Simple Wahrheit oder Deep Fake?

Bulgariens Ministerpräsidenten Boiko Borissov auf der Pressekonferenz nach Veröffentlichung der Fotos. Screenshot von YouTube-Video

Kompromittierende Abhöraufnahmen und Fotos aus seinem Schlafzimmer bringen Bulgariens Ministerpräsidenten Boiko Borissov in Bedrängnis

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Erlebt Bulgarien derzeit seine zweie Welle der Coronavirus-Epidemie oder den Gipfel der ersten? Darüber lässt sich angesichts insgesamt niedriger Infektions- und Todesraten trefflich streiten. Unstrittig aber ist der während des Corona-Ausnahmezustands herrschende Burgfrieden längst wieder alter Normalität gewichen. Sie ist geprägt von einer raschen Abfolge bizarrer Korruptionsaffären und erbarmungsloser politischer Konfrontationen.

"Wir haben das Aufnehmen mit Smartphones zu einer Art Nationalsport gemacht", kommentierte Generalstaatsanwalt Ivan Geschev die Publikation von acht Fotos aus dem Schlafzimmer von Ministerpräsident Boiko Borissov durch das radikaloppositionelle Onlinemedium Afera.bg am vergangenen Mittwoch.

Der Foto-Leak führte zu einem bizarren Nachbarschaftsstreit zwischen Regierungschef Borissov und Staatspräsident Rumen Radev. Er skandalisiert die bulgarische Öffentlichkeit in einem solchen Maße, dass darüber in den Hintergrund tritt, dass das Balkanland mit bis zu 132 Infizierten am Tag gerade die Spitzenwerte seiner Coronavirus-Epidemie verzeichnet.

Zwei Villen stehen auf dem weitläufigen Gelände der Residenz des früheren kommunistischen Staats- und Parteichefs Todor Schivkov in Sofias Nobelvorort Bojana. In der Villa Sefkoja residiert Premier Borissov, in der benachbarten Villa Kalina Staatsoberhaupt Radev. "Der Präsident erlaubt sich, eine Drohne steigen zu lassen, um mich zu filmen. Vom Staatsschutz haben sie mir gesagt, dass die Chinesen ihm die Drohne geschenkt haben", erklärte der Ministerpräsident auf einer unverzüglich einberufenen Pressekonferenz nach Erscheinen der Fotos aus seinem Schlafzimmer. Einige Dutzend Minister und Parteigänger stärkten ihm dabei durch Applaus den Rücken.

Eine Pistole auf dem Nachtisch, in der halb geöffneten Schublade Bündel 500 €-Scheine und Goldbarren

"Ich habe Flugzeuge geflogen und auch Drohnen", kommentierte Luftwaffengeneral a. D. Radev den Besitz einer Drohne. "Meine Drohne ist so gut, dass sie in Schlafzimmer einzudringen vermag, Aufzeichnungen erstellt, Schubladen öffnet und Euros in sie hineinstopft", ironisierte er die Bildinhalte der geleakten Fotos. Sie zeigen den halbnackten Regierungschef schlafend in seinem Bett. Eine Pistole liegt auf dem Nachtisch, aus dessen halbgeöffneter Schublade dicke Bündel 500 €-Scheine und Goldbarren hervorlugen. Eigentlich wolle er Borissovs Behauptung ja gar nicht kommentieren, handle es sich bei ihnen doch um überbordende Phantasie und Paranoia, so Radev. Im Moment sei "Borissov selbst die größte Bedrohung für seine Regierung - durch die Dinge, die er redet".

Die Veröffentlichung der Fotos kam nur fünf Tage, nachdem Afera die Aufzeichnung eines Telefonats publiziert hatte. In ihr kommentiert ein Mann mit Borissovs Stimme und Tonfall in zynischer und vulgärer Weise Ereignisse aus dem Frühjahr 2019 unmittelbar vor der Europawahl. Er habe die formal unabhängige Kommission zur Finanzaufsicht (KFN) auf ein bekanntes Aktienunternehmen angesetzt, damit sie dessen Chef zerquetsche, weil er sich ihm gegenüber unbotmäßig gezeigt habe, erzählt darin der Mann, der Borissov sein soll.

An anderer Stelle würdigt er in unflätiger, nicht zitierfähiger Weise die Präsidentin der Bulgarischen Volksversammlung Tsveta Karajantscheva herab. "Es ist dies ein weiteres Falsifikat, ein erbärmlicher Versuch eines Kompromats", sagte die Parlamentspräsidentin dazu. "Wir sind das gewohnt, beschäftigen uns damit gar nicht. Wahlen stehen bevor und deshalb geschieht das alles."

"Schlechte Reklame gibt es nicht", meinte Regierungschef Borissov zur Veröffentlichung der Telefonaufnahme gelassen. Zwar bestritt auch er die Authentizität der Aufnahme, legte aber keinen Wert darauf, diese überprüfen zu lassen. Deutlich erregter reagierte er dagegen auf die Publikation der Fotos. "Das Ziel ist, uns psychisch zu zermalmen und danach auch physisch anzugreifen", warnte er auf der Pressekonferenz am Mittwoch. Offenbar wollten Präsident Radev und die oppositionellen Sozialisten die Regierung seiner konservativen Partei "Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB) stürzen, um eine Übergangsregierung einzusetzen. So könnten sie Bulgariens Weg in die Eurozone blockieren und Milliardensummen in neue opportune Richtungen lenken, analysierte Borissov.

Die Verdächtigen

Ein knappes Jahr vor den im Frühjahr 2021 anstehenden Parlamentswahlen harren vor allem zwei Aspekte der Affäre ihrer Klärung: Handelt es sich bei der Abhöraufnahme und den Fotos um authentische Quellen oder - wie Borissov behauptet - um Deep Fakes? Unabhängig vom Ausgang dieser Frage interessiert die Bulgaren die Urheberschaft der Kompromate.

Vasil Boschkov gilt vielen als plausibler Kandidat für die Intrige. Im Januar 2020 hat die Regierung den Glücksspielmagnaten per Gesetz praktisch enteignet und aus dem Land gejagt. Nachdem er in dreißig Jahre von wechselnden Machtverhältnissen unbehelligt zum Reichsten der Bulgaren werden konnte und dabei eine bedeutende Sammlung archäologischer Artefakte aus der Zeit der antiken Thraker aufbaute, wurde er von der Staatsanwaltschaft von einem Tag auf den andern zum größten Verbrecher des Landes erklärt. Sie wirft ihm nicht nur eine Schuld in Höhe von 700 Mio BGN (rund 350 Mio €) vorenthaltener Glücksspielgebühren vor, sondern eine Reihe weiterer schwerer Straftaten bis hin zu Vergewaltigung und Beauftragung von Morden.

Aus seinem Exil in Dubai bombardiert Vasil Boschkov nun die bulgarische Öffentlichkeit mit Signalen, die den korrupten Charakter des Kabinetts Borissov belegen sollen. Der Regierungschef und sein Finanzminister Vladislav Goranov hätten von ihm viele Millionen BGN an Bestechungsgeldern bzw. Steuer Sorgenfrei kassiert, um seine Nationale Lotterie in ihrer Geschäftstätigkeit nicht zu behindern, behauptet er. "Mein Telefon hat gar keine kyrillischen Buchstaben", versuchte Borissov die Echtheit eines von Boschkov auf seiner Facebookseite veröffentlichten Faksimiles eines Telefonchats mit ihm zu widerlegen.

Auf der Pressekonferenz am vergangenen Mittwoch bestätigte Borissov plötzlich den Austausch telefonischer Kurzmitteilungen mit Boschkov zum Thema eines Transfers von Fußballprofis. Es ist dies nicht die einzige widersprüchliche Aussage von Borissov, die seine Glaubwürdigkeit in der Affäre in Zweifel zieht.

Inzwischen hat Vasil Boschkov angekündigt, sein eigenes politisches Projekt mit dem Namen "Bulgarischer Sommer" zu starten. Er wolle damit dazu beitragen, die "regierende Junta von Boiko Borissov" zu stürzen und die Hoheit des Rechts in Bulgarien wieder zu etablieren. Scheint Boschkovs Autorschaft an den Kompromaten vor diesem Hintergrund naheliegend, so ist diese doch keineswegs hinreichend belegt. Nach mit Unterbrechungen elf Jahren autokratischer Herrschaft hat Boiko Borissov mehr als genügend politische Feinde, die ebenfalls als Verschwörer in Frage kämen.

Einer davon heißt Tsvetan Tsvetanov, sein langjähriger Stellvertreter als GERB-Parteichef und früherer Innenminister. Vor rund einem Jahr musste Tsvetanov in der Folge einer Affäre um den verbilligten Ankauf eines Luxusappartements von allen politischen Ämtern zurücktreten (Bulgarisches Monopoly). Danach gründete er seinen Think Tank Euro-Atlantic Security Center (EASC). Zuletzt zeigte er sich ambitioniert, mit einem eigenen Projekt auf die politische Bühne zurückzukehren.

Am Tag der Veröffentlichung der Borissov kompromitierenden Fotos erklärte Tsvetanov nach einem Jahr passiver Mitgliedschaft seinen Austritt aus der Regierungspartei GERB. "Das ist nicht mehr die Partei, mit der ich lange Jahre verbunden war", sagte er zur Begründung.

Besonders in seiner Zeit als Innenminister im Kabinett Borissov I von 2009 bis 2013 hat sich Tsvetanov in seinen Methoden der vermeintlichen Korruptions- und Verbrechensbekämpfung nicht zimperlich gezeigt. Legendär wurde das sogenannte Tsetsomobil, ein mit Funktantennen und Abhörtechnik ausgestatteter Chrysler Voyager, den man zu seiner Amtszeit häufig in den Straßen Sofias auf Mission unterwegs sehen konnte.

Zwei Verurteilungen wegen unrechtmäßiger Abhörmaßnahmen wurden von Gerichten gegen Tsvetanov ausgesprochen, bis er in letzter Instanz schließlich von allen Vorwürfen freigesprochen wurde Aufgrund seines Faibles zum Gebrauch von Abhör- und Überwachungstechnik trauen ihm manche Beobachter den Dolchstoß gegen seinen früheren Mentor Borissov zur Erreichung persönlicher politischer Ziele zu. So zählt auch er zum engeren Kreis der Verdächtigen im Kompromatenkrieg gegen das Kabinett Borissov III.

Zweimal hat Boiko Borissov sein Amt des Ministerpräsidenten freiwillig niedergelegt und dennoch ist seine Partei GERB bei den vorgezogenen Neuwahlen jeweils wieder als stärkste politische Kraft hervorgegangen. Selbst die seit Monaten andauernde Schlammschlacht mit Vasil Boschkov hat nichts daran geändert, dass sich Borissov in Meinungsumfragen vom Anfang Juni 2020 mit Zustimmungswerten von 38% als populärster Politiker in der Gunst der Wahlbürger behauptet. Bei der Sonntagsfrage liegt seine Partei GERB mit 21,8% gut 10% vor der oppositionellen Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP).

Dennoch könnten die jüngsten Kompromate die politische Stabilität in Bulgarien gefährden. Sollte sich die Fotografie der 500 Euro-Scheine im Nachttischschublädchen als echt erweisen, wäre ein politisches Erdbeben wahrscheinlich, Dass aber die bulgarische Staatsanwaltschaft ihre Authentizität einer tatsächlichen Überprüfung unterziehen wird, gilt keineswegs als sicher.