Sind wir nicht alle ein bisschen eingebettet?

Vom alltäglichen Kampf deutscher Medien mit der Macht, der Aufmerksamkeit und sich selbst

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Zwei Tage lang traf sich beim NDR in Hamburg die Elite der Auslandsberichterstattung sowie des investigativen Journalismus: Am 23. Mai feierte der Weltspiegel seinen 40. Geburtstag, und am 24. Mai fand in den Räumen des NDR die zweite Jahrestagung von Netzwerk Recherche statt, einer Vereinigung von Journalisten für Journalisten, deren erklärtes Ziel die Förderung solider Recherche ist.

Aus diesem Grund wird alljährlich die 'verschlossene Auster' verliehen an einen der größten Infoblocker im Lande. Im vergangenen Jahr traf es Bundesinnenminister Otto Schily, heuer die Aldi-Brüder Theo und Karl Albrecht, die reichsten Männer Deutschlands, die mit dem Billig-Discounter Aldi eines der erfolgreichsten Unternehmen im Lande führen - aber keinerlei Auskünfte geben über sich, ihre Strategien oder die Qualitätsstandards, die ihre Zulieferer erfüllen müssen. Und wer auf eigene Faust recherchiert, muss mit einer Klage rechnen. Natürlich waren die greisen Brüder nicht zur Preisverleihung erschienen, aber immerhin nahm mit Dieter Brandes die ehemals linke Hand von Theo Albrecht (Aldi-Nord) den Preis symbolisch entgegen.

Nahezu vollständig erschienen waren dagegen zum 40-jährigen Bestehen des Weltspiegels die Gründerväter sowie sämtliche Auslandskorrespondenten respektive Auslandskorrespondentinnen, und natürlich ging es ein bisschen zu wie bei einem Klassentreffen, wo man sich freut über das Wiedersehen von Angesicht zu Angesicht. Trotzdem war die Weltspiegel-Feier nicht gerade eine selbstverliebte Jubelveranstaltung. Man wollte ins Gericht gehen, mit sich selbst und den Medien an sich, und deshalb stand auf der Tagesordnung gleich als erstes eine Podiumsdiskussionen zum Thema 'Embedded' - Lehren aus dem Irak-Krieg mit Erfahrungsberichten von Claus Christian Malzahn vom Spiegel ('embedded' bei einem US-Bataillon), Uli Rauss vom Stern ('embedded' bei der 24. Marine Expeditionary Unit) oder Christoph Maria Fröhder, Reporter für die ARD in Bagdad. Anschließend wurde u.a. mit Hartmann von der Tann, Chefredakteur der ARD, Nikolaus Brender, Chefredakteur des ZDF, Ulrich Schmidla, Auslandschef beim Focus, und Michael Rediske, Vorsitzender von 'Reporter ohne Grenzen' diskutiert.

Moderiert wurde die Diskussion von Hans-Ulrich Jörges, stellvertretender Chefredakteur des Stern. Ein beeindruckendes Aufgebot also, und doch kam nicht viel mehr dabei raus als die Feststellung, dass die Einbettung von Journalisten nicht erst im Irak-Krieg erfunden wurde, dass eine Einbettung nicht zwangsläufig das Ende der seriösen Berichterstattung sein muss, weil es eben darauf ankommt, was man daraus macht. Soll heißen: Auch die Heimatredaktionen haben ihren Teil beizutragen in Sachen Ausgewogenheit. Keiner zwingt sie nämlich, ausschließlich und in voller Länge die Berichte der Eingebetteten zu senden.

Kampf um die Aufmerksamkeit

Die für Außenstehende wohl interessanteste Veranstaltung des Tages war die Podiumsdiskussion mit dem Titel Krisen unter Quotendruck - Das kurze Interesse am Leid. Hier ging es um den tagtäglichen Kampf um die Aufmerksamkeit des geneigten Publikums. Was zum Beispiel machen internationale Hilfsorganisationen, wenn im Ausland was passiert? Wenn zum Beispiel Bomben explodieren in Casablanca? Laut Hans-Joachim Preuß von der Deutschen Welthungerhilfe tun sie vor allem eines: Sie beten. Beten, dass kein Bus voller blonder Schulkinder die Böschung hinabrast. Beten, dass deutsche Touristen auf Mallorca nicht nassgeregnet werden. Weil Berichte über die Ereignisse aus Afrika & Co. nur so eine Chance haben, in den deutschen Medien nicht zu kurz zu kommen.

Am Tag der Bombenattentate in Marokko blieben diese Gebete unerhört: Noch am selben Tag kam in Frankreich ein Bus voller deutscher Touristen von der Straße ab, und zwei Tage später verunglückte ein Bus mit dänischen Schulkindern in Schleswig-Holstein.

Und wie reagierte die Berichterstattung? Die ARD verlängerte am 17. Mai 2003 die Tagesschau um fünf Minuten. Damit wurde den Ereignissen in Casablanca insgesamt zehn Minuten eingeräumt. Doch der Brennpunkt im Anschluss an die Tagesschau gehörte dem Busunglück. Schließlich war es Samstag, und selbst das öffentlich-rechtliche Fernsehen muss sich nach Ansicht von ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann nach dem vermuteten Interesse der Mehrheit richten.

Denn im Hinblick auf die Berichterstattung über Opfer gilt: "Je näher und je weißer, desto besser" - wobei diese Formel von Sonia Mikich (Monitor, WDR) nicht zynisch gemeint ist, sondern vielmehr ihre Resignation zum Ausdruck bringt. Sie würde auf solche Déjà-vu-Erlebnisse nämlich gerne verzichten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Juni 2000 wurden in einem Tomaten-Transporter bei Dover die Leichen von 58 erstickten Chinesen entdeckt. Offenbar hatten sie versucht, illegal nach Großbritannien einzureisen - und waren in die Hände skrupelloser Menschenschlepper geraten. Damals beteten Hilfsorganisationen und Berichterstatter wie Mikich um Aufmerksamkeit für das Flüchtlingsdrama. Doch leider kam mal wieder ein Bus dazwischen, voll besetzt mit bayerischen Schulkindern.

Mikich "vermag nicht einzusehen", warum ein Busunglück mehr Aufmerksamkeit bzw. einen prominenteren Sendeplatz bekommt als etwa die Anschläge in Marokko, die langfristig und gesamtpolitisch gesehen sicher das relevantere Thema sind. Wie es jedoch Kollegen ergeht, die sich nach Kriterien wie Relevanz und Langzeitperspektive richten, konnte man bei der Weltspiegel-Veranstaltung live erleben: Kai Gniffke, stellvertretender Chefredakteur von ARD-aktuell, hatte sich dafür entschieden, die Tagesthemen am 22.05.2003 mit dem verheerenden Bürgerkrieg im Kongo aufzumachen - und nicht mit dem tagesaktuellen Erdbeben in Algerien. Dafür bekam er nicht nur ARD-intern die Leviten gelesen, sondern auch vor versammeltem Publikum - von seinem Vorgesetzten, ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann.

Der Medienkanzler ist angeblich vorsichtiger geworden

Gegen diese Diskussion war das Gespräch mit dem Kanzler am folgenden Tag nachgerade harmlos: Zunächst ging es um die Inszenierung von Gerhard Schröder als Medienkanzler (er ist vorsichtiger geworden), um die Verteidigung der Privatsphäre (Indiskretion tut weh, auch dem Kanzler) und einfallslose Journalisten, die dem Kanzler des morgens das Mikro ins Gesicht halten und nichts weiter sagen als: "Herr Bundeskanzler - und?" (kann der Kanzler prima nutzen, um selbst zu bestimmen, was Thema des Tages wird), um die Frage, was auf des Kanzlers allmorgendlichem Stapel von sechs bis acht Zeitungen obenauf liegt (die Financial Times Deutschland) - und schließlich ging es um die aktuelle Anzeigenkrise und die drohende Ausdünnung der deutschen Presselandschaft (abgesehen davon, dass diese Frage nicht im Zuständigkeitsbereich des Kanzlers liegt, sollte man - wenn der Berliner Zeitungsstreit entschieden ist - vielleicht mal über das Kartellrecht nachdenken und Politiker, Verleger und Journalisten an einen runden Tisch berufen).

Auch Fragen aus dem Publikum wurden beantwortet, etwa nach dem Sinn verschärfter Abhörmöglichkeiten gegenüber Journalisten in Bayern (davon hält der Kanzler nichts), oder nach dem Einfluss von Lobbyisten auf die Politik (spielt auf der Ebene des Kanzlers angeblich keine Rolle). Fazit: Das Gespräch war amüsant bis aufschlussreich, aber nicht gerade weltbewegend

"Total perverse Verhältnisse

Weniger amüsant verlief die Podiumsdiskussion über die "Ware Nachricht" und den Einfluss der PR-Industrie auf den Journalismus. Denn eine der unangenehmsten Fragen an die deutschen Medien ist sicherlich die nach der alltäglichen Einbettung von Journalisten. Kaum ein Reisebericht entsteht ohne die tatkräftige Unterstützung von Hotelbesitzern, Reiseveranstaltern und Fluggesellschaften. Die Abhängigkeit der Auto-Tester von der Industrie ist auch kein Geheimnis. Die meisten Frauenzeitschriften sind nichts anderes als ein zugetexteter Katalog. Und was die politische Berichterstattung angeht, so herrscht wohl nirgends ein so enges Geflecht von Verbindlichkeiten: Um an Informationen ranzukommen, wird so mancher Journalist zum Vertrauten seines Beobachtungsobjekts - und verliert im schlimmsten Fall jegliche Distanz. "Da wird zusammen Urlaub gemacht und zusammen geheiratet. Das kotzt mich an, wenn ich das sehe", sagt Hans-Ulrich Jörges , stellvertretender Chefredakteur des Stern und Leiter des Hauptstadtbüros Berlin.

Das Dreisteste, was Jörges in dieser Hinsicht erlebt hat, sei Angela Merkel. Die Vorsitzende der CDU rede laut Jörges prinzipiell nicht mit dem Stern, weil sie davon ausgehe, dass der Stern "nichts von ihr annehmen würde". Wobei "nichts" nicht etwa für Geld, sondern für Überzeugungen und dergleichen steht. Weil man als Journalist ja so unendlich dankbar sein muss, wenn man sich zum Sprachrohr der politischen Elite machen darf. Für Jörges "eine haarsträubende Haltung". Er habe freilich gut reden, da er sich um seinen Posten keine Sorgen machen müsse. Wenn man aber als frisch entsandter Hauptstadtkorrespondent eines Lokalblatts oder gar als freier Journalist ausgeschlossen wird vom Informationsfluss, so könne das verheerende Folgen haben - weil einem schlicht die Arbeitsgrundlage entzogen wird. Und das hält man nicht lange durch, wenn man nicht die entsprechende Rückendeckung hat in der Redaktion. Insofern können Politiker durchaus dafür sorgen, dass missliebige Journalisten ersetzt werden. Und auf der anderen Seite werden Leute herangezüchtet, die quasi zum Wahlberater "ihres" Politikers werden - und sich dafür von der Redaktion bezahlen lassen. "Da entstehen total perverse Verhältnisse", so Jörges.

Das Modell der Anzeigenfinanzierung von Zeitungen ist ausgedient

Um das Überleben der Gattung Zeitung insgesamt ging es in der Abschlussdiskussion, zu der die Verleger der größten deutschen Tageszeitungen geladen waren: Hans Werner Kilz (Süddeutsche Zeitung), Giovanni di Lorenzo (Der Tagesspiegel), Bascha Mika (taz), Stephan Richter (Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverband - SHV), Frank Schirrmacher (FAZ), Wolfgang Storz (Frankfurter Rundschau) und Claus Strunz (Bild am Sonntag). Letzterem gelang es mit nur einem Satz, die ganze Runde gegen sich aufzubringen: "Wenn eine Zeitung vom Markt verschwindet, dann war sie nicht gut genug gemacht!"

Schließlich waren sich die Macher der so genannten "Qualitätsblätter" angesichts stabiler und zum Teil sogar steigender Auflagen darin einig, dass man es mit einer strukturellen Krise zu tun habe. Mit anderen Worten: das traditionelle Finanzierungsmodell von Tageszeitungen, sich zu etwa zwei Dritteln über Anzeigen zu finanzieren, hat ausgedient. Und zwar nicht erst seitdem die Konjunktur schwächelt und die Anzeigenkunden sich rar machen. Das Hauptproblem sind laut Schirrmacher auch nicht die Redaktionen, sondern der Vertrieb: "Der Vertrieb ist das wahre Kampfgebiet"

Möglicherweise müsse man die Starbucks-Methode auf Zeitungen anwenden und - in Verbindung mit dem entsprechenden Marketing - das Alltagsgut Zeitung sehr viel teurer als bisher verkaufen. "Man muss sich klarmachen", so Schirrmacher, "dass die Zeitungen von einigen wenigen Familien beherrscht werden: den Mohns [Bertelsmann], den Holtzbrincks, Friede Springer." Schirrmacher ist sich sicher, dass es mal Zeiten gab, in denen eine solche Konzentration der verlegerischen Macht die Linke auf die Straße getrieben hätte.