"Sie töten uns! Diese Teufel killen unsere Träume!"

Seite 3: "Die Welt macht uns depressiv, geben wir der Welt unsere Traurigkeit und unsere Wut zurück"

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Aber was lässt Dich hoffen, wenn Du in Rio bist? Außer der Samba in der Sonne?

Renata Avila Pinto: Der Stolz der Wütenden, ihr immerwährender Kampf, der hoffentlich immer erfolgreich ohne Verluste und psychische Traumata enden wird. Jeden Tag auf's Neue, das fängt doch schon morgens mit den Brotpreisen im Supermarkt an. Ihre Wut inspiriert mich, auch meine Wut mit Freude weiterzutragen. Soll ich rufen "Victoria siempre!", haha (lacht) …

Wie siehst Du die Entwicklungen in Rio de Janeiro und Brasilien in den letzten Jahren?

Renata Avila Pinto: Es ist einfach furchtbar, zum Heulen, obwohl wir nicht weinen sollten. EEs sind doch schreckliche Resultate, die wir jetzt dort sehen als Ergebnis von alldem, was einige diesem wunderschönen Land in den letzten Jahren angetan haben, oder nicht? Aber ich hoffe und hoffe und hoffe … auf Frauen wie Carolina zum Beispiel.

Carolina ist bekennende Marxistin und sitzt für den Traditionsstaat Minas Gerais im nationalen Parlament. Sogar das alles bestimmende Hauptmedium Brasiliens, GloboTv, zählt sie zu den einflussreichsten Personen Brasiliens.

Renata Avila Pinto: Sie ist wundervoll. Carolina steht für das, was wir alle sein sollten, was die Progressive Internationale sein will, wie die Welt sein muss: Internationalistisch! Etwas anderes geht nicht. Ist langweilig. Wir brauchen Menschen wie sie - überall auf der Welt. Verzweifelt, aber mutig. Traurig, aber freundlich. Die Welt macht uns depressiv, geben wir der Welt unsere Traurigkeit und unsere Wut zurück. Zeigen wir unsere Schmerzen und unser Leid. Niemand darf uns das antun, was uns angetan wird. Weißt Du, man muss an Träume glauben. Carolina steht für den Kampf der Ausgebeuteten, der Verlorenen. Und ich lerne eines von ihr: Gib nie auf! Nie!

Aber die Welt scheint doch in viele Teile zu zerfallen. Separation, Segregation, Nord gegen Süd? Oben gegen unten? Mitte gegen oben und unten? Stadt gegen Land? Oder irre ich mich, Renata?

Renata Avila Pinto: Hmm, ja … Ich befürchte … Ach, ich weiß auch nicht … (lacht) … Was soll ich jetzt nur sagen? Solche Beobachtungen sollten uns alle nur zu einem Schluss kommen lassen: It‘s a urgent call to action. Als Menschen, die wir sind, sollten wir uns immer wieder fragen: Was willst Du eigentlich? Was sind die Ziele? Welche Perspektiven hast Du? Wie willst Du leben?

"Das ist die Welt, in der wir leben: Leiden und Sterben!"

Renata Avila Pinto: Was natürlich begrenzt ist durch die Behinderungen durch die Gesellschaft. Hafenstädte waren ja immer schon Horte der Begegnung, des Neuen, der sozialen Revolutionen, der sexuellen Aufklärung … ob Alexandria als "Braut des Meeres", Dschidda, Napoli, Hamburg, Tel Aviv, Shanghai, Kalifornien, NYC, Rio, das jüdische Odessa, Mumbai, Beirut, Marseille, Barcelona, Athen. Es scheint, als lebe dort der eine, liberale Teil der Welt. Wie will denn aber die PI auch andere Leute erreichen, die weder "links" noch politisch interessiert sind, z.B. im Osten Russlands oder Rumäniens?

We have to open this space, wir alle müssen experimentierfreudiger werden. Wir auch. Wir alle. Und auch Menschen, die sich noch nie mit Politik beschäftigt haben, sollten sich fragen: Warum haben einige wenige sehr viel, wenige viel und sehr, sehr viele fast gar nichts. Ich hoffe, es wird passieren. EEs geht um Impulse, um Wahrnehmungen, um die Überwindung der Enge. In jeder Weise, gedanklich, finanziell, sozial, städtebaulich, Grenzen betreffend. Niemand darf verharren, wir nicht, andere sollten es auch nicht, Leben ist lebendig. Was niemand braucht, ist unfreiwillige Isolation, ob soziale Isolation, gedankliche oder in den Knästen ...

Du sprichst auch Julian Assange an, der lange in der Botschaft Ecuadors in London politisches Asyl fand. In Südamerika hat sich in den letzten Jahren viel getan: eine Rochade im einst hoffnungsvollen Venezuela, Verarmung, Aufstände und sinnlose Tote in Chile, parafaschistischer Militärputsch in Bolivien. Wie schätzt Du die Situation im schönen Bolivien ein?

Renata Avila Pinto: So etwas dürfen wir nicht erlauben. Sie töten uns! Diese Teufel killen unsere Träume, unseren Reichtum, unser Leben. Das ist wirklich parafaschistisch, wenn nicht schon faschistisch. Aber es wäre falsch, zu glauben, nur Blei aus Gewehren könnte töten, auch Blei im Grundwasser tötet. Killed by circumstances, das ist die Welt, in der wir leben, leiden und sterben: Die Lebensumstände, die die Gesellschaft zu verantworten hat, sie töten uns. Aber, ja, auch in Bolivien sehe ich Hoffnung bei einer selbstbewussten Jugend, die ihre materiellen Rechte einfordert. Und in Guatemala rede ich von Vicenta Jeronimo, einer großartigen Frau und Politikerin, sie ist Mitglied des dortigen Parlamentes. Ich mag kluge Frauen, die sich für andere einsetzen und anderen helfen - im Kleinen wie im Großen.

Sie ist eine Maya?

Renata Avila Pinto: Ja, eine "echte" Maya. Und ja, die Situation in den einzelnen südamerikanischen Ländern ist wirklich sehr anders, aber doch, eine große Gemeinsamkeit gibt es: Die Unterdrückung der Indigenen. Das ist einfach nach wie vor so …

… in Bolivien sogar wieder extrem verstärkt, man behandelt sie fast wie die Juden in Nazi-Deutschland, sie haben nicht alle Bürgerrechte …

Renata Avila Pinto: … ja, es ist grausam. Es gibt Anklagen ohne Grund, Verurteilungen ohne richtige Anklage. Das hat mit Justiz doch überhaupt nichts mehr zu tun. Bolivien ist jetzt kein Rechtsstaat mehr. Es eint leider fast alle Nativen überall auf der Welt: Sie werden nicht als vollwertige Menschen betrachtet. Unglaublich! Immer noch. Tja, und wohl nicht zufällig ist die Todesrate von Covid-19 am allerhöchsten bei der community der Navajo in den USA. Es sind die Umstände, die töten, die Folgen der Armut. Nicht die Krankheiten an sich, welche bekämpfbar wären.

In Guatemala, Honduras und El Salvador beherrschen Jugend-Gangs tatsächlich die Straßen, dagegen ist Neukölln ein Witz. Sie leben nach dem Motto Roberto Savianos: "Lieber tot sein als arm". Meinst Du, es wird irgendwann gelingen, sie vor dem Tod zu bewahren? Sie hatten nie irgendeine Chance im Leben.

Renata Avila Pinto: Ich denke, es kann gelingen. Ich denke, fast alles kann gelingen. Die politischen Strukturen in diesen Ländern müssen wirklich komplett umgewälzt werden. Und wer profitiert denn von der Bewaffnung? Wenn es politisch gewollt ist, Menschen aller Chancen im Leben zu berauben, dann muss man sich nicht wundern, wenn diese irgendwann anderen den Tod bringen. Wenn diese Gesellschaften dort und wenn auch der Rest der Welt das weiter ignoriert, dann wird es noch stärker explodieren irgendwann.

Niemand lebt alleine auf der Welt und alle werden irgendwann die Folgen spüren, wenn Einzelne ausgegrenzt werden. Warum sind wir oft zu feige, ganz neue Vorstellungen vom Leben zu entwickeln? Bei der Progressiven Internationalen wollen wir das tun: Neue Pläne, ganz neue Ansätze, bisher Ungedachtes einfach einmal in Erwägung ziehen - fern ideologischer Grenzen. Wir haben zwar eine Vorstellung davon, wie diese Welt besser sein könnte, aber kein Plan ist pefekt. Ja, und das wollen wir kultivieren. Ich hoffe, das wird unser Vorteil.

Die Todeszahlen unter den Ärmsten in den USA sind mehr als schockierend. Wer wird nach Deiner Meinung der nächste US-Präsident?

Renata Avila Pinto: Tja, ich befürchte, naja, vermutlich wieder Trump.

"Der Bernie-Effekt ist nicht tot"

Was war mit Bernie Sanders los? Um ein Haar wäre er der Nachfolger Trumps geworden?

Renata Avila Pinto: Bernie is great! Es war bestimmt nicht sein Fehler, so, so viele junge Leute standen hinter ihm. Und das ist für mich uns ein politisches Zeichen, dass wir richtig liegen, dass es weitergehen muss, das ist ein Signal für unseren jetzigen neuen Launch der Progressiven Internationalen.

Der sogenannte "Bernie effect" ist nicht tot, im Gegenteil, er prangerte all die Ungerechtigkeiten an, und jetzt fangen wir an, sie so richtig zu bekämpfen. Und ja, die Situation in den USA ist für mich ein Symptom einer "kranken" Gesellschaft, einer "sick society". Es geht um Angst, uneingestandene Angst. In den USA stimmt sehr viel nicht. Dort kommt aufgrund der Diversitäten zwischen den Bundesstaaten eine zusätzliche Komplexität hinzu, denke ich. All das Hassreden, das ist doch grauenhaft. Die Situation ist ja auch ein Spiegelbild dafür, ein sehr freundlicher Bundesstaat, aber die sozialen Widersprüche, alles verschärft sich. Es ist so schade, die Situation, in der das ganze Land ist. Aber auch in Großbritannien zum Beispiel: Also, dort hat man nicht mal mehr den Eindruck, dass die Bevölkerung die Politiker irgendwie interessiert, die medizinische Versorgung ist katastrophal. Und nun das Ergebnis: Tote, Tote, Tote.

Aber ein Problem kann man mittlerweile in vielen Ländern beobachten, leider: Die "Rules of Law", sie gelten einfach nicht mehr in der Rechtspraxis. Eine schreckliche Rückwärtsentwicklung in die Zeit vor das Recht. Die Staatsgewalten werden faktisch außer Kraft gesetzt. Das Ergebnis ist die unmenschliche Behandlung eigentlich aller Ausgegrenzten, egal, aus welchem Grund sie ausgegrenzt werden. Diese Entwicklung ist wirklich neu. Schockierend! Beunruhigend! Verstörend! Nicht nur juristisch. Menschlich.

Was bewegt Dich sonst noch menschlich?

Renata Avila Pinto: Naja, klar, die sozialen Auswirkungen der Klimakrise. Es geht nicht um blöde Streitereien, wer Recht hat. Und was mich daran vor allem sehr stört, ist die völlig mangelnde Synchronizität der verschiedensten Maßnahmen global. Das ist doch alles überhaupt nicht aufeinander abgestimmt. Also, so geht das nicht. Was im Mittelpunkt der Klimapolitik stehen sollte, das ist auch die Veränderung der Arbeitswelt, die Digitalisierung, der Rechte der Arbeiter und der Ausgegrenzten. Es wird alle Arbeitnehmer treffen, in Schweden, in Frankreich, in Israel, gleich wo. Die Highlights der Zerstörung kommen erst noch. Das ist meine und unsere Befürchtung.

Haben die Politiker denn überhaupt noch nicht begriffen, um was es hier geht? Arbeit wird nie wieder sein, was sie war. Unser Vorschlag ist deshalb eine wirkliche Reform: Der Green New Deal for Europe. Wir müssen uns vom alten Begriff der Arbeit und der Lohnarbeit befreien und etwas Neues an dessen Stelle setzen, etwas Menschenwürdiges. Different layers of complexity …

… das hört sich nicht nur mit hispanischem Akzent diskussionswürdig an, verschiedene Schichten?

Renata Avila Pinto: Ja, damit meine ich die Schichten der verschiedenen Formen der Ausgrenzung, Entrechtung und Verunwürdigung von menschlichem Leben. Die klugen Teile der Klimabewegung sollten aber das alles zusammendenken und ihre Handlungen danach ausrichten, auch ihre größeren Aktionen. Es geht nicht nur um einen Punkt, nicht nur um die Klimakrise. Aber wenn ich mir das alles so ansehe, was aus der Klimaproblematik geworden ist, dann kann ich nur leise sagen: Ich habe Angst!

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