Separatismus als Flucht vor der Krise
Seite 4: Europa im Identitätswahn
Zudem finden sich in der jüngsten Geschichte genügend historische Parallelen, die die Wechselwirkung von Systemkrise, Systemkollaps und Separatismus veranschaulichen.
Auch bei der Implosion des autoritären Staatssozialismus waren es vor allem die ökonomisch am weitesten entwickelten Regionen, die frühzeitig auf ihre Unabhängigkeit vom zerfallenden Staatsverband setzten. In der Sowjetunion drängten etwa die baltischen Staaten auf die Loslösung, in Jugoslawien war es das wirtschaftlich avancierte Slowenien, das zuerst die Sezession betrieb.
Schließlich lässt der gegenwärtige Separatismus den europäischen Nationalismus als das erscheinen, was er schon immer war: als eine im Grunde genommen willkürliche und - historisch betrachtet - relativ junge Ideologie, die erst im 19. Jahrhundert parallel zur Ausbildung von nationalen Volkswirtschaften zur Massenwirksamkeit gelangte.
Die Leichtigkeit, mit der neue nationale Identitäten derzeit regelrecht gezüchtet werden, einem Modephänomen gleich auftauchen und wieder verschwinden, deutet auf deren baldigen Zerfall hin. Der Nationalismus ist zum ideologischen Spielball beim eskalierenden Wirtschaftsstandortkrieg geworden. Mit der langsamen Auflösung und Zerfaserung der nationalen Volkswirtschaft in der krisenhaften Globalisierung verliert somit auch die nationale Identität ihr Fundament.
Letztendlich neigt sich die historische Ära des Nationalstaates nach gut zwei Jahrhunderten ihrem Ende entgegen - und genau dieser Umstand macht den Neonationalismus mitsamt dem Identitätswahn, der durch die europäische Neue Rechte propagiert wird, so brandgefährlich. Da dem Nationalstaat die sozioökonomische Grundlage wegbricht, kann der europäische Neonationalismus nur die Rolle einer Krisenideologie einnehmen, die den drohenden ökonomischen Zusammenbruch mit einer irren Binnenlogik aufladen würde.
Hierin unterscheiden sich Europas Nationalisten kaum von den Islamisten an dessen südlicher Flanke, die ja ebenfalls ihren politischen Aufstieg dem Scheitern der kapitalistischen Modernisierung in weiten Teilen des arabischen Raums verdanken.
Unverarbeitete Zukunftsangst in weiten Bevölkerungsteilen
Der Identitätswahn, der den Aufstieg der Neuen Rechten begleitet, verweist letztendlich auf eine unverarbeitete Zukunftsangst in weiten Bevölkerungsteilen, die sich hierdurch in eine imaginierte heile Vergangenheit flüchten wollen. Mit der forcierten Rückbesinnung auf nationale oder ethnische Identitäten, die ohnehin einen krisenbedingten Wandel erfahren, wird letztendlich ein Festhalten am Gegebenen intendiert, an den sozialen Strukturen, die eben diese Identitäten ausformen.
Die eigene Identität - die ja ohnehin ein Produkt der sich wandelnden Sozialisation ist - wird als eine unveränderliche, rassisch oder kulturell bedingte Eigenschaft des Subjekts imaginiert. Sie erscheint als ein Anker, als ein Orientierungspunkt in einer von chaotischen Umbrüchen verheerten Welt. Die Identität erscheint in der Krise somit als etwas, das kein Umbruch, das kein sozialer Wandel dem Subjekt nehmen kann.
Und gerade dies ist die größte Lüge des europäischen Neonationalismus, wie ein Blick auf die Wandlungen allein der deutschen Identität offenbart. Obwohl die Neue Rechte zurück in die Vergangenheit will, leistet sie somit objektiv der drohenden krisenbedingten Barbarisierung Vorschub.