Selbstschutz und Selbstverwaltung
Der erneute Lockdown schießt also weit über das Ziel hinaus und lässt zugleich zu viele noch ungenutzte Maßnahmen außer Acht
Der Schock dieses erneuten Lockdown sitzt tief. Und er wirft die Frage auf, ob hier die Verhältnismäßigkeit verlassen und überreagiert wurde. Wurden die Möglichkeiten zum Selbstschutz wirklich voll ausgeschöpft und waren die vielen Initiativen der Wirtschaft wirkungslos? Die Antwort ist ein klares Nein. Dieser Lockdown greift die Schwachpunkte kaum an und belastet zugleich weite Wirtschaftskreise mit undifferenzierten Verboten.
Selbstschutz - die beste Gefahrenabwehr
Nach wie vor empfiehlt das RKI nur für klinisches Personal die besser schützenden FFP-2-Masken. Klar, dass diese Masken auch für jeden von uns vorteilhaft wären. Masken mit verbesserten Trageeigenschaften sind zwischenzeitlich verfügbar. Die ersten Hersteller werben kräftig für Masken mit höherer Schutzwirkung durch verbesserte Filtereinlagen - mit Wirkungen von über 90 %, auch aus deutscher Fertigung.
Damit liegt es an jedem von uns, trotz etwas erhöhter Kosten seinen persönlichen Schutz zu verbessern. Vieles spricht dafür, dass die weitgehende Verwendung von FFP-Masken den jetzigen Ausbruch vermieden hätte.
Der Daten-Lockdown
Der derzeit rasante Anstieg stellt zwangsläufig auch die Frage nach dem optimalen Einsatz der Covid-19-App. In Fernost ist sie verpflichtend und alle größeren Ausbrüche konnten damit rasch unter Kontrolle gebracht werden. Bei uns allerdings wurden alle Pflichten aus Datenschutzgründen durch Freiwilligkeit ersetzt, eine durchgreifende Wirkung damit geblockt. Zu weitgehend, wie ich meine. Bei 20.000 Neuinfektionen täglich sind ca. 160.000 Menschen akut infiziert. Das sind zwei Promille der Bevölkerung. Der Virus ist also selten, aber er ist hoch ansteckend und manche der Erkrankungen verlaufen sehr schwer, auch für Jüngere. Konsequente Vermeidung von Ansteckung hat klare Priorität.
Alle Infizierten und ihre Kontaktpersonen sind deshalb an Quarantänepflichten gebunden. Diesen kleinen Teil der Bevölkerung auch zur Eintragung in das Smartphone-App zu verpflichten, scheint zumutbar. Denn damit entsteht eine zuverlässige Warnung der Allgemeinheit, die App wird zu einem weiteren Element des Selbstschutzes für jeden. Und das hätte vermutlich im derzeit größten Problemkreis, der Ansteckung im privaten Bereich, besondere Wirkung. Denn Quarantäne-Brecher würden sofort erkannt.
Eine ideale Warnung vor Ansteckung also und die Verwendung der App durch uns alle würde sprunghaft steigen - mit dem Nebeneffekt, dass die Wege Infizierter gut nachvollzogen werden können. Der aktuelle sprunghafte Anstieg wäre der richtige Zeitpunkt, die Aktivierung bei positivem Testergebnis oder Quarantäne zur Pflicht zu machen.
Die sofortige Isolierung Infizierter ist naturgemäß das Wichtigste. App und Schnelltest sind dafür die ideale Kombination. Bequem einzusetzen bei ersten Symptomen - und entscheidend, um den Schutz der Bevölkerung sofort durch Quarantäne zu sichern. Weitgehend automatisiert liegt nach 15 Minuten das Ergebnis vor. Sorglos zum nächsten Event oder - für sehr wenige, für ein paar Promille der Getesteten - ab in die Quarantäne.
Reaktionsfähige Marktwirtschaft
Alle diese Möglichkeiten sind Ergebnisse unserer starken Marktwirtschaft und ihrer Technologien. Sie hat in dieser Herausforderung eine neue Dynamik entwickelt. Pharmafirmen im Wettlauf um Impfstoffe, um Schnelltests und um neue Therapien. Aber auch andere, weniger exponierte Wirtschaftsbereiche reagieren kräftig - die Unternehmen und ganze Branchen müssen sich selbst schützen.
Selbstorganisation, ein wirksames Instrument der Marktwirtschaft
Vorbildlich haben Gaststätten und Hotels, Theater und Kinos, der Einzelhandel und die Veranstalter kleiner und großer Events - allen voran der DFB - in Zusammenarbeit mit erfahrenen Virologen Konzepte entwickelt. Es sind Handlungsvorgaben, die die Ansteckungsrisiken minimieren. Die statistischen Daten bestätigen dies.
Zwar spricht die Kanzlerin von 75 % der Infektionen, deren Ursprung von den Gesundheitsbehörden nicht ermittelt werden konnte, aber die Statistik der restlichen 25 % ist eindeutig. Das RKI hat die Analyse von 8000 Fällen eines bekannten Ursprungs in dem Lagebericht vom 27. Oktober grafisch dargestellt. Danach sind die Infektionen durch Übernachtungen und "Speisestätten" nur wenige Prozent.
Es ist ein Erfolg der Verbände. Der Hotel- und Gaststätten-Verband DeHoGa beispielsweise versorgte seine 65.000 Mitglieder mit Leitlinien zu Bestuhlung, Aufklebern, umfassenden Desinfektionsvorgaben und weiteren Verhaltensvorgaben in einem detaillierten Konzept. Diese Erfolge klein zu reden, ist nicht nur für alle Beteiligten demotivierend, es konterkariert auch alle Begründungen der Bundesregierung zu diesen für uns alle überraschenden Restaurant- und Hotel-Schließungen.
Auch die Konzepte anderer Verbände wurden durch Missachtung abgestraft. Selbst der finanzstarke DFB musste sich trotz bester wissenschaftlicher Beratung fügen - völlig unverständlich bei diesen Freiluftveranstaltungen in Stadien, die großen Abstand erlauben und über viele Zugänge größeres Gedränge vermeiden können, und für die FFP-Masken und die Warn-App vorgeschrieben werden könnten.
Kraftvolle Selbstorganisation der Unternehmen mithilfe ihrer Wirtschaftsverbände hat sich in dieser Pandemie in der Breite bewährt. Man sollte es endlich als ein starkes Instrument der Werteregulierung der Marktwirtschaft anerkennen. Seit mehr als einem Jahrzehnt trete ich für diese Selbstregulierung der Wirtschaft in allen meinen Büchern ein, zunächst als Maßnahme zur Bekämpfung des Klimawandels. Der Gesetzgeber hätte schon vor langem die CO2-Reduzierung zu einer Selbstverpflichtung der Wirtschaftsverbände und Berufskammern machen können. Jetzt, nach einem verlorenen Jahrzehnt, werden es gesetzliche Ziele.
Noch immer wird die Ordnungskraft von Verbänden trotz vieler guter Beispiele übersehen. Sie als reine Lobbyorganisationen aufzufassen, ist einer der großen Irrtümer der Regierenden und auch der Öffentlichkeit. Weisungsrechte könnten die Ordnungskraft noch verbessern. Hier in der Corona-Krise war jedenfalls die branchenweite Zusammenarbeit hervorragend und mit ein Grund der im europäischen Vergleich besseren deutschen Erfolge.
Widerspruch der ärztlichen Fachgruppen
Neu ist an diesem Lockdown der Zusammenbruch der bisher einheitlichen Front der Wissenschaft. Auf einer Pressekonferenz der Kassenärztlichen Vereinigung gemeinsam mit bisher sehr treffsicheren Virologen wurde ein Gegenkonzept vorgestellt. Man fordert einen Strategiewechsel hin zu stärker zielgerichtetem Vorgehen und mehr Eigenverantwortung, "Gebote statt Verbote", ergänzt durch ein bundesweit einheitliches Ampelsystem.
Der Vorschlag ist kombiniert mit einer deutlichen Warnung vor den wirtschaftlichen und sozialen Folgen eines erneuten Lockdown. Man kann annehmen, dass diese Vorschläge der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten vor ihren Entscheidungen vorlagen. Eine Konsequenz aus diesem Zusammenbruch des wissenschaftlichen Konsenses wurde aber nicht gezogen. Man blieb bei den Empfehlungen des RKI und verordnete einen brutal weitgehenden Lock-down.
Kuschelkurs Söder?
Überrascht hat die volle Zustimmung von Bayerns Ministerpräsident Söder. Er kennt die großen Erfolge der Selbstorganisation im Gaststättenbereich. Für sie eingesetzt hat er sich nicht. Erneut dürfen auch Biergärten und Restaurant- und Café-Terrassen nicht mehr genutzt werden.
Aber Bayern hatte als erstes Bundesland im Frühjahr einen weitgehenden Lockdown verordnet - unter Ausnahme der Außenflächen. Die Forderung der Kanzlerin nach bundesweiter Einheitlichkeit beendete diesen Sonderweg. Aber im Sommer waren Gasthof-Terrassen und Biergärten der große Renner. Es wäre auch für schöne November-Tage eine erfreuliche Abwechslung gewesen - aber Ministerpräsident Söder zog den Kuschelkurs mit der Kanzlerin offensichtlich vor.....
Die Gerichte werden gefordert
Bei so aufgeweichtem Konsens und breiter Verachtung statistisch bescheinigter Erfolge der Bemühungen der Wirtschafts- und Sportverbände wird man nicht lange auf die ersten Klagen und Eilverfahren warten müssen. Es ist sehr zu hoffen, dass über die Gerichte die aktuelle Alternativlosigkeit beendet wird und durch Vertrauen in uns Bürger und in die Selbstorganisation der Marktwirtschaft dieser Lock-down so schnell wie möglich beendet wird.
Die Klage durch die DeHoGa wird bereits vorbereitet. Die Erfolgschancen sind gut, denn der Schwerpunkt der Infektionen liegt gemäß den RKI Angaben im privaten Bereich, im Arbeitsumfeld und in den Alten-, Pflege- und Flüchtlingsheimen und nicht in Gastronomie, Kultur und Sport.
Dieser Lockdown schießt also weit über das Ziel hinaus und lässt zugleich zu viele noch ungenutzte Maßnahmen außer Acht: bessere Masken, verpflichtende App und Schnelltests für große Events, gleich ob Fußball, Konzert oder Parteitag und der Respekt vor den enormen Leistungen der Wirtschaft, der Kultur und des Sports. Die Konzepte sind bestens überlegt, beraten von den besten Virologen der Nation - und waren bisher nachweislich erfolgreich. Selbstorganisation von Wirtschaftsgruppen kann erfolgreicher sein als Verbote.
Man hätte glauben können, dass nach den großen Versäumnissen der Anfangszeit dieser Pandemie der Glaube an die Allwissenheit des RKI abgenommen hätte und auch andere Virologen und deren Zusammenarbeit mit Wirtschaftsverbänden respektiert würde, aber die Regierenden blieben blind für diese Erfolge der Selbstorganisation. Branchenweite Disziplin und gute Zusammenarbeit, koordiniert durch die Fachverbände war in den vergangenen Monaten der erfolgreiche Weg, auf den wir raschestens zurückfinden müssen.
Und im Privatbereich - dem aktuellen Schwerpunkt der Infektionen - kann man sowieso nichts "verordnen". Da kann man nur motivieren zu bestmöglichem Selbstschutz, mit guter Maske, gutem Abstand, guter Hygiene und mit einer Covid-19-App, die für Infizierte verpflichtend ist. Deren Warnung an das Umfeld erzwingt zwangsläufig disziplinierte Quarantäne und Isolation. Denn jedem von uns dürfte Selbstschutz wichtiger sein als der Kontakt mit infizierten Freunden.
Dr. Peter H. Grassmann studierte Physik in München, promovierte dort bei Werner Heisenberg und ging ans MIT. Bei Siemens baute er die heute milliardenschwere Sparte der Bildgebenden Systeme auf. Als Vorsitzender von Carl Zeiss (bis 2001) sanierte er das Stiftungsunternehmen in Jena zusammen mit Lothar Späth. Er ist Kritiker einer radikalen Marktwirtschaft und fordert mehr Fairness und Nachhaltigkeit. Grassmann erhielt zahlreiche Auszeichnungen und engagiert sich bei der Münchner Umwelt-Akademie, bei "Mehr Demokratie e.V.", der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gesellschaft und dem Senat der Wirtschaft.
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