Shutdown, Reduzierung der Sozialkontakte und Einhalten der sozialen Distanz

Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlergehen des Menschen - Gesichtslose und distanzierte Menschen - Teil II

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Soziale Isolation und ungewollte Einsamkeit sind generell stark gesundheitsgefährdend. Berührungen hingegen sind für Menschen jeden Alters ein lebenswichtiges Elixier, wie der erste Teil Gesichtslose und distanzierte Menschen gezeigt hat. In diesem Teil nun wollen wir uns konkret einigen zentralen Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Viruses zuwenden und deren Auswirkungen einzuschätzen versuchen.

Es muss betont werden, dass es in dieser Artikelserie in keiner Weise um die Beurteilung geht, inwiefern die früheren und aktuellen Maßnahmen richtig, zu vorsichtig oder zu extrem waren bzw. sind, sondern darum, den Fokus auf die Nebenwirkungen der Maßnahmen zu legen. Negative Folgen der Maßnahmen heißen dabei nicht automatisch in der Konsequenz, dass die Maßnahmen falsch sind. Ebensowenig würden nur geringe negative Nebenwirkungen der Maßnahmen automatisch beweisen, dass diese richtig sind.

In der hochpolarisierten Diskussion sollten binäre Denkweisen tunlichst vermieden und der differenzierte Diskurs wieder mehr Raum gewinnen. Die Kenntnis der Auswirkungen der Maßnahmen auf Körper und Geist der Menschen sollte dabei für jeden Menschen wichtig und für jede politische Abwägung zwingend erforderlich sein, wenn man eine verantwortungsvolle Politik betreiben oder Alternativen aufzeigen möchte.

I. Der Shutdown

Nachdem ab dem 22. März ein Shutdown die deutsche Bevölkerung für Wochen betroffen hatte, blieb der Regierung monatelang Zeit, alles Notwendige in die Wege zu leiten, um die konkreten Auswirkungen der Maßnahmen auf Geist und Seele der Menschen möglichst genau einzuschätzen. Gerade im Hinblick auf den jetzt erneut verhängten Shutdown sind wissenschaftliche Daten, die nicht nur die Ausbreitung des Virus, sondern auch der Nebenwirkungen der Maßnahmen möglichst genau einzuschätzen versuchen, extrem wertvoll, um eine möglichst durchdachte und abwägende Entscheidung über die Maßnahmen treffen zu können.

Bereits Anfang Juni ließ eine Nachricht jeden interessierten Menschen aufhorchen. Der Lockdown in England und Wales hatte nicht nur Leben geschützt, sondern auch ganz konkret Leben gefordert. 10.000 demenzerkrankte Menschen waren in einem Monat verstorben. 83% mehr als gewöhnlich im gleichen Zeitraum. Todesursache war jedoch nicht Covid-19, sondern die soziale Isolation. 79% der Pflegeheime berichteten in einer Umfrage, dass mangelnde soziale Kontakte eine dramatische Verschlechterung der Gesundheit und des Wohlbefindens ihrer Bewohner mit Demenz verursachten.

Vikram Patel, einer der weltweit renommiertesten Psychiater an der Harvard Medical School und einer der hundert einflussreichsten Menschen der Welt laut "Time"-Magazin, kündigte Ende August einen "Tsunami" schwerer psychischer Leiden an. Er erinnert: "Auf die Rezession von 2008, die größtenteils nur die USA betraf, folgte eine Welle von 'Verzweiflungstoten' in den USA, die durch Selbstmord und Medikamentenmissbrauch ausgelöst wurde."

Daher lautet seine Warnung: "Ohne ein hohes Maß an staatlicher Unterstützung sowohl für den Sektor der psychischen Gesundheit als auch für eine ganze Reihe anderer Sektoren stehen wir tragischerweise vor einer Wiederholung, aber vielleicht in viel größerem Ausmaß."

Studienlage

Andere Länder haben sich sehr schnell um eine wissenschaftliche Grundlage bemüht. So publizierte "The Lancet" bereits Ende Februar 2020 eine Meta-Studie, die einen Überblick über die Auswirkung von Quarantänen erstellte, um so genaue Ratschläge geben zu können, wie eine Quarantäne mit möglichst wenig Nebenwirkungen durchgeführt werden kann. Das Ergebnis:

Die meisten Studien berichteten über negative psychologische Auswirkungen einschließlich posttraumatischer Stresssymptome, Verwirrung und Wut. Zu den Stressfaktoren zählten längere Quarantänedauer, Infektionsängste, Frustration, Langeweile, unzureichende Versorgung, unzureichende Informationen, finanzielle Verluste und Stigmatisierung. Einige Forscher gehen von lang anhaltenden Auswirkungen aus.

Die gesundheitlichen Folgen der Quarantäne wurden in einer Meta-Studie belegt, die bereits im Februar der Öffentlichkeit vorgelegt und damit allen Regierungen und Gesundheitsministerien bekannt gewesen sein sollte. Soziale Isolation und Einsamkeit sind mit einem 50% erhöhten Risiko verbunden, an Demenz zu erkranken, mit einem ca. 30% erhöhten Risiko eines Zwischenfalls coronäre Arterienerkrankungen oder Schlaganfalls, und die Gesamtmortalität steigt um mehr als ein Viertel.

Eine von der WHO veröffentlichte Studie warnte nach dem Lockdown in vielen Ländern im März vor den Spätfolgen und schrieb: "Es ist wahrscheinlich, dass in naher Zukunft die psychosozialen Fachkräfte mit einer 'parallelen Pandemie' von akuten Belastungsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, emotionalen Störungen, Schlafstörungen, depressiven Syndromen und schließlich Selbstmorden konfrontiert sein werden."

Mehrere Studien belegen die Zunahme von Einsamkeit und Depressionen. Zudem verzeichnetet allein im ersten Halbjahr 2020 die KKH Kaufmännische Krankenkasse rund 80% mehr Krankmeldungen aufgrund psychischer Erkrankungen als im Vorjahreszeitraum.

Laut der Umfrage des "Cosmo"-Projekt empfanden Ende Mai mehr als 40% ihre persönliche Situation als belastend. Ein knappes Viertel fühlten sich einsam. Mehr als jeder Dritte beklagt eine geringe soziale Unterstützung. 2012 waren dies nur 17 Prozent. Eine Umfrage, der Privaten Hochschule Göttingen, offenbart, dass - unabhängig vom Alter - 5% der Deutschen angeben, schwere Symptome einer Depression zu haben. Im Vergleich zur Zeit vor Corona hat sich damit dieser Wert hiermit verfünffacht. In den USA zeigt sich, dass im Durchschnitt Depressionen nun dreimal häufiger auftreten, aber Symptome schwerer Depressionen haben sich von 0,7 auf über 5% erhöht. Damit sind deren Wahrscheinlichkeit um mehr als das Siebenfache gestiegen.

Während die Anzahl der Toten durch Suizid beispielsweise in Walnut Creek in Kalifornien, USA, zeitweise höher war als die Anzahl der Menschen, die an Covid-19 verstorben sind, ist in Deutschland kein Anstieg der Selbstmorde bisher zu verzeichnen. Allerdings ist die Zahl der Suizidversuche nicht bekannt (das Statistische Bundesamt hat hierzu aktuell erst die Zahlen von 2018 veröffentlicht).

In einer ausgesprochen wichtigen Studie, die sehr präzise die Auswirkungen des Lockdowns in Großbritannien untersuchte und auf der größten repräsentativen landesweiten Umfrage basierte, kam die Universität Glasgow zu folgenden Ergebnissen, die sie vor kurzem veröffentlichte:

Selbstmordgedanken nahmen in den ersten sechs Wochen des Lockdowns zu (jeder zehnte Mensch) (...) Depressive Symptome und Einsamkeit blieben relativ stabil, waren jedoch nachteilig beeinflusst. Jüngere Erwachsene (18-29 Jahre) berichteten häufiger über Suizidgedanken und höhere Raten von depressiven Symptomen als 30- bis 59-Jährige und über 60-Jährige, wobei die 30- bis 59-Jährigen höhere Raten als die über 60-Jährigen meldeten. Über alle drei Wellen hinweg erlebte etwa jeder vierte Befragte (26,1%) zumindest moderate Stufen depressiver Symptome. (…) Bei Personen mit niedrigerem sozioökonomischen Hintergrund war die Wahrscheinlichkeit von Selbstmordgedanken höher.

Universität Glasgow

Prof. O'Connor, der die Studie leitete, resümiert:

Während Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, wie z.B. der Lockdown, zum Schutz der allgemeinen Bevölkerung notwendig waren, wissen wir, dass die Auswirkungen von COVID-19 auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung wahrscheinlich tiefgreifend und lang anhaltend sein werden. Die Ergebnisse unserer Studie, die insbesondere die steigenden Raten von Selbstmordgedanken, vor allem bei jungen Erwachsenen, aufzeigen, sind besorgniserregend und zeigen, dass wir gegenüber dieser Risikogruppe wachsam sein müssen.

Rory O’Connor

II. Reduzierung der Sozialkontakte

Bundeskanzlerin Angela Merkel rief am 12. März dazu auf, Sozialkontakte, so weit es geht, zu vermeiden. Wenige Tage später mahnte auch der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Dieter Kempf, Sozialkontakte rigoros zu reduzieren. Die neuen Maßnahmen zur Eindämmung der zweiten Welle basieren ebenfalls auf dem zentralen Ziel der massiven Einschränkung der Sozialkontakte.

Der "Berufsverband Deutscher Psychologen und Psychologinnen" reagierte im März nur wenige Tage später mit der Einrichtung einer landesweiten Corona-Hotline und erklärte in einer Pressemitteilung:

Die Maßnahmen der Bundesregierung anlässlich der Corona-Krise und die sich täglich überschlagende Berichterstattung gehen an keinem spurlos vorbei. (…) . Diese Reduzierung der Sozialkontakte kann für den Einzelnen eine hohe Belastung bedeuten. Dazu kommt die Angst vor einer Ansteckung oder die Befürchtung, vielleicht jemanden angesteckt zu haben. Die aktuelle Situation löst in der Bevölkerung Unsicherheit und Befürchtungen aus.

BDP

Dass die Maßnahmen, unabhängig davon, inwiefern sie berechtigt sind, nicht "spurlos" an den Menschen vorüber gehen können, liegt in der Natur des Menschen begründet und kann niemanden ernsthaft überraschen, der diese auch nur ein wenig kennt. Sind die Maßnahmen doch diametral der Natur und den Bedürfnissen des Menschen zuwider.

Betrachtet man die Gruppe älterer Menschen, für die die flüchtigen Kontakte im Alltag oftmals eine wichtige psychologische Stütze und eine Hilfe gegen das Gefühl der Einsamkeit sind, auf die sie nun zu verzichten gezwungen sind, belegen Studien, die die Zunahme der Einsamkeit untersuchen. Allerdings gibt es auch hierbei eine gute Nachricht. Zumindest in den Niederlanden: "In dieser Pandemie nahm die Einsamkeit älterer Menschen zu, aber die psychische Gesundheit blieb in etwa stabil."

In Großbritannien, ein Land, das grundsätzlich massive Probleme mit Einsamkeit hat, belegt eine Studie, dass sich die Sorge bewahrheitet und der Lockdown das Phänomen der Einsamkeit und der Isolation noch deutlich verstärkt hat. Mehr als ein Viertel der Befragten fühlte sich einsam. Besonders betroffen hiervon waren allerdings jüngere Menschen. Eine Tatsache, die man gerne angesichts des evidenten Einsamkeitsproblems der älteren Generation leicht übersieht. Besonders besorgniserregend folgende Aussage der Studie: "In der vergangenen Woche gaben 49% bis 70% der Befragten an, dass sie sich manchmal oder oft isoliert, außen vor gelassen oder ohne Begleitung fühlten."

Eine sehr umfangreiche Studie in Großbritannien über die Auswirkungen des Lockdowns und der sozialen Distanzierung offenbart auch, dass eine weitere Subgruppe massiv betroffen ist, die im öffentlichen Diskurs kaum Beachtung findet: junge Frauen. Das zentrale Ergebnis der wichtigen Studie lautet:

Die psychische Gesundheit in Großbritannien hat sich infolge der Covid-19-Pandemie erheblich verschlechtert - um durchschnittlich 8,1%. Deutlich höher liegt dieser Prozentsatz für junge Erwachsene und für Frauen, d.h. Gruppen, die bereits vor der Covid-19-Pandemie einen niedrigeren Grad an psychischer Gesundheit hatten. Die Ungleichheiten im Bereich der psychischen Gesundheit wurden also durch die Pandemie verstärkt. Noch größere durchschnittliche Auswirkungen sind bei Messungen der psychischen Gesundheit zu beobachten, die die Anzahl der gemeldeten Probleme oder den Anteil der Bevölkerung erfassen, der über häufige oder schwerwiegende Probleme berichtet, die sich bei einigen Gruppen wie jungen Frauen mehr als verdoppelt haben.

Zur Lage der Kinder gibt es aus Deutschland Fakten, die nachdenklich stimmen sollten. Bei Kindern erhöhte sich das Risiko für psychische Auffälligkeiten. Vor der Krise lag dieses Risiko bereits bei etwa 18 Prozent. Während der Krise war dann fast jedes dritte Kind betroffen.

III. Soziale Distanzierung

Man solle beim Sex auf Küsse verzichten, ebenso grundsätzlich auf die Nähe zwischen beiden Gesichtern und eine Maske tragen. So lautet die dringende Warnung der Obersten Gesundheitsbeamtin Kanadas. Diese Worte zeugen von einer gewissen Weltfremdheit und laden zu einer Satire ein.

Aber unabhängig davon ist allgemein der dringende Rat zur sozialen Distanzierung, so evident er aus virologischer Sicht zweifelsohne ist, bewusst auf menschliche Nähe und Berührungen zu verzichten, eine Negierung einer ganz zentralen Seite der menschlichen Natur. Des Weiteren verweist der "Berufsverband Deutscher Psychologen und Psychologinnen" beim "social distancing" auf ein grundlegendes Problem:

Obwohl es das Bedürfnis vieler Menschen ist, in Krisen zusammenzurücken, sollen wir uns nun in "social distancing" begeben. Alle werden lernen müssen, mit dieser neuen und befremdlichen Situation umzugehen und sie zu verarbeiten.

BDP

Es kann kaum verwundern, dass das dringende Gebot des "social distancing" (dass Menschen sich also entgegen ihres Empfindens vom Mitmenschen räumlich "distanzieren") die empfundene Einsamkeit deutlich erhöht. Eine Studie, die sich auf ältere Menschen fokussierte, kommt zu dem Ergebnis: "Empfehlungen zum social distancing, um die Übertragung des SARS-CoV2-19-Virus zu reduzieren, erhöhen das Risiko der sozialen Isolation und Einsamkeit, die mit negativen Folgen wie Angst, Depression, kognitiver Verfall und Mortalität verbunden sind."

Mit der Distanzierung geht automatisch auch der Verlust an Berührungen einher. Die besondere positive Bedeutung von Berührungen für die Gesundheit des Menschen wurde bereits in Teil I dieses Artikels dargelegt. Schon vor Ausbruch der Krise haben verschiedene Wissenschaftler eine besorgniserregende Abwesenheit und Geringschätzung von Berührungen in der Gesellschaft diagnostiziert, von einer "berührungslose Gesellschaft" (Elisabeth von Thadden) gesprochen und festgestellt, dass "wir in einer Kultur leben, die von Berührungsängsten geprägt ist". (Dacher Keltner)

Bemerkenswert auch, dass mindestens jeder Dritte den Wunsch äußert, selbst häufiger berührt zu werden, und etwa die Hälfte der Deutschen bei Umfragen der Meinung ist, dass sich die Menschen viel zu wenig umarmen. Wohlgemerkt: Dies war vor Ausbruch der Krise. Berücksichtigt man diese Fakten und die fundamentale, geradezu existentielle Bedeutung von Berührungen und Nähe, dann sollten die gravierenden Auswirkungen der rigorosen Reduzierung deutlich werden. Martin Grunwald bringt es entsprechend auf den Punkt: "Ein natürlicher Bestandteil der Gruppenkommunikation war und ist die Körperinteraktion. Weniger akademisch formuliert: gegenseitige Körperberührungen - unabhängig von sexuellen Intentionen - gehören zu unserem artgerechten Umgang miteinander."

Der gebotene Verzicht auf Berührungen verursacht gravierende negative Konsequenzen für Gesundheit und Wohlbefinden. Der Mensch ist keine Maschine und ein Grundverständnis über die Natur des Menschen ist hilfreich. Gerade bei der Abschätzung und Abwägung der Maßnahmen. Nach Wissensstand des Autors gibt es derzeit keine Studien, die die Folgen der Berührungslosigkeit einzuschätzen versucht. Es wäre dringend geboten.

IV. Keine Berührungen im Gesicht

Eine scheinbar selbstverständliche Forderung zur Eindämmung des Virus besteht in dem dringenden Rat, möglichst grundsätzlich Berührungen im Gesicht zu unterlassen. Die Medien sind voll mit Ratgebern, um diesem gefährlichen "Tick" Herr zu werden und sogar eine App wurde eigens entwickelt, die den Benutzer bei der Überwachung des Impulses zu Berührungen im Gesicht zu unterstützen verspricht.

Stellvertretend für viele beobachtete die Journalistin Sibylle Anderl im März:

Wirklich und tiefgreifend verstörend ist (...) die Erfahrung, wie wenig wir uns selbst unter Kontrolle haben, oder ganz konkret: Wie oft wir uns mit den Händen ins Gesicht fassen, obwohl wir nun mittlerweile alle wissen, dass wir das aktuell unter keinen Umständen tun sollten, sofern wir das Ansteckungsrisiko minimieren wollen.

Sibylle Anderl

Sie zitiert zwei Studien, die belegen, wie oft wir uns ins Gesicht fassen, sogar Krankenhauspersonal, und schließt ihre Überlegungen mit dem logischen Ratschlag: "Auf Händewaschen allein - empfohlene Dauer: 20 bis 30 Sekunden! - kann man sich da nicht verlassen, wenn man nicht den Tag am Waschbecken verbringen will. Bleiben also Achtsamkeit und Selbstdisziplin. Und die zu trainieren, kann ja im Grunde nicht schaden. Auch wenn es sehr, sehr schwer ist."

Einmal mehr zeigt es sich aber, dass viel zu wenig über die Natur des Menschen bekannt ist und wie wichtig es sich gerade bei der Entscheidung über Maßnahmen erweist, die so zentral und direkt in das Privatleben der Menschen eingreifen, die Natur des Menschen zu kennen. Der Haptikforscher Prof. Dr. Martin Grunwald von der Universität Leipzig, der auch Autor des Standardwerks "Homo Hapticus" ist, erklärte in einer Presseerklärung am 24. März die Hintergründe zu dem scheinbar manischen Tick des Menschen, den es abzustellen gilt:

Zwischen 400- bis 800-mal am Tag berühren wir unser Gesicht und in der Regel nehmen wir von dieser Bewegung, die circa 1,3 Sekunden dauert, keine Notiz. Selbstberührungen sind also eine sehr häufige Alltagshandlung; von allen Menschen, weltweit.

Martin Grunwald

Tatsächlich handelt es sich keineswegs um einen weitverbreiteten Tick, sondern im Gegenteil, Berührungen im eigenen Gesicht sind ein zentraler Bestandteil der menschlichen Natur: Studien zeigen, "dass die Hirnaktivität vor und nach einer spontanen Selbstberührung völlig verschieden ist. Das bedeutet, eine kurze und spontane Selbstberührung verändert die Aktivität des Gehirns in bestimmten Bereichen. Wir erklären diese Veränderungen damit, dass der kurze Berührungsreiz jene Hirnaktivität verstärkt, die für eine Stabilisierung des emotionalen Zustandes und zu einer Stabilisierung des Arbeitsgedächtnisses verantwortlich ist. Selbstberührungen sind demnach der Versuch des Organismus, nach oder während einer psychischen Irritation wieder einen Zustand der psychischen Balance herzustellen."

Daher warnt Grunwald dringend ganz entgegen dem öffentlichen Tenor: "Spontane Selbstberührungen sind neurobiologische Regulationsprozesse des Organismus auf der Basis einer akuten Bedarfssituation." Stattdessen gibt er einen eigenen Rat: "Mentale Kontrollversuche sollte man also besser für das aktive und intensive Händewaschen nutzen."

Staatliche Passivität

Die massiven Schäden an Körper und Seele durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus können niemanden überraschen, der sich über die Natur des Menschen im Klaren ist. Gerade weil aber massive Nebenwirkungen zu erwarten sind und waren, ist eine möglichst genaue Kenntnis über deren Ausmaß für eine abgewogene Politik zwingend notwendig, die Verhältnismäßigkeit groß schreibt.

Eine Presseanfrage des Autors an das Bundesgesundheitsministerium, welche Studien das Ministerium bzw. die Regierung in Auftrag gegeben habe, um die Auswirkungen der Maßnahmen einschätzen zu können bzw. auf die Kenntnis welcher Studien sich bei der Entscheidung der bisherigen Maßnahmen gestützt wurde, blieb unbeantwortet. Eine vom Bundesforschungsministerium bezahlte, auf neun Monate angelegte Studie zur psychischen Gesundheit startet erst jetzt.

Leider mangelt es nicht nur an ausreichender Forschung, sondern auch an einer Gesundheitspolitik, die ganz bewusst auch die psychischen und physischen Konsequenzen der Maßnahmen in Blick nimmt und darauf reagiert, anstatt es nur bei Appellen an die Solidarität und das Durchhaltevermögen der Menschen zu belassen. Ganz in diesem Sinne hat "Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde" Anfang September eine "übergeordnete Public Health-Strategie" gefordert. Der Journalist Joachim Müller-Jung stellt in der FAZ (30. September 2020) ernüchtert fest: "Die 'dritte Welle' in der Pandemie scheint unaufhaltsam. Es ist die der psychischen Leiden. Sie trifft junge Leute genauso wie Erwachsene. Warum bleibt der Staat so passiv?"

Der dritte und letzte Teil der Artikelserie befasst sich mit den psychischen Nebenwirkungen der Schutzmaske.

Benutzte Bücher: Bartens, Werner: Berührung. Grunwald, Martin: Homo Hapticus. Keltner, Dacher: Born to be good. Thadden, Elisabeth von: Die berührungslose Gesellschaft.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen"

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