Sicherheitsrisiko Staat: Der "reine Polizeifall" Anis Amri
Vorgeschichte und Nachspiel des Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz aus der Sicht eines Parlamentariers im Untersuchungsausschuss des Bundestags
Nach dem Anschlag und während der beginnenden Aufklärung begann das, was man neudeutsch als "Blame Game" bezeichnet. Manche Behörden kümmerten sich mehr darum, sich von Schuld reinzuwaschen und mit dem Finger auf andere zu zeigen, anstatt Verantwortung für eigenes Versagen zu übernehmen.
Benjamin Strasser ist Obmann der FDP-Fraktion im Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016. Dieser Artikel ist ein Auszug aus seinem Buch "Sicherheitsrisiko Staat: Wir können uns besser gegen Terror schützen - tun es aber nicht!", das heute im Verlag Herder erscheint.
Beispielhaft möchte ich das am Verhalten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und seines damaligen Präsidenten Hans-Georg Maaßen deutlich machen. Anis Amri bewegte sich in Berlin in verschiedenen salafistischen Treffpunkten - vor allem in der Fussilet-Moschee, die sich in der Perleberger Straße 14 befand und dem Berliner Verfassungsschutz als Treffpunkt radikaler Islamisten bekannt war. Sie war eine klassische Wohnzimmermoschee. Übersichtliche Räumlichkeiten mit einem übersichtlichen Teilnehmerkreis. Wer hier hinkam, war überzeugter und radikaler Salafist.
Amri war einer von ihnen. Er ging dort ein und aus, besaß einen Schlüssel und soll sich dort auch als Prediger betätigt haben. Aufzeichnungen einer gegenüber der Eingangstür postierten Überwachungskamera zeigen Anis Amri, wie er noch am Anschlagstag die Fussilet-Moschee um 18.38 Uhr betrat und sie um 19.07 Uhr wieder verließ. Kurz vor dem Anschlag. Wen er dort traf oder was er dort genau wollte, bleibt Spekulation.
Ein halbes Jahr von V-Leuten umzingelt
Amri und die Moschee waren auf dem Schirm der Berliner Verfassungsschützer und des Berliner LKA. Wie sich nach dem Anschlag herausstellen sollte, waren sie aber nicht die einzigen beiden Behörden, die dort tätig waren. Erst durch meine Frage an die Bundesregierung im Jahr 2018 wurde offenbar, dass auch das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Quelle in der Fussilet-Moschee hatte. Anis Amri war zwar nicht das Ziel dieser Quelle, aber er war nahezu ein halbes Jahr von Spitzeln unterschiedlicher Behörden umzingelt - auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz.
Die Frage der Qualität der Führung von Vertrauenspersonen stellt sich wie beim NSU-Komplex erneut. Man hätte erwarten können, dass die Sicherheitsbehörden das im Rahmen des Quellenschutzes transparent dargestellt und erläutert hätten. Auch im Hinblick auf das Aufklärungsversprechen der Bundeskanzlerin und des Bundesinnenministers leider Fehlanzeige. Laut Zeugen des LKA Berlin gab es zumindest starke Irritationen, dass das BfV auch eine Quelle in der Fussilet gehabt habe und man nicht in Kenntnis gesetzt worden sei. Übliche Praxis sei eher, sich zumindest dezente Hinweise zu geben.
"Hochkochen der Thematik muss unterbunden werden"
Aus diesen Gründen soll es nach Medienberichten wohl auch im März 2017 zu einem Gespräch von Berlins Innensenator Andreas Geisel und seinem Staatssekretär Torsten Akmann mit BfV-Behördenchef Hans-Georg Maaßen gekommen sein. Nicht nur das Berliner LKA, auch die Beamten aus dem Hause Maaßens hatten wohl ein ungutes Bauchgefühl. Laut eines Berichts des Tagesspiegels vom 30. August 2018 notierten sie in einem Sprechzettel für Maaßen zu dem Termin über den Einsatz des V-Mannes: "Ein Öffentlichwerden des Quelleneinsatzes gilt es schon aus Quellenschutzgründen zu vermeiden" und "ein weiteres Hochkochen der Thematik muss unterbunden werden".
Quellenschutz ist ein legitimes Argument nachrichtendienstlicher Arbeit. Nur wenn V-Personen wissen, dass ihr Einsatz nicht öffentlich wird und sie keine Racheaktionen aus der Szene fürchten müssen, können der Verfassungsschutz und die Polizei überhaupt langfristig wertige Quellen anwerben.
Nicht zulässig ist aber, dass Behörden ihr Fehlverhalten hinter dem Argument des Quellenschutzes verbergen wollen. Quellenschutz ist nicht Regierungsschutz! Bei so vielen Quellen rund um Amri wäre es bei einem koordinierten Vorgehen der im GTAZ vereinten Sicherheitsbehörden zumindest einen Versuch wert gewesen, weitere Erkenntnisse zu Amri zu generieren. Das wussten auch das BfV und das Berliner LKA. Ihnen muss klar sein, dass Anis Amri niemals hätte "durchrutschen" dürfen. Dazu war er zu gefährlich, zu agil, zu konspirativ und zu gut in der salafistischen Szene Europas vernetzt.
Ein ungehörter Schlüsselzeuge
Licht in dieses Dunkel könnte unter anderem der Beamte des Bundesamts für Verfassungsschutz bringen, der die Quelle in der Fussilet-Moschee geführt hat. Denn er könnte dem Untersuchungsausschuss sagen, welche Aufträge er an den V-Mann in der Fussilet-Moschee gab und welche Infos die Quelle geliefert hat. Warum hat die Quelle Amri bei Lichtbildvorlagen deutlich vor dem Anschlag nicht, ihn aber nach dem 19. Dezember 2016 bei einer erneuten Vorlage als "Anis aus der Fussilet" erkannt?
Hat man versucht die Quelle an Amri heranzuführen, wenn er ursprünglich nicht auf ihn angesetzt war? Falls ja, welche Erkenntnisse konnten generiert werden? Welche Hinweise hat die Quelle nach dem Anschlag geliefert? Fragen über Fragen, die bisher aufgrund des Blockadeverhaltens der Bundesregierung offen bleiben. Der Beamte des BfV könnte auch dem Eindruck der Vertreterinnen und Vertreter der demokratischen Opposition im Untersuchungsausschuss entgegenwirken, dass Quellen vom Verfassungsschutz nicht konsequent geführt würden.
Für mich handelt es sich hier um einen Schlüsselzeugen, weil er uns sagen könnte, wie nah der Verfassungsschutz wirklich an Anis Amri dran war und wie es um die Quellenführung nach den gesetzgeberischen Korrekturen aufgrund des NSU-Desasters wirklich bestellt ist. Fragen, die bisher aufgrund des Blockadeverhaltens der Bundesregierung offenbleiben.
Aufklärung wird offensichtlich immer dann schwierig, wenn unangenehme Fragen nach Verantwortung von Sicherheitsbehörden gestellt werden könnten. Denn die Befragung des V-Mann-Führers als ein wichtiger Zeuge wird dem Untersuchungsausschuss des Bundestages von der Bundesregierung verweigert - trotz eines einstimmigen Beweisbeschlusses aller Fraktionen im Ausschuss. Wir teilen nicht die Rechtsauffassung der Bundesregierung, die sich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu V-Leuten im Umfeld des Oktoberfestattentats im Jahr 1980 beruft.
Es geht hier eben nicht um die Vernehmung oder den Schutz von V-Leuten, sondern um eine Vernehmung eines Beamten einer Bundesbehörde. Deshalb haben wir Freie Demokraten im Jahr 2018 gemeinsam mit Linken und Grünen vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Leider hat die Mehrheit der Verfassungsrichter dieser Klage mit Beschluss vom 16. Dezember 2020 nicht stattgegeben. Sie sahen im konkreten Fall die Geheimhaltungsinteressen der Regierung als höher zu gewichten als das parlamentarische Aufklärungsinteresse.
Bemerkenswert ist aber das Sondervotum des Verfassungsrichters Peter Müller, der sich als Einziger der sieben Verfassungsrichter für einen Anspruch des Untersuchungsausschusses auf Vernehmung des Beamten ausgesprochen hat. Er schreibt unter anderem in seinem Sondervotum:
Die Auffassung der Senatsmehrheit führt zu einem weit-gehenden Ausfall der parlamentarischen Kontrolle des nachrichtendienstlichen Einsatzes von V-Personen in gewaltbereiten klandestinen Milieus und damit zur Entstehung eines nahezu kontrollfreien Raumes. Dies ist mit dem von der Senatsmehrheit selbst betonten Gebot der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen parlamentarischem Kontroll- und staatlichem Geheimhaltungsinteresse nicht vereinbar.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts könnte sich also als Pyrrhussieg für die Bundesregierung erweisen. Seit Jahren weigern sich Abgeordnete von CDU, CSU und SPD trotz der Erfahrungen mit dem NSU-Staatsversagen die Nachrichtendienste stärker an die parlamentarische Kandare zu nehmen.
Kontrollfreie Räume wie beim V-Personenwesen entstehen zu lassen, kann aber auch nicht im Interesse dieser Kolleginnen und Kollegen sein. Durch den Beschluss hat diese Frage, wie Verfassungsrichter Müller eindeutig feststellt, an Brisanz gewonnen. Lassen Sie mich noch einmal deutlich machen: Wo Menschen arbeiten, können Fehler passieren. Fehler zuzugeben ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Dazu braucht es aber eine offensive Fehlerkultur in den Sicherheitsbehörden und eine Kontrolle, die wirkt.
Nach drei Jahren Untersuchungsausschuss muss man leider feststellen, dass es mit der Fehlerkultur in den Behörden noch nicht weit her ist. Im Fall Anis Amri sind viele Fehler passiert. Ich will nicht behaupten, jeder dieser Fehler hätte System gehabt. Aber für mich wurde, je länger dieser Untersuchungsausschuss dauerte, immer klarer: Strukturelle Mängel im Informationsaustausch und in der Zusammenarbeit im föderalen Verbund sind vorhanden und nicht behoben. Das können die Sicherheitsbehörden durch vertrauensvolle und kollegiale Zusammenarbeit nur zu einem Teil überbrücken. Die Systemfrage allerdings muss die Politik beantworten.
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