"Signifikante Erhöhung des Gebrauchs von Schusswaffen"
Frankreich: Internes Papier zeigt an, dass Polizisten seit Anfang des Jahres schneller zur Waffe greifen und schießen
Der Messer-Angreifer, der am Sonntag, den 1.Oktober, am Bahnhof in Marseille zwei Frauen tötete, wurde, sobald die Sicherheitskräfte alarmiert waren, sehr schnell getötet (vgl. Messeranschlag in Marseille). Geschossen hatten Fremdenlegionäre, wie sich bald herausstellte. Sie waren im Rahmen der Operation Sentinelle (zu deutsch: Wache bzw. Wachposten) am Bahnhof präsent.
Zum Medienecho auf die schnelle Reaktion gehörte auch eine Äußerung der Sprecherin der Police nationale, Camille Chaize, die darauf hinwies, dass Polizisten seit einiger Zeit so ausgebildet würden, dass sie in solchen Fällen schnell und eigenständig handeln, ohne Spezialtruppen abzuwarten.
Angesichts der Ereignisse in Marseille und der Diskussionen, die es Anfang des Jahres über ein Gesetz gab, das den Schusswaffengebrauch der Polizei neu regelte, war der Gedanke naheliegend, dass Camille Chaizes Aussage darauf hinausläuft, dass Polizisten in Frankreich nun üben, schneller zur Waffe zu greifen und zu schießen.
Grundgedanke der Reform der Regeln zum Schusswaffengebrauch war es, die Regeln der Sicherheitskräfte einander anzugleichen. Die Polizisten sollten wie die Soldaten, die an der Operation Sentinelle teilnehmen, genauso schnell auf eine terroristische Bedrohung reagieren können und daher denselben Regeln unterworfen sein. Bis dato war es so, dass das restriktivere Regelwerk der Polizisten zum Schusswaffengebrauch nahelegte, etwa im Umfeld eines Terroranschlags oder eines möglichen Terroranschlags besser auf die Spezialtruppen zu warten.
Das neue Gesetz zu öffentlichen Sicherheit wurde Anfang des Jahres verabschiedet. Seither ist es Polizisten zum Beispiel möglich, das Feuer auf ein flüchtendes Auto zu eröffnen, wenn sie es nicht anders anhalten können und das Auto eine Bedrohung darstellt. So berichtete es Le Monde am Freitag, den 13. Oktober.
"Das Auto, das auf sie zufährt, ist nicht mehr dasselbe wie gestern"
"Das Auto, das auf sie zufährt, ist nicht mehr dasselbe wie gestern", wird in dem Bericht der Vertreter einer Polizeigewerkschaft zitiert. Frédéric Lagache erklärte damit, dass im ersten halben Jahr seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes zum Gebrauch von Schusswaffen durch die Polizei 95 Mal eine Waffe im Zusammenhang mit einer Bedrohung durch Autos benutzt wurde und Schüsse abgegeben wurden.
Insgesamt wurde in diesem Zeitraum 192 Mal ein Schusswaffengebrauch notiert, so Le Monde. Die Fälle der Bedrohung durch ein Auto machen also etwa die Hälfte aus. Auffällig ist auch, dass im selben Zeitraum im vergangenen Jahr nur 116 Mal ein Schusswaffengebrauch registriert wurde. Das ist eine Steigerung von 65 Prozent, so die Zeitung, was nahelegt, dass dies mit den Erleichterungen des Schusswaffengebrauchs in Zusammenhang steht.
Die Zahlen, so Le Monde, sind nicht offiziell. Bei der jährlichen Pressekonferenz der Aufsichtsbehörde der Polizei (l'Inspection générale de la police nationale - "police de la police") habe man Ende September zum Thema verkündet, dass es "nichts anzuzeigen" gebe. Danach habe die Zeitung wie auch der Sender TF1 Kenntnis von einem internen Papier erlangt, in dem die IGPN zu einem anderen Ergebnis kommt, nämlich "einer signifikanten Erhöhung des Gebrauchs von Schusswaffen" in den ersten sechs Monaten des Jahres.
Die auffallendste Zunahme gab es bei den erklärten Warnschüssen. Sie steigerte sich von 2 auf 19. Das sind Zahlen, die galaktisch weit von US-Verhältnissen entfernt sind (und auch von der astromisch hohen Zahl von Schüssen, die die Eliteeinheiten beim Entern von Räumen, in die sich Terroristen verschanzt hatten, abgegeben wurden). Aber in Frankreich haben diese relativ niedrigen Zahlen der "erklärten" Warnschüsse ein anderes Gewicht, wie das Verbergen dieser Zahlen vor der Öffentlichkeit anzeigt.
Die Polizeiaufsichtsbehörde erklärt die Zunahme der Warnschüsse damit, dass die Aggressionen gegen Polizisten zugenommen hätten. Sorgen bereitet der Polizeiaufsicht darüber hinaus, dass die Zahl der Schüsse, "die sich unwillkürlich gelöst haben" (i.O. tirs accidentels) ebenfalls markant gestiegen ist, auf 23 im ersten Halbjahr 2017 gegenüber 10 im Vorjahreszeitraum.
Erklärt wird dies damit, dass die Polizisten mit den Gewehren, die sie nun sehr viel häufiger als früher beim Einsatz dabei haben, namentlich das G 36 von Heckler und Koch, nicht gut vertraut sind. Die Unfälle mit dem Gewehr würden zeigen, dass die Polizisten eine tatsächliche Unkenntnis der Waffe haben, wird die IGPN zitiert.