Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
Eine Gruppe Schweizer Forscherinnen nahm das Problem unter die Lupe - und wurde überrascht: Erstens werden zwar vor allem Frauen, aber auch viele Männer sexuell belästigt. Zweitens wissen auch Belästiger, dass ihre Verhaltensweisen negativ sind. Drittens gibt es weder eine Opfer- noch eine Täterpersönlichkeit.
Kürzlich veröffentlichte das Nationale Forschungsprogramm Gleichstellung der Geschlechter (NFP 60) die Ergebnisse einer Studie zum Thema Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Wer belästigt wen, wie und warum?. Das Projektteam aus Franciska Krings (einer Professorin an der Universität Lausanne), der Arbeits- und Organisationspsychologin Marianne Schär Moser und der Doktorandin Audrey Mouton konstatiert, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz seit Jahrzehnten in Wissenschaft und Praxis thematisiert wird, es aber immer noch wesentliche Forschungslücken gibt.
Die Forscherinnen wollten diese Lücken schließen, zu einem besseren, wissenschaftlich abgesicherten Verständnis von sexueller Belästigung beitragen und praxisnahe Grundlagen für eine nachhaltige Präventionsarbeit ableiten. Sexuelle Belästigung wird hier entsprechend schweizerischem Recht verstanden als jedes im Arbeitskontext vorkommende Verhalten sexueller und sexistischer Natur, das von einer Seite aus als unerwünscht oder die persönliche Integrität verletzend empfunden wird.
Davon unterschieden wird "potenziell belästigendes Verhalten" - dem ist man ausgesetzt, es ist unerwünscht, aber man fühlt sich nicht unbedingt persönlich betroffen: etwa, wenn jemand einer Frau einen Schwulenwitz erzählt.
Die Forscherinnen untersuchten erstens Risiko und Verbreitung von sexueller Belästigung mit einer Befragung von 2.420 Menschen in allen drei Landesteilen und zweitens den Umgang von neun Organisationen mit sexueller Belästigung. Drittens fragten sie Betroffene nach ihrer Sicht von Ursachen und Wirkungszusammenhängen, viertens Urheber nach ihrer Sicht von Entstehungsdynamik und Auswirkungen.
Risiko und Verbreitung
Verhaltensweisen, die als sexuelle Belästigung empfunden werden können, sind überall verbreitet. Frauen berichteten häufiger von sexueller Belästigung als Männer. Meist waren ein Mann oder mehrere Männer die "Urheber" - in der Studie ist das Wort "Täter" selten - aber in gut einem Viertel der Fälle waren Männer und Frauen beteiligt, und in weniger als einem Sechstel nur Frauen.
Ein Widerspruch: Ungefähr die Hälfte der Befragten haben potenziell belästigende Verhaltensweisen erlebt - von sexueller Belästigung betroffen fühlten sich aber deutlich weniger. Das heißt in den Augen der Forscher, dass viele potenziell belästigenden Verhaltensweisen nicht als sexuelle Belästigung wahrgenommen werden.
Dies trifft vor allem auf Männer aus dem italienischsprachigen Tessin zu. "Tessiner Männer erleben es sehr häufig", sagt Marianne Schär Moser, "aber bloß eine Minderheit fühlt sich belästigt." Das liege daran, dass "Sprüche und Witze im Tessin Alltag sind, vor allem in der Gegenwart von Männern, und egal, ob gegen Frauen oder gegen Männer."
Überrascht waren die Forscherinnen davon, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer sich häufig belästigt fühlten. Beispiel Deutschschweiz: "Frauen sind dreimal häufiger betroffen, aber Männer sind eben auch betroffen; in der Deutschen Schweiz jeder zehnte Mann", sagt Frau Schär Moser.
Die Organisationen
Die neun befragten Unternehmen gehen auf unterschiedliche Art und Weise mit der Thematik um: Einige haben es kaum erlebt, sind aber trotzdem "gewappnet für das Unwahrscheinliche", andere haben Erfahrung mit derartigen Fällen und sind bewusst am Thema dran.
Zwei weitere Strategien sind in den Augen der Forscherinnen riskant: Entweder weiß man, dass es vorkommen kann, hat aber scheinbar Wichtigeres zu tun und hofft auf individuelle Lösungen; oder aber die Personalleitung weiß nichts von tatsächlich geschehenen Vorkommnissen und glaubt, alle nötigen Vorkehrungen getroffen zu haben.
Interessant ist, dass es von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich ist, was sich im konkreten Fall als Risiko- oder als Schutzfaktor gegenüber sexueller Belästigung erweisen kann. Die Forscherinnen halten immerhin fest, dass die Existenz eines Reglements kaum Bedeutung hat. Außerdem haben sich gegenseitiger Respekt und ethische Grund- und Führungsprinzipien als gute Prävention gezeigt. Schließlich sei ein sofortiges Reagieren wirkungsvoll.
Das sei Aufgabe der Vorgesetzten vor Ort. Die scheinen das aber nicht unbedingt zu wollen: Einerseits seien alle Personalleitungen der Ansicht, dass sie sofort reagieren würden. Andererseits würden die Kader potenziell belästigende Verhaltensweisen regelmäßig am Arbeitsplatz beobachten, seien sich der Problematik auch bewusst - und trotzdem "sehen insbesondere die männlichen Kader keinen Handlungsbedarf, was sexuelle Belästigung angeht."
Die Betroffenen
Die Suche nach Betroffenen war nicht einfach, man fand 38 Frauen, die bereit waren, Auskunft zu geben, aber (trotz zahlreicher und intensiver Aufrufe und Bemühungen) keinen Mann.
Einige Betroffene versuchen, sexuelle Belästigung einfach durchzustehen, andere helfen sich selber - das funktioniert, wenn der Täter einsichtig ist. Eine dritte Strategie besteht in der Suche nach Unterstützung.
Sexuelle Belästigung ist schädlich: "Viele Frauen zeigen überdauernde berufliche, private und gesundheitliche Folgen", schreiben die Forscherinnen - im Gegensatz zu den Verursachern: Ungefähr 25 Opfer gaben wegen der Vorfälle ihre Stelle auf, aber nur sechs Täter.
Die Urheber
Schließlich wurden auch Verursacher befragt - durch eine anonyme Fragebogenerhebung. 821 Beschäftigte antworteten, davon 58 Prozent Frauen. Gut zwei Drittel gaben an, dass sie in den vorausgegangenen zwölf Monaten mindestens einmal ein potenziell belästigendes Verhalten an den Tag gelegt haben, Männer mit 71 Prozent etwas mehr als Frauen mit 66 Prozent.
Vor allem handelt es sich um Witze und Sprüche, Gespräche, Gesten. Die meisten Verhaltensweisen wurden häufiger von Männern gezeigt, einen größeren Frauenanteil gab es nur bei sexuell aufreizender Kleidung/Entblößen und sexueller Erpressung. Letztere kam aber sehr selten vor.
Alle waren der Ansicht, dass sexuelle Belästigung dem Arbeitsklima schadet - Täter hielten sie für etwas weniger schädlich, aber dennoch für negativ. "Aber sie machen es trotzdem", sagt Frau Schär Moser.
Die Forscherinnen testeten unterschiedliche Erklärungsmodelle für sexuelle Belästigung. Die Persönlichkeit der Täter und die Existenz eines spezifischen Reglements sind demnach nicht so wichtig. Entscheidend sind erstens das Arbeitsklima - wenn etwa dumme Sprüche als normal gelten, werden sie auch häufiger gemacht.
Zweitens, und das betrifft Frauen als Täter: Frauen, die vor allem mit Männern zusammenarbeiten, legen häufiger potenziell belästigendes Verhalten an den Tag. Drittens zeigen jene Männer häufiger potenziell belästigendes Verhalten, die sich besonders stark mit den Männern in ihrer Gruppe identifizieren und gleichzeitig das Gefühl haben, dass Frauen Männern den Arbeitsplatz wegnehmen.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen
"Es gibt weder eine Opfer- noch eine Täterpersönlichkeit, sondern ein Unternehmensklima, das etwas zulässt", sagt Frau Schär Moser: "Viel ´Toleranz´ schadet, gegenseitiger Respekt hilft - da sind die Unternehmen in der Verantwortung."
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