Sind die USA auf dem Weg zum Unrechtsstaat?
Was passiert, wenn der Putsch-Anführer Trump straffrei bleibt und die ihm ergebenen Republikaner die nächsten Wahlen gewinnen? Das dünne Eis der US-Demokratie könnte brechen.
Die Anhörungen des Untersuchungsausschusses zum versuchten Staatscoup zeigen, dass eine Verschwörung von oben stattfand, aus dem Machtzentrum der Vereinigten Staaten, dem Weißen Haus. Der neu gewählte US-Präsident Joe Biden von den Demokraten sollte gewaltsam an der Amtsübernahme gehindert werden.
Die Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 war keinesfalls ein spontaner Gewaltausbruch rechtsradikaler Milizen wie den Proud Boys. Sie wurde vom abgewählten Präsidenten Donald Trump und seinem Kreis initiiert und befeuert: mit Lügen über "geklaute Wahlen", Aufrufen zu Gewalt und Drohungen gegenüber Amtsträger:innen, das Wahlergebnis zu fälschen. Die Demokratie stand auf der Kippe.
Wir haben bei den bereits fünf Anhörungen auf dem Kapitol erleben können, wie brutal sich die Aufständischen und Rechtsterroristen den Weg bahnten. Sie wollten die Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Palosi (Demokraten) ergreifen und den Vizepräsidenten Mike Pence (Republikaner) hängen, weil er den Befehlen Trumps nicht folgte, die Wahlen zu annullieren.
Dass es nicht zum Staatssturz kam, hing auch damit zusammen, dass einige Republikaner wie Mike Pence, aber auch Parlamentarier:innen, Regierungsvertreter:innen und Wahlhelfer:innen in den wahlentscheidenden Bundesstaaten, dem Druck und den Intrigen vom Weißen Haus standhielten. Wenn nicht, wäre eine Staatskrise nicht mehr zu verhindern gewesen. Auch das hat der Untersuchungsausschuss durch Befragungen ans Tageslicht gebracht.
Der versuchte Staatsputsch zeigt zugleich deutlich, wie dünn das Eis geworden ist, auf dem sich die amerikanische Demokratie bewegt. Warum das Eis derart fragil, förmlich in den letzten Jahrzehnten hinweggeschmolzen ist, hat mehrere Ursachen. Einige davon reichen tiefer zurück.
Die neoliberale Wende seit Ronald Reagans Präsidentschaft in den 1980er Jahren hat die wirtschaftliche Ungleichheit und soziale Spaltung dramatisch ansteigen lassen. Deindustrialisierungen im Zuge von Outsourcing, Sozial- und Lohndumping, eine gefährliche Aufblähung des Finanzsektors sowie ein enormer Zuwachs an Macht für Konzerne und die Businessklasse haben die Gesellschaft förmlich entsichert. Der damit einhergehende Frust wurde auf Immigranten gerichtet oder in Kriegspatriotismus kanalisiert.
Es entstand dabei eine gedemütigte Unterklasse in den USA, die immer weniger am Wohlstand, an Bildung und Politik teilnehmen konnte. Letztlich wurde eine Art "Dritte Welt" in das kapitalistische Zentrum der Weltwirtschaft importiert.
Damit einher ging eine politische Erosion. Gewerkschaften verloren ihren Einfluss. Die Demokraten drehten den Arbeiter:innen den Rücken zu und machten beim neoliberalen Zerstörungsprojekt mit: von Bill Clintons Freihandelsabkommen Nafta (North American Free Trade Agreement), abgeschlossen mit Mexiko und Kanada – das nichts mit "Freihandel", aber viel mit Investorenschutz zu tun hat, mit den üblichen Konsequenzen für die Arbeiter:innen –, bis hin zu Barack Obamas Laisser-Faire-Politik und Wegsehen bei den massenhaften Zwangsräumungen im Zuge der Bankenkrise seit 2008.
In die Finanzinstitute, die die Wirtschaft mit ihren profitablen Zockereien fast zum Kollaps brachten, wurden Hunderte Milliarden, wenn nicht Billionen Dollar an Steuergeldern geflutet, um sie zu stabilisieren. Millionen von Menschen landeten dem gegenüber auf der Straße und wurden nicht gerettet.
Der große Raubzug und der Aufstieg politischer Irrationalität
Konservative und Rechte wussten die demokratische Aushöhlung der Gesellschaft für sich zu nutzen. Öl-Multis wie die Koch-Brothers verbreiteten über die Birch-Foundation radikale Politiken und Gesellschaftsentwürfe, ganz im Geist des libertären Vordenkers Ayan Rand.
Die Tea-Party-Bewegung im Umfeld der Republikaner wurde zum verlängerten Arm dieser Ideologie, die Steuern, soziale Auflagen und staatliche Regulierungen als Angriff auf das Wohl und die Freiheitsrechte der Normalbürger:innen diskreditierte. Tatsächlich steckte dahinter ein politisches Eliten-Programm im Dunstkreis von Unternehmern, Investoren und Superreichen, die für sich möglichst keine Steuern und Regulierungen wollen, während die Schwachen zusehen sollen, wo sie bleiben.
Heute sind die Republikaner – die die politischen Analysten vom American Enterprise Institute Thomas Mann and Norman Ornstein als "radikale Aufstandsbewegung" bezeichnen – keine klassische Partei mehr. Sie können auch gar nicht mehr mit dem Anspruch auftreten, irgendwelche Interessen und Bedürfnisse der allgemeinen Bevölkerung zu vertreten. Sie verabscheuen jegliche Form demokratischer Partizipation. Die sogenannte GOP ("Grand Old Party") ist zu einer politischen Organisation der Businessklasse mutiert, mit dem Zweck, ihr den Rücken frei zu halten und den Reichen die Taschen mit Geld voll zu stopfen.
So brachten die Republikaner unter Präsident Donald Trump ein gigantisches Steuerentlastungspaket von 1,5 Billionen US-Dollar durch den Kongress, das die Oberschichten und Unternehmen entlastet, während die Gegenfinanzierung von den unteren Schichten der Bevölkerung durch Einsparungen erwirtschaftet werden muss.
Die RAND Corporation schätzt, dass in den USA seit den 1980er Jahren 47 Billionen Dollar von der Normalbevölkerung zur obersten Einkommensspitze transferiert wurden. Hinzu kommt der Diebstahl durch Steueroasen. Eine Studie vom Internationalen Währungsfonds (IWF) beziffert ihn auf rund 35 Billionen in den letzten 40 Jahren allein in den Vereinigten Staaten.
Von diesen Raubzügen erfuhr die Bevölkerung nichts. Sie wurde abgelenkt, hysterisiert und gespalten: Waffenbesitz als heiliges Recht, für das Republikaner kämpfen. Religiöser Fanatismus und Kreationismus, der Abtreibungen als Ursünde anprangert. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Zugleich sind die Angriffskriege, die die USA überall auf der Welt geführt haben, in gewisser Weise in die US-Gesellschaft reimportiert worden. Waffen und militärische Ausrüstung wie Drohnen und gepanzerte Fahrzeuge dienen nun der militarisierten Polizei, um Proteste zu bekämpfen wie die gegen Öl-Pipelines.
Traumatisierte Soldaten kehren zugleich aus ihren Kriegseinsätzen zurück, werden mit ihren Problemen aber meist alleingelassen, was als sozialer Sprengstoff wirkt, auf Familien und Kommunen, in denen die Traumatisierten leben.
Während dessen fluten halbautomatische Kriegswaffen die Gesellschaft. An die täglichen Schießereien, die regelmäßig wiederkehrenden Massentötungen und Amokläufe, auch mit rassistischen, terroristischen Intentionen, hat man sich fast schon gewöhnt. Sie sind das neue Normale. Die Auswirkungen werden immer blutiger, die Rufe nach Waffenkontrollen zunehmend verzweifelter. Oft mischt sich in die Taten blinde politische Wut: Siehe das Massaker von Buffalo, wo der Attentäter elf Afroamerikaner:innen niederschoss, um einer angeblichen "Umvolkung" entgegen zu treten.
Die USA sind zugleich mitten in einem politisierten Kulturkampf. Die Republikaner haben ultrakonservative bis reaktionäre Richter in den Supreme Court, den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, gebracht. Die Richter werden auf Lebenszeit ernannt. Die versuchen nun, liberale Rechte, die erkämpft wurden, wieder zu canceln, wie im aktuellen Fall das Recht auf Abtreibung (Roe v. Wade). Das Rad der Geschichte soll am besten in die weiß-patriachalen Urzeiten des Siedler-Kolonialstaats zurückgedreht werden, der Sklaven hielt, Frauen unterdrückte und Indianer auslöschte.
Die Republikaner wissen, dass sie mit ihrem politischen Programm keine Wahlen mehr gewinnen können. Zu sehr stellt es einen Angriff auf die Bedürfnisse der Bevölkerung dar: weiterer Abbau der Arbeitsbedingungen, der Gesundheitsversorgung und der sozialen Daseinsvorsorge; ungebremste Schädigung Amerikas durch fossile Energieausbeute und irrationale Aushöhung der US-Wirtschaft durch Deregulierung und Lohndruck.
Die Mainstreammedien in den USA haben bei dieser Erosion mitgemacht, ja, sie erst ermöglicht. Sie verkürzten die Debatten und ließen kritische Einblicke in den neoliberalen Angriff auf die Gesellschaft außen vor. Während die Krise der kommerziellen Medien durch zurückgehende Anzeigen- und Werbeeinnahmen in den letzten zwei Jahrzehnten zur rasanten Monopolisierung und journalistischen Auszehrung führten, konnten rechte Kanäle wie Fox News oder hetzende Talk-Radio-Moderatoren wie Glenn Beck Millionen an sich binden. Sie boten den Gedemütigten etwas, was sie in den etablierten Medien in dieser Form nicht fanden: Anstachelung der politischen Wut, die auf Schwächere gelenkt wurde.
Dass Trumps Rückkehr befürchtet werden muss, ist eine Katastrophe
Trump war schließlich die perfekte Lösung für das Wahl-Dilemma der Republikaner. Er nutzte alle Möglichkeiten der erodierenden Demokratie aus: Medialer Entertainment- und Personality-Kult, Selfmade-Millionär-Image, Fake-News-Maschinerie über Social-Media- und rechte Kanäle, reaktionäre Kulturkampf-Strategie, Mexikaner-Hetze sowie Machotum als Kompensation für gedemütigte Männer.
Am Ende versuchte er, die Dysfunktionalitäten des US-Wahlsystems für sich zu nutzen ("Stop the Steal"). Der Supergau wurde um Haaresbreite verhindert, auch das zeigt der Untersuchungsausschuss zum 6. Januar.
Daher halten die Republikaner weiter Trump die Treue, trotz Staatscoup-Versuch und gewalttätigen Milizen-Gefolgen. Sie können sich nicht von ihm lösen. Trumpismus, mit oder ohne Trump, ist ihre einzige Hoffnung, ihre Macht zu sichern. Das ist eine ernst zu nehmende Gefahr, der die US-Demokratie akut ausgesetzt ist. Und sie wird anhalten und wachsen, wenn nichts unternommen wird.
Sie wird im Moment jedoch verschärft, da die Demokraten unter Präsident Joe Biden sich weiter als unfähig erweisen, den US-Bürger:innen eine progressive Alternative anzubieten. Das über zwei Billion Dollar umfassende Infrastrukturprojekt inklusive Energiewende – das zentrale Wahlversprechen der Demokraten und die große Hoffnung für eine substantielle Verbesserung der Lebensverhältnisse der US-Amerikaner:innen – wird im Kongress weiter blockiert.
Der demokratische Senator Joe Manchin aus dem kleinen Bundesstaat West Virginia, dessen Portemonaie vollgestopft ist mit Geldern fossiler Konzerne und Lobbys, senkt den Finger – ein ganzes Land mit über 300 Millionen Bewohner:innen inklusive demokratischer Mehrheit auf dem Kapitol und demokratischem Präsidenten im Weißen Haus schaut machtlos zu. In anderen Ländern würde man von Bananenrepublik sprechen.
Nun stehen im November die sogenannten Midterm-Wahlen an, bei denen rund die Hälfte der Sitze im Abgeordnetenhaus und im Senat neu besetzt werden. Bisher sieht es so aus, als ob die Demokraten ihre leichte Mehrheit verlieren werden. Das hätte wiederum Auswirkungen auf die in gut zwei Jahren anstehenden Wahlen um die Präsidentschaft.
Mit einer Mehrheit auf dem Kapitol können und werden die Republikaner alle Gesetze der Biden-Regierung verhindern. Das wird die Demokraten als "lahme Enten" politisch und medial schwächen und die Chancen für die Republikaner, wieder ins Weiße Haus zu ziehen, deutlich erhöhen. Trump steht schon in den Startlöchern.
Der Untersuchungsausschuss zum Sturm aufs Kapitol ist wichtig. Er schafft Öffentlichkeit für den gewaltsamen Angriff auf die US-Demokratie bei der Machtübergabe im letzten Jahr, angeführt von Trump, im Schlepptau die Republikaner. Das ist gut. Aber es könnte auch nach hinten losgehen.
Was ist, wenn die, die die Verschwörung geplant und befeuert haben, sich nicht vor Gericht verantworten müssen; wenn nur einige Gewalttätige als Sündenböcke ihre gerechte Strafe erhalten? Was ist, wenn der, der hinter dem Coup als Strippenzieher und Anstachler steht, mit seiner politischen Entourage wieder ins Weiße Haus einzieht und die Partei, die dem putschenden Ex-Präsidenten und Westentaschen-Diktator weiter die Treue hält, die nächsten Wahlen gewinnt?
Dann drohen die USA nicht nur außenpolitisch zu einem Unrechts- und Schurkenstaat zu werden, der Völker- und Menschenrecht nach Belieben brechen darf. Dann könnte im eigenen Land das dünne demokratische Eis vollends zerbrechen und Rechtlosigkeit und Machtwillkür die Gesellschaft verschlingen.