Sind Bayern solidarischer als Ostdeutsche?
Wie die Bertelsmann-Stiftung Sachsen-Anhalt, die Ukraine und den Irak bewertet
Gesellschaftlicher Zusammenhalt war zu allen Zeiten eine wertvolle Währung. Im Kaiserreich appellierte man an den erwachenden Nationalstolz. Im Nationalsozialismus schmiedete man den Zusammenhalt durch die Feindbilder Juden und Bolschewisten. Die Volks-und Raiffeisenbanken werben frech mit dem "Wir-Prinzip". Wie aber stellt sich gesellschaftlicher Zusammenhalt im Jahre 2014 in Deutschland dar?
Geht es nach den Autoren des von der Bertelsmann Stiftung jüngst veröffentlichten "Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt", genügt es, die richtigen Indikatoren aus vorhandenen Statistiken verschiedenen Elementen des gesellschaftlichen Zusammenhaltes zuzuordnen. So ist für die Bertelsmänner etwa die Bejahung der Frage "Haben Sie in den letzten 12 Monaten Geld für soziale/gemeinnützige Einrichtungen gespendet?" ein Ausdruck für Hilfsbereitschaft und Solidarität. Auch "ehrenamtliche Tätigkeit in der Freizeit" wird in der Studie zur altruistischen Solidaritätsaktion.
Die Anerkennung sozialer Regeln, für die Autoren ein weiterer, wesentlicher Indikator für starken Zusammenhalt, wird einfach an der Kriminalitätsstatistik abgelesen, etwa an den Delikten Diebstahl, Einbruch und Körperverletzung. Je höher die Kriminalitätsrate, desto weniger werden angeblich soziale Regeln anerkannt. Verkehrs-, Steuer- und Umweltdelikte gelten offensichtlich nicht als Indikatoren zur Bewertung der Anerkennung sozialer Regeln. Sie werden gar nicht erst berücksichtigt. Stattdessen wurden Umfragen verwendet, wo die Befragten erklärten, ob sie nachts alleine Angst hätten und ob sie in den letzten fünf Jahren Opfer eines Einbruchs waren.
Beide Indikatoren nun, also Hilfsbereitschaft und Solidarität sowie die "Anerkennung sozialer Regeln" bilden zusammen mit dem u.a. durch Parteimitgliedschaft und aufgeklebte Meinungs-Sticker nachzuweisenden Punkt "gesellschaftliche Teilhabe" den Bewertungspunkt "Gemeinwohlorientierung".
An dieser Stelle sollte man einmal kurz durchatmen. Wenn Gemeinwohlorientierung von ehrenamtlicher Freiwilligenarbeit, niedriger Kriminalität, Spendenaufkommen und Parteimitgliedschaft abhängt, dann sollten die süddeutschen, traditionell bäuerlich-handwerklichen Häuslebauer vorne liegen - und genau so kam es auch. Einsam stehen Bayern und Baden Württemberg in der Hitliste des gesellschaftlichen Zusammenhaltes vorne. Der Berliner Tagesspiegel bringt es auf den Punkt: Der Gemeinsinn, so die Interpretation der Studie, sei in den fünf neuen Bundesländern "am geringsten ausgeprägt".
133 oft lesenswerte Forumsbeiträge lehnen diese These allerdings mehrheitlich, etwa mit den Beispielen Erfurt und Südeuropa ab. Laut DPA-Meldung zu der Studie, die einige Medien der Einfachheit halber einfach komplett übernahmen, geben die Autoren eine eigene Erklärung für das Gemeinwohlgefälle zwischen Sachsen-Anhalt und der ebenso wirtschaftsschwachen Oberpfalz: "So ist das relativ geringe Vertrauen der Ostdeutschen in ihre Mitmenschen typisch für Länder, in denen zuvor eher Kontrolle das gesellschaftliche Klima bestimmt hatte."
Unterscheidet sich also 24 Jahre nach der Wiedervereinigung etwa die Kontrollmentalität eines ostdeutschen von dem eines westdeutschen Arbeitsamtes, werden ostdeutsche mehr als westdeutsche Angestellte überwacht und drangsalisiert? Darüber sagt die Studie nichts. Das Vertrauen wurde nämlich nur durch eine einzige Frage definiert, nämlich auf die Zustimmung oder Ablehnung zu der Aussage "Den meisten Mitmenschen kann man vertrauen."
Unsolidarische Ostdeutsche , eine stabile Ukraine
Kurios: Wenn also Ostdeutsche in den Jahrzehnten der Nachwendezeit negative Erfahrungen mit westdeutschen Dampfplauderern und Betrügern, mit Behörden und windigen Verträgen für Konsumgüter und Mobiltelefone, Lebensversicherungen und Vertretertätigkeit gemacht haben - und deshalb ihren Mitmenschen weniger vertrauen -, wird dies auf ihre Sozialisation im Sozialismus zurückgeführt.
Wer sich nicht die Mühe macht, den Methodenteil des "Radars für gesellschaftlichen Zusammenhalt" zu studieren, wird allerdings nicht herausfinden, welche Fragen und Daten tatsächlich zu der Gesamtaussage führten.
Der 50-seitige Methodenbericht erweckt durch statistische Fachausdrücke den Eindruck, dass es sich um eine hochqualifizierte wissenschaftliche Arbeit handle. Tatsächlich steht die Definition von Gemeinwohlorientierung, Solidarität, Vertrauen in Mitmenschen und gesellschaftlichem Zusammenhalt auf tönernen Füßen. Zugute halten kann man der Bertelsmann-Stiftung ihre Ehrlichkeit, denn die magere Grundlage liegt völlig offen.
Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, dessen "Land der Frühaufsteher" in der Pressemitteilung der Bertelsmann-Stiftung der geringste gesellschaftliche Zusammenhalt bereits in der Überschrift bescheinigt wurde, erklärte dann auch im MDR: "Wir sind nicht so." und verwies, ebenso wie Ex-Ministerpräsident Böhmer, auf die Welle der Solidarität beim Hochwasser 2013.
Allerdings kann man auch als geborener Bayer, der sein Leben fast nur in der Heimat verbracht hat, feststellen: Bayern und die Bayern mögen viele Tugenden haben, etwa eine schöpferisch-quertreiberische Originalität, Naturliebe und Traditionsbewusstsein, aber Solidarität und Gemeinwohlsinn sind nicht in dem Ausmaß vorhanden, dass dies den Sieg in den Bundesspielen des Gemeinwohles brächte. Man erinnere sich nur daran, wie die CSU u.a. mit ihrem Kampf gegen den Länderfinanzausgleich und der Hetze gegen Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien die Wahlen in Bayern gewann.
"Da fragt der Westdeutsche den Westdeutschen", spottete Haseloff über die Campus-Wissenschaftler aus Gütersloh.
Die Think-Tank Fellows erstellen auch einen Bertelsmann-Transformation-Index (BTI), in dem nach ihren Schreibtisch-Kriterien Staaten beurteilt werden. 2012 konnte man dort über die Ukraine lesen: "Das Staatsmonopol auf Gewalt ist gesichert. Alle territorialen Einheiten stehen unter Staatskontrolle. Die territoriale Einheit ist nicht in Gefahr…"
Aber das reichte den Spezialisten, die die Ukraine geopolitisch nicht "Europa", sondern dem "post-sowjetischen Eurasien" zurechneten nicht. "Der ukrainische Nationalstaat wird von allen relevanten Gruppen und Akteuren akzeptiert. Die Identifikation mit ihm ist in den letzten Jahren gestiegen. Alle Einwohner genießen die gleichen zivilen Rechte", teilten sie dem internationalen Fachpublikum mit.
Unsolidarische Ostdeutsche , eine stabile Ukraine - die Bertelsmann-Stiftung legt ihren statistischen Raster über Kulturen, Staaten und Menschen, dessen Ergebnisse oft kurios klingen.
So erfuhren wir 2012 über den Irak: "Im Allgemeinen stellen die irakischen Bürger, abgesehen von einigen marginalen politischen Gruppen, die Legitimation des Staates nicht in Frage." Diese Fehlbewertungen folgen einer ideologischen Haltung, nach der ein "legitimer" Staat mit einer formellen Demokratie auch Frieden und Wohlstand bringt.
Die Deutung, dass 24 Jahre nach der Wiedervereinigung inmitten einer längst völlig Ost-West-durchmischten Bevölkerung der Gemeinwohlsinn in den östlichen Bundesländern aufgrund der DDR-Erfahrung geringer sei, spricht dafür, dass die Bertelsmann-Stiftung ideologisch 1990 stehengeblieben ist.
Noch immer schreibt Liz Mohn ihre Vorwörter, so auch zum Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt, und leitet sie erreichende Kritik an den Studien direkt an deren Verfasser mit der Bitte um Beantwortung weiter. In der Studie findet sich folgendes Resumé: "Je höher das BIP, desto stärker ist der gesellschaftliche Zusammenhalt." Liz Mohn leitet daraus ab: "Die Bekämpfung von Armut ist daher für die Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zentral."
Ob aber Arme weniger solidarisch und hilfsbereit sind, müsste in einer weiteren Studie nachgewiesen werden, denn in der Bertelsmann-Studie wurde nicht zwischen Reichen und Armen unterschieden. Dass Arme weniger spenden und weniger ehrenamtlich tätig sind, ist kein Wunder. Das karitative Ehrenamt war schon immer ein Statussymbol der Wohlhabenden und Etablierten. Solidarität aber lässt sich dadurch nicht messen - sonst hätten nämlich die Russen 1945 den Krieg gegen Deutschland wegen fehlender Solidarität verloren. Und China lebte noch unter japanischer Besatzung. Kuba wäre ein US-Steuerparadies mit Kasino.
Dass allerdings Reiche gesellschaftlich gegen Arme zusammenhalten, lässt sich überall in der Globalisierung beobachten. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird dann ein absurder Begriff, wenn mehrere Gesellschaften neben- und gegeneinander existieren.
Dies ist in der Ukraine und im Irak der Fall. In Sachsen-Anhalt und Bayern zum Glück nicht.