und die mit ihnen verbundenen syrischen Söldner ihren Vormarsch bis nach al-Hasaka fortsetzen können.
IS-Rückkehrerin: "Es ging immer nur um Männer, Macht und Geld, nie um uns Frauen"
Das gibt der Regierung in Berlin etwas Aufschub, um die Frage der Rückkehrinnen und ihrer Kinder zu klären. Wie der Bericht "Beim IS ging es nie um uns Frauen" (leider mit Zahlschranke) von Alfred Hackensberger veranschaulicht, der im Lager al-Hol mit einer deutschen IS-Anhängerin gesprochen hat - die mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrt ist - sind die Einzelfälle schwierig. Im Fall der Frau bestätigt sich z.B. die oft genannte Befürchtung, dass es nicht genügend Beweismaterial für einen Haftbefehl gibt.
Die Frau ist in Deutschland auf freien Fuß. Sie wird wahrscheinlich überwacht und die Ermittler ermitteln, aber es liegt offenbar kein Grund vor, sie in U-Haft zu nehmen. Welche Gefahr von ihr ausgeht, ist von außen nicht zu beurteilen. Sie bekundet Reue und Distanz zum IS. Dabei betont sie ihre Enttäuschung: "Es ging immer nur um Männer, Macht und Geld, nie um uns Frauen. Mit Islam hatte das nichts zu tun"
Häufig heißt es, dass ein großer Teil der IS-Anhängerinnen zwar von der IS-Wirklichkeit enttäuscht ist, aber nicht von der Ideologie und ihren Versprechungen. Die Motive dafür, dies aufzugeben, seien schwach ausgeprägt, beobachtet auch die niederländische Kriminologin und Soziologin Marion van San, die an der Erasmus-Universität in Rotterdam seit 2009 über Radikalisierung und Deradikalisierung forscht.
Marion van San hatte über Jahre hinweg Kontakt mit 43 Familien, in denen Söhne oder Töchter nach Syrien aufgebrochen sind, um sich dem IS anzuschließen, darüber hinaus sprach sie auch mit Freunden und Lehrern und Personen in Syrien über deren Wahrnehmungen und Einschätzungen.
Das mag zwar keine üppige Grundgesamtheit für eine empirische Sozialforschung abgeben, aber doch allerhand Material für Erkenntnisgewinn. Die Forscherin hat dazu ein Buch verfasst: "Kalifaatontfluchters, das man auf Deutsch mit "Kalifatausbrecher" übersetzen könnte.
Es hätte auch ein Motorradclub sein können
Was sie in dem jahrelangen Austausch erfahren hat, bestätigt einerseits das Schulterzucken vieler Forscher bei der Frage danach, ob es denn ein Profil gebe, dass alle IS-Anhänger gemeinsam haben. Ein solches Profil sei schon oft versucht worden, etwa über die Annahme, dass es sich bei denen, die nach Syrien gereist sind, um sich dem IS anzuschließen, hauptsächlich um junge Menschen handele, die aus Problemfamilien stammen und sich als Muslime benachteiligt fühlen oder die religiös besonders engagiert seien, aber je genauer sie hingeschaut habe, desto komplexer sei es geworden, sagt van San in einem Interview mit der niederländischen Publikation Nrc.
Und doch hat sie ein Merkmal gefunden:
Es ist wahr, dass Menschen, die voller Selbstvertrauen sind, selten oder nie (nach Syrien) gereist sind.
Marion van San
Nach ihren Erfahrungen geschahen die Rekrutierungen überwiegend über Freunde und Bekannte - was auch schon von anderen Forschern in diesem Feld hervorgehoben wurde - und dabei spielte Abenteuerlust eine Rolle. Die Rekrutierung von Personen in der Nähe einer Moschee werde überschätzt, so van San. "Sie rekrutieren sich hautsächlich gegenseitig. Junge Männer, die bereits nach Syrien gereist waren, erzählten Freunden in den Niederlanden, wie wunderbar es war."
Teenager seien eine gute Zielgruppe für die "intelligente Verbreitung" der IS-Propaganda über soziale Netzwerke gewesen. Es hätte auch ein Motorradclub sein können, spitzt die Soziologin die Sehnsüchte zu, die zur Abfahrt zum IS geführt haben. "Sie wollten dazugehören. Und sie sind Teil von etwas." In den Fällen, die sie kennengelernt hat, war es die radikale islamische Gruppe, die Erfüllung versprach: "Es war alles Schwesterliebe in diesen App-Gruppen. Sie sprachen sich miteinander mit "liebe Schwester" an.
Ich habe oft gehört, dass die Leute einen Neuanfang machen wollten. Fast alle waren Teil einer sehr säkularen Jugendkultur. Bis sie bereuten. In gewissem Sinne tauschten sie eine Jugendkultur gegen eine andere aus.
Marion van San
In der Realität des sogenannten "Islamischen Staates" breitete sich dann, wie bereits oft beschrieben, Desillusionierung aus. Die niederländische Forscher nimmt dabei aber anders als meist üblich die Rolle der Sexualität in den Blick.
Ein großes Bordell
In der französischen Zeitung Le Monde wird sie mit einem Satz wiedergegeben, der sehr nach einer Pointe aussieht, wie Journalisten gerne fabrizieren: "Die Religion war nur Fassade, was sie vor allem suchten, war Liebe." Dazu wird ein Satz aus einem Gespräch von van San mit der niederländischen Zeitung Het Parol wiedergegeben: "Sie (die Frauen, die nach Syrien fuhren, Anm. d.A.) hatten in manchen Fällen schon ein Alter erreicht, wo sie fürchteten, keinem Mann mehr zu begegnen. Und als sie dann online jemanden trafen, entschlossen sie sich, abzureisen."
So einfach? Die Konversationen drehten sich ausschließlich um Sex, sagt eine der Frauen, die mit der niederländischen Forscherin gesprochen hat. Wie wichtig Sex für die Dschihad-Männer war, erzählt eine Frau, anhand von Sex-Shops (mit Ähnlichkeiten zum Rotlichtviertel in Amsterdam) anschaulich gemacht, die in "Rakka Reizwäsche verkaufen, High-Heels und abgefahrene Dinge". Die Frauen seien wie Prostituierte in einem großen Bordell behandelt worden, so die Aussage einer Augenzeugin.
Im Interview mit der niederländischen Zeitung nrc wird das weniger ausgeschmückt, aber bestätigt, dass die "Reinheit des Kalifats" bloße Behauptung ist und "unter dem Radar" eine Menge anderes passierte. "Ich habe auch aufgezeichnete Gespräche zwischen Kämpfern und ihrem Schatz hier gelesen, und sie drehten sich nicht um den bewaffneten Kampf oder um den Islam, sondern hauptsächlich um Sex."
Kinder, die nicht mit Puppen spielen können
Bemerkenswert ist, was Marion van San an Verhaltensweisen bei den Kindern, die in die Niederlande zurückgebracht wurden, beobachtete. Dass sie nicht wussten, was sie mit Spielzeug anfangen können. Ein Mädchen hatte keine Ahnung, was sie mit einer Puppe anfangen sollte.
Die Kinder hätten sich mit dem Essen in eine Ecke verzogen, um es dort schnell zu verzehren. "Sie hatten gelernt, dass sie im Lager überleben mussten." Dennoch ist sie davon überzeugt, dass sie wie ganz normale Kinder funktionieren und "keine wandelnden Bomben" sind, "für die sie immer gehalten werden".
Van San ist davon überzeugt, dass die europäischen Länder die Kinder, die ihre Staatsangehörigkeit haben, aus moralischer Sicht zurückholen müssen. Man könne die Kinder nicht für die falschen Entscheidungen ihrer Eltern bezahlen lassen.
Sicherheitsgründe würden dafür sprechen, auch die erwachsenen IS-Mitglieder zurückzuholen. Sie begründet das mit der Gefahr der Bildung von IS-Enklaven in Gefängnissen. Zwar gehe von den IS-Anhängern eine Gefahr aus, da nur ein Teil dem IS den Rücken gekehrt habe, "aber es ist besser, dass wir sie unter Aufsicht haben, als dass sie untertauchen. "