Separatismus als Flucht vor der Krise

Seite 2: Standort-Nationalismus und Konkurrenzdenken

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Der europäische Krisenseparatismus wird somit maßgeblich von einem ressentimentgeladenen regionalistischen Standort-Nationalismus und einem ökonomistischen Konkurrenzdenken befeuert. Die Abspaltung wird als eine Maßnahme begriffen, mit der die Krisenfolgen für die eigene Region gemildert, und die Krisenlast auf den restlichen Staatsverband abgewälzt werden könnte.

Auch in Schottland fanden sich übrigens bei der öffentlichen Diskussion vor dem Referendum diese Argumentationsmuster, nur gewannen sie nicht dieselbe Überzeugungskraft wie in den oben genannten, wirtschaftlich tatsächlich avancierten Regionen.

Eigentlich stellt diese neue separatistische Welle in Europa somit nur eine neue Stufe der bereits etablierten Konkurrenz um Investitionen zwischen den Regionen dar, die in Gefolge der neoliberalen Revolution zu bloßen "Wirtschaftsstandorten" zugerichtet wurden.

Die Katalanen wollen nicht mehr für die "Hungerleider" in Andalusien aufkommen. In Norditalien rümpft man die Nase über den verarmten und mafiaverseuchten Süden, während die Wallonie als postindustrielle Brachlandschaft Belgiens gilt (ähnlich dem Ruhrpott in Deutschland), von der sich die flämischen Separatisten lösen wollen.

Somit muss der spätkapitalistische Krisenprozess - die Eurokrise im Spezifischen wie die Systemkrise im Allgemeinen - als eine treibende Kraft dieser europäischen Separatismuswelle angesehen werden. Der Krisenverlauf in der Eurozone, insbesondere das deutsche Spardiktat in den südeuropäischen Krisenländern brachte eine abermalige Vertiefung der sozioökonomischen Ungleichgewichte und Abgründe innerhalb der europäischen Krisenländer mit sich, was die Absetzbewegungen innerhalb der (relativ) wohlhabenden Regionen befeuerte.

Die Krise der Nation ist somit nur Ausdruck einer fundamentalen Krise des Kapitalismus, der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die aufgrund beständiger Produktivitätsfortschritte spätestens seit der Dritten Industriellen Revolution der IT-Technologien an ihrer eigenen Hyperproduktivität erstickt - und nur noch vermittels kreditgenerierter Nachfrage eine Art Zombieleben "auf Pump" führen kann.

Clusterbildung hochproduktiver Industrie

Dieser Krisenprozess brachte nicht nur die gigantischen Schuldenberge hervor, unter denen weite Teile Europas gerade zusammenbrechen, er führte auch zur Zuspitzung der gegebenen regionalen Ungleichgewichte in vielen Staaten. Die gegenwärtige kapitalistische Systemkrise geht nämlich mit einem regionalen, flächenmäßigen "Abschmelzen" der hochproduktiven warenproduzierenden Industrie einher, die zu einer konzentrierten Clusterbildung auf relativ kleiner räumlicher Fläche übergeht.

Diese Anballungen von hochproduktiver Industrie, die sich im gnadenlosen Verdrängungswettbewerb etabliert haben, sind in globale Wertschöpfungsketten eingebunden und sie produzieren hauptsächlich für den Weltmarkt. Die ökonomische Verflechtung mit den ökonomisch abgehängten und deindustrialisierten Regionen innerhalb derselben Nation nimmt hingegen immer weiter ab.

Bayern und Baden-Württemberg bilden mit ihren avancierten sozioökonomische Struktur somit eher einen Teil der Clusterbildung rund um den Alpenraum, wo in Norditalien, Teilen Österreichs und der Schweiz wirtschaftliche Konzentrationsprozesse ablaufen - bei gleichzeitiger Deindustrialisierung in weiten Teilen Europas. Somit weisen Teile Süddeutschlands rein sozioökonomisch betrachtet größere Ähnlichkeiten mit diesen Nachbarregionen auf als etwa mit dem Ruhrpott, Mecklenburg Vorpommern oder Bremen.

Der grundlegende Widerspruch kapitalistischer Warenproduktion, bei dem das Kapital mit der Lohnarbeit seine eigene Substanz aus dem Produktionsprozess wegrationalisiert, produziert auf globaler Ebene somit immer größere Massen buchstäblich ökonomisch "überflüssiger" Menschen, wie auch postindustrielle Brachlandschafen wie das Ruhrgebiet oder die Wallonie.

Dem kontrastiert - wie ausgeführt - die Bildung von Clustern, die in globale Produktionsketten eingebettet sind und für den Weltmarkt produzieren. In diesen wenigen Regionen, die zu den vorläufigen "Gewinnern" dieses Krisenprozesses gehören, nimmt somit das Bestreben überhand, diese kostspieligen Zusammenbruchsgebiete ökonomisch "verbrannter Erde" möglichst kostengünstig vermittels einer Abspaltung loszuwerden.