Siedepunkt unbekannt

Syrien: Nach der Explosion - vor der Explosion?

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Nach der "Zedernrevolution" äußerlich gedemütigt und innerlich seit langem am Boden, steigt der Frustrationspegel der Syrer. Ob und was daraus resultieren kann, wissen auch interne Beobachter schwer einzuschätzen. Klar scheint nur eines: Das Regime ist stark.

Damaskus

Von Um- und Aufbruch ist auf Damaskus' Strassen wenig zu spüren: Die Menschen scheinen eher vom Verkehr, denn von der hohen Politik platt gewalzt. Auf den ersten Blick kein Unterschied zur Zeit vor "Zedernrevolution" und Irak-Krieg. Kratzt man allerdings ein wenig an der Oberfläche, brechen Frustration und Panik hervor. Und eine losere Zunge. So der Taxifahrer, der inmitten des höllischen Damaszener Getutes die staatliche Radiosendung zum Thema "Truppenrückzug aus dem Libanon" verfolgt und unvermutet loswettert: "Wir haben unser Gesicht gründlich verloren, und das alles dank dieser..." Regierung? Soweit bringt er es dann doch nicht zu Ende.

Überwogen vor drei Monaten noch Schock und angekratztes Nationalgefühl über die Welle an Schadenfreude und Rassismus, die Syrien aus dem Libanon überrollte, so ist momentan eher fingerklopfendes Warten angesagt. "Denn was die Libanesen vollbrachten, brachte auch die Syrer auf den theoretischen Geschmack", erklärt der zwischen Damaskus und Beirut pendelnde Intellektuelle Ali al-Atassi. Dass es deshalb zu einem Dominoeffekt kommt, bezweifelt der Schriftsteller und Filmemacher allerdings. "Die Menschen stehen kurz vor der Explosion", erklärt Marwan al-Kabalan vom "Center for Strategic Studies" in Damaskus, "aber nach 42 Jahren Knute, ist ihre Energie, sich zu wehren, gleich Null." "Das", kontert Frauenrechtlerin Mia al-Rahabi, "hat man von den Sudanesen unter Oberst Jaa'fer al-Numeri auch behauptet und dann wurde das Regime über Nacht gestürzt".

"Syrischer Frühling" nicht dank, sondern wegen Bashar

Wo Wunschdenken aufhört und Realität anfängt, ist dieser Tage schwer auszumachen. Fakt ist, die Leute reden mehr. Vom Intellektuellen bis zum Gemüsemann. Wenngleich noch die Angst mitschwingt, wieder in eine "Falle" zu tappen, wie seinerzeit, kurz nach Bashar al-Assads Amtsantritt, als der "Syrische Frühling" abrupt eingefroren wurde.

Als 'Falle' nehmen es die Leute wahr, obwohl es vom Regime keineswegs als solche intendiert war. Es war selbst überrascht, dass die plötzliche Öffnung in diesem Ausmaß genützt wurde.

Marwan al-Kabalan

Eine Öffnung, die entgegen aller Geschichtsschreibungen nie vom Regime ausgegangen war, wie ein Intellektueller, der von Anfang an den Aufbruch verfolgte, klarstellt. Der Unterzeichner der "Petition der 99" aus dem Jahr 2000 will heute ungenannt bleiben, weist aber nachdrücklich darauf hin, dass der Auslöser nicht Bashars Reformbereitschaft, sondern die Art gewesen sei, wie er an die Macht gelangte: Die plötzliche Verfassungsänderung, die das Mindestalter für syrische Präsidenten auf Bashars damaliges Alter flugs herabsetzte, sei ein Schlag ins Gesicht aller Oppositionellen gewesen. Der Start ihrer Diskussionsrunden war somit ein Aufschrei gegen die aufoktroyierte Fortsetzung des Assadschen Erbes. "Und das Regime ließ sie eine Weile reden, damit es so aussah, als sei Bashar doch nicht nur der Sohn seines Vaters", bestätigt Shaaban Aboud, Syrienkorrespondent der libanesischen Tageszeitung Al-Nahar.

Volk k.o.

Die Schraube, die infolge wieder angezogen wurde, sitzt fest - aber nicht so fest, wie unter Hafez al-Assad. Sein Sohn, der nach allgemeiner Überzeugung eindeutig der führende Kopf ist, gilt als unglückselige Figur ohne Konzept. Ergo traut sich das Volk mehr. Große Worte wie "Rechtsstaatlichkeit" und "Demokratie" ertönen dabei seltener als der Ruf nach besseren Lebensbedingungen.

Die breite Masse ist nicht politisiert. Aber ein besseres Leben einzuklagen, heißt politisch zu werden. Ohne Transparenz, zuverlässige Strukturen, ein unbestechliches Rechtswesen und Pressefreiheit funktioniert Marktwirtschaft eben nicht. Den Beweis dafür erleben wir seit fünf Jahren.

Marwan al-Kabalan

Wie ein rotes Tuch wirken denn auch die Fingerzeige des Regimes auf seine marktwirtschaftlichen Neuerungen oder auf seine jüngste Wunderwaffe - den 41-jährigen Abdallah Dardari, Vorsitzender der Planungskommission für wirtschaftliche Reformen. "Was habe ich als Bürgerin bitteschön von Dardari?" entgegnet Mia al-Rahabi. "Die Preise steigen jeden Monat, inzwischen weiß kaum einer mehr, wie er überleben soll." Das monatliche Einkommen der Universitätsprofessorin liegt bei 8.500 syrischen Pfund - das Pfund Fleisch kostet 500 syrische Pfund.

Hoffen auf die USA

Kein Wunder, dass die Blicke immer kräftiger gen USA schielen. Denn, so die allgemeine Übereinstimmung: Ohne mächtigen Druck keine Veränderung. Langfristig erhoffen sich die wenigsten Intellektuellen von Washington eine echte Demokratie. Vielmehr befürchten sie, dass nur ein US-gerecht geschnitztes Marionettenregime folgt. Dennoch: Fürs Erste ist jeder Eingriff willkommen - bis auf einen militärischen, aber der wird ohnehin ausgeschlossen. Zu groß die strategischen und logistischen Probleme der USA im Irak, zu groß auch ihr Bedarf an etwas Vorzeigbaren, einer arabischen Ukraine. Den Spekulationsreigen über ihr Vorgehen in Syrien führen daher Raketenangriffe auf "sensible Landeszonen" und Sanktionen an - "sofern sich Europa beteiligt", betont Kabalan. "Der Handel mit den USA ist irrelevant. Mit Europa hingegen beträgt er 1 Milliarde $ pro Jahr". Am wahrscheinlichsten scheint jedoch die neue Strategie der Bush-Administration der "Constructive Instability", die die Diktaturspitze von innen isolieren und aushöhlen will. Dazu gehört, wie Aboud vermutet, die Annäherung der Bush-Administration an Regimemitglieder und Oppositionelle - oder umgekehrt. Welchen Hintergrund diese Regimemitglieder und Oppositionellen haben, sei dahingestellt. Die Vorstellungspalette reicht von alawitischen Altgardisten über unterjochte Kurden bis zu baathistischen Generälen, denen der schmachvolle syrische Truppenabzug als Kröte im Hals steckt.

Das Regime verkennt die Gefahr

Eine Annäherung, die destabilisieren will - und voraussichtlich wird. Ob das ausreicht, das Regime in absehbarer Zeit zu stürzen, ist das große Fragezeichen.

Die Baath-Partei ist eine riesige, seit Jahrzehnten funktionierende Maschinerie, die sämtliche Landesressourcen kontrolliert - und nie jemandem die Luft ließ, sich zu organisieren. Intern existiert keine Kraft außer ihr. Sie ist unglaublich stark, dass sie sich deshalb für unangreifbar hält. Jedenfalls bezweifle ich, dass sie die externe Gefahr, die jetzt auf sie zusteuert, als solche überhaupt wahrnimmt.

Shaaban Aboud, al-Nahar

Inwiefern diese Realitätsferne gegriffen hat, wird sich nicht zuletzt in dem für Anfang Juni anberaumten Kongress der Baath-Partei zeigen. In der Bevölkerung, die sich laut Kabalan nicht länger "mit Kleinvieh begnügt, sondern den großen Wurf erwartet", wurden die Erwartungen in punkto Reformen hoch geschraubt. Hoch genug, um bitterlich einzustürzen. Entsprechend skeptisch blicken daher Oppositionelle dem Kongress entgegen, doch erwarten sie ihn nicht mit weniger Spannung. Weil es ein Termin ist, auf den auch die Augen der USA gerichtet sind. Und somit etwas, das dem syrischen Regime bewusst machen sollte, dass die Uhr tatsächlich tick-tack macht.