Sind Abgeordnete Raubkopierer und Verbrecher?
Das EU-Parlament stimmt gegen eine Strafbarkeit von Patentverletzungen, belässt aber viele Risiken für Verbraucher und Entwickler in der zweiten Durchsetzungsrichtlinie
.
Die zweite Durchsetzungsrichtlinie soll nach den Vorstellungen der EU-Kommission die erste Durchsetzungsrichtlinie 2004/48/EC vom 29. April 2004 "ergänzen" und die Mitgliedsstaaten dazu zwingen, bei der Verletzung von Monopolrechten nicht mit dem Zivilrecht, sondern mit dem Strafrecht einzuschreiten. Sie besteht hauptsächlich aus kontroversen Regelungen aus der Durchsetzungsrichtlinie, die damals entfernt wurden, um eine schnelle Verabschiedung zu ermöglichen. Die Abstimmung über die zweite Durchsetzungsrichtlinie endete am Donnerstag mit so vielen Änderungen, dass es eine zweite Lesung geben wird, mit der Kritiker auf eine komplette Ablehnung hoffen (vgl. EU-Parlament schränkt Strafrechtssanktionen zum Schutz geistigen Eigentums ein).
Die angenommenen Änderungen orientieren sich an den von Nicola Zingaretti vorgeschlagenen "Kompromiss", der private Backups ohne Gewinnabsicht und Patente explizit aus der Strafbarkeit herausnahm. Die Gewerblichkeit als Voraussetzung für eine Strafbarkeit blieb zwar entgegen der Wünsche des Patentanwalts Klaus-Heiner Lehne und der Konzernchef-Gattin Janelly Fourtou in der angenommenen Fassung, aber in einer so unscharfen Formulierung, dass sie private Nutzer weiterhin gefährdet. Auch der von der britischen Regierung angekündigte, feste Katalog von strafbaren Handlungen fand keinen Eingang in die angenommene Fassung.
Mit der Herausnahme von Patenten wurde der problematischste Teil der Richtlinie abgewendet. Da ein Programmieren ohne die Verletzung von Patenten praktisch nicht möglich ist, hätte die Umsetzung der Richtlinie in der Fassung der vom SPD-Politiker Günther Verheugen geführten EU-Kommission im Zusammenwirken mit der kalten Legalisierung von Softwarepatenten über einen gesonderten Gerichtsweg verheerende Auswirkungen auf die Softwareentwicklung in kleinen und mittelständischen Unternehmen gehabt (vgl. Die Geißel Europas). Das merkten zuletzt auch Verbände wie die Bitkom, die sich laut FSF-Europe nach einer intensiven Information über die Konsequenzen ebenfalls für eine Streichung der Patente aus der Richtlinie aussprachen.
Trotzdem bedroht der jetzt verabschiedete Entwurf neben Softwareentwicklern auch Händler und Journalisten mit Strafen. Als problematischsten Teil der angenommenen Fassung sieht Ciarán O'Riordan von der FSF Europe die Formulierung, dass auch Anleitungshandlungen unter Strafe stehen sollen. Das birgt für die im internationalen Vergleich ohnehin zurückhaltende deutsche Blog-Szene ebenso wie für Journalisten erhebliche Risiken: Sobald sie erklären, wie man etwas kopieren oder herunterladen kann, stehen sie mit einem Bein im Gefängnis. Vor allem das Setzen von Links wird nach einer Umsetzung der Richtlinie noch wesentlich riskanter als bisher. Auch Wissenschaftler wären gefährdet und Kritiker von Produkten könnten nicht mehr nur mit der Abmahndrohung, sondern auch mit dem wesentlich abschreckungswirksameren Strafrecht mundtot gemacht werden.
Die Änderungen bei der Abstimmung über die Richtlinie waren aber so umfangreich, dass es zu einer zweiten Lesung kommt, vor der die EFF, die FSF Europe und der FFII ihre Aufklärungsbemühungen verstärken wollen. Tatsächlich gab es bei der öffentlichen Wahrnehmung der Richtlinie eine Art Schäuble-Effekt: Die EU brachte in relativ kurzer Zeit so viele ähnlich bizarr klingende Initiativen ein, dass ein gewisser Ermüdungseffekt, eine Übersättigung mit dem Thema einsetzte und massive Verschlechterungen für die Verbraucher von den Mainstream-Medien kaum wahrgenommen wurden. Nur die Blogsphäre von Portugal bis Rumänien rief zu Protestschreiben an die Abgeordneten auf.
Problematisch ist der extrem breitflächige Einsatz der Strafrechtskeule für den Monopolrechtsschutz vor allem deshalb, weil eine Rechtsverletzung im Bereich der "geistigen Eigentumsrechte" selten eindeutig und abgrenzbar ist. Sie lässt sich aus diesen Gründen auch gut für fragwürdige Geschäftsmodelle missbrauchen, die Verbraucher in unabsichtliche Rechtsverletzungen locken und dann kassieren. Wer die Abmahnung nicht sofort zahlt, dem kann zukünftig wesentlich häufiger mit der Strafanzeige gedroht werden.
Eine nicht grundgesetzwidrige Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht wird sehr schwierig - eventuell ist sie sogar überhaupt nicht durchführbar. Der strafrechtliche Schutz von Monopolrechten berührt nämlich einen fundamentalen Grundsatz im Strafrecht, den Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes, der besagt, dass der Bürger konkret erkennen können muss, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist und welches nicht. Da Verletzungen von Monopolrechten ihrer Natur nach nicht besonders klar sind, sind die grundgesetzkonformen Möglichkeiten der Einführung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit sehr begrenzt.
Denn nur selten ist ein Verstoß gegen Schutzrechte so dreist wie der von Friedrich Merz, der 2006 eine ungenehmigt aus dem Internetmagazin Zyn! übernommene Rede als seine eigene ausgab. Wollte man diesen Vorgang, der ohne strafrechtliche Konsequenzen blieb, besser ahnden, müsste man aber keine zweite Durchsetzungsrichtlinie verabschieden, in der man Verbraucher kriminalisiert, sondern die parlamentarische Immunität aufheben. Das hätte vielleicht auch für die Befürworter einer möglichst umfassenden Kriminalisierung interessante Konsequenzen.
Der FFII entdeckte nämlich, dass der deutsche CDU-Abgeordnete Klaus-Heiner Lehne und der holländische Wirtschaftsliberale Toine Manders auf ihren Websites Urheberrechtsverletzungen begingen, weil sie nicht lizenzierte Grafiken verwendet hatten. Bei Manders kam sogar noch eine Markenrechtsverletzung hinzu. Lehne, Fourtou und Manders befürworten eine noch schärfere Fassung der Richtlinie, die ihr eigenes Tun mit Hehlerei gleichgestellt hätte. Ohne parlamentarische Immunität hätten sie nach einer Umsetzung der von ihnen propagierten Fassung eine Gefängnisstrafe riskiert. Aber auch mit der derzeitigen Formulierung wären Lehne und Manders eventuell noch dran, weil sie sich durch das Kopieren der Grafiken einen "wirtschaftlichen Vorteil" verschafften, nämlich den des Nicht-Zahlens – so wie jemand, der ein Musikstück umsonst herunterlädt.
Besondere Brisanz erhält die zweite Durchsetzungsrichtlinie in Verbindung mit der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, die die präventive Überwachung des Telekommunikationsverhaltens aller Bürger bringen soll. Jede Internet- und Mobilfunkverbindung muss danach mindestens sechs Monate lang gespeichert werden. Im Falle der Internetdaten bedeutet eine Speicherung der Verbindungsdaten automatisch auch eine Speicherung der Inhaltsdaten. Die Richtlinie wurde den EU-Bürgern vor ihrer Verabschiedung als Maßnahme verkauft, die ausschließlich gegen Terroristen eingesetzt werden sollte. Im Februar 2006 gab das Bundesministerium der Justiz bekannt dass auf die gespeicherten Daten in Fällen von "schweren Straftaten" zugegriffen werden könne - und seltsamerweise (aber nicht wirklich überraschend) wurde "schwer" so definiert, dass alle "mittels Telekommunikation begangenen" Straftaten mit erfasst sind.