Sinnvolle Existenz als Maßstab des eigenen Lebens und der Gesellschaft

Seite 2: Therapeutische oder quasireligiöse Sinnangebote

Diejenigen therapeutischen oder quasireligiösen Sinnangebote, die die Wahrnehmung der objektiven Sinnleere überspielen, machen nicht deren Ursachen zum Gegenstand, sondern "behandeln statt die effektive Sinnlosigkeit nur das Gefühl der Sinnlosigkeit" (Anders 1988, 367), "so als wäre dieses Gefühl das eigentliche Unglück, nur dessen Beseitigung erforderlich; so als wäre der Zahnschmerz die Krankheit" (Ebd., 365).

Es geht dann darum, ein Sinn-Gefühl auch dort zu schaffen, wo faktisch der Sinn fehlt. Ignoriert wird, dass die "Sinnlosigkeit ein völlig berechtigtes Gefühl, ein Zeichen von unbeschädigter Wahrheitsbereitschaft, um nicht geradezu zu sagen: ein Symptom von Gesundheit" darstellt (Ebd., 369f.).

Schon Lessing hat in seiner Ringfabel, "an die Stelle der Wahrheit des Geglaubten die subjektive Wahrhaftigkeit des Glaubenden gesetzt." Entsprechend ist für viele "alles schon in Ordnung, wenn nur überhaupt geglaubt wird ... Das bedeutet: statt Glauben an bestimmte Inhalte bejaht er den Glauben an den Glauben. Nämlich den Glauben an dessen Überleben fördernde Leistung" (Ebd., 370f.).

Es handelt sich um den "Sieg des Glaubens als seelischer Tätigkeit über den Glauben als inhaltliches Credo" (Ebd., 371). Wir haben es dann zu tun mit einem "Glauben, dessen wir zu sehr bedürfen, um ihn den Chancen eines Examens zu unterwerfen" (Nestroy, Notizen aus dem Nachlass). Leicht zieht man es dann vor, den "Unbegreiflichkeiten des Lebens […] einen Sinn beizulegen", als sich darum zu bemühen, deren "Unsinn" zu überwinden (Brecht, zit. n. Grimm 1979, 176).

Manche Sinnangebote bieten einen höheren Trostgrund auf, um mit der schlechten Lage zu versöhnen. "Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie" (Nietzsche II, 944). Nicht sinnvoll ist es jedoch, aus Protest dagegen das Kind ("Sinn") mit dem Bade auszuschütten.

Wo die Menschen der Gleichgültigkeit ihres Daseins versichert sind, erheben sie keinen Einspruch; solange sie nicht ihre Stellung zum Dasein verändern, ist ihnen eitel auch das Andere. Wer das Seiende unterschiedslos und ohne Perspektive aufs Mögliche der Nichtigkeit zeiht, leistet dem stumpfen Betrieb Beihilfe.

Adorno 1975, 390

"Sinn" und Helfersyndrom

Sinn kann sich nicht auf etwas beziehen, das in sich widersprüchlich ist. Ein Beispiel dafür ist das Vorhaben, Sinn durch Hilfe für andere zu erreichen. Erstens dienen die Bedürftigen nun als Mittel für die Sinnstiftung des Helfenden. Um die Bedürftigen geht es dann nur indirekt bzw. vermittelt. Die Hilfe für sie soll der Existenz des Helfenden Sinn verleihen. Gewiss hat tatsächliche effektive Hilfe für Bedürftige ihren Wert. Eine solche Hilfe bezieht sich auf die Hilfsbedürftigen jedoch "nicht allein um der Wohltätigkeit willen, sondern um ihnen zu nutzen" (Baggini 2009, 81).

Ein zweites Problem besteht darin, dass bei mancher Hilfe der Hilfeempfänger nicht unabhängig vom Helfenden werden darf. Sinnvolles Leben im Horizont der Sinnstiftung durch Hilfe für andere ist nur dem Helfenden, nicht dem Hilfeempfänger möglich. Drittens fordert der moralische Imperativ "Hilf den Armen" zu Spenden auf und nicht dazu, die Armut selbst zu überwinden.

"Wir sind unglücklich aus Enttäuschung darüber, dass Freiheit und Wohlstand unserem Leben keinen Inhalt und kein Ziel geben. […] Inmitten von Überfluss führen wir ein unerfülltes Leben" (Bruno Bettelheim 1964, 7). Gewiss erfreut sich die große Mehrheit der Bevölkerung gegenwärtig nicht materieller Sorglosigkeit. Gleichwohl gehört der Mangel an Sinn nicht zu dem, was wir ein Luxusproblem nennen können. Er stellt die Lebensqualität auf andere Weise als sog. materielle Sorgen in Frage und ist nicht gegen sie auszuspielen.

"Sinn" und relevante soziale Auseinandersetzungen der Gegenwart

Viele Arbeitende wollen mit ihren Fähigkeiten und Qualifikationen etwas gesellschaftlich Sinnvolles schaffen. Mit der Landwirtschaft Befasste merken, dass die Vorgaben der Kapitalverwertung der Landwirtschaft nicht gut tut. Die jährliche Demonstration zur grünen Woche in Berlin mit 25.000 Teilnehmern bildet ein auffälliges Zeichen dafür, wie sich dieser Gegensatz bereits heute politisch artikuliert.

Ärzte nehmen Anstoß daran, an den Folgen einer Wirtschaftsweise herumdoktern zu müssen, die unablässig eine solche Schwächung und Belastung der menschlichen Physis und Psyche verursachen, welche mit deren natürlicher Anfälligkeit und Endlichkeit keineswegs zu verwechseln ist. Ökonomiekritik findet sich dann auch in den Programmen von kritischen Fraktionen in den Ärztekammern (z.B. in Berlin die "Fraktion Gesundheit"). In der Bevölkerung ist die Aufmerksamkeit groß für den Unterschied, ob jemand seine Arbeit primär deshalb macht, weil er sich für sie interessiert oder weil er finanziell an ihr interessiert ist.

Kritische Debatten über den Sinn von Produkten betreffen z. B. das Auto in privatem Eigentum. Auch breite Abschnitte der Unterhaltungs- und Tourismusindustrie werden von einer Minderheit der Bevölkerung kritisiert. Die Produkte der Lebensmittelindustrie und der Landwirtschaft sind Thema einer breiten kritischen Öffentlichkeit.

Viele Menschen haben ein Bewusstsein davon, dass die Lebensmittelindustrie Lebensmitteln gezielt Salz, Zucker und Fett zusetzt, damit künstlich die Verzehrneigung aktiviert und massiv gesundheitsschädliche Stoffwechselstörungen begünstigt. Unter den Erwerbstätigen gibt es bei einer starken Minderheit ein Bewusstsein für den Gegensatz zwischen den Motiven dafür, die eigene Arbeit gut zu machen, und Zeit und Energie vergeudenden Hierarchien und Machtspielen.1 Für das Aufgezählte gilt frei nach Wilhelm Busch: "Sinn, und dieser Satz steht fest, ist der Unsinn, den man lässt" (Marquard 1986, 33).

Sinnvoll ist eine Arbeit oder Tätigkeit, in der die arbeitende oder tätige Person in der Arbeit bzw. Tätigkeit ihre Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen entfaltet und mit ihrem Produkt oder ihrer Dienstleistungen sich so auf deren Abnehmer oder Adressaten bezieht, dass sie damit dazu beiträgt, deren menschliche Vermögen zu entwickeln.

"Sinn" und Gesellschaftskritik

Grob lassen sich drei verschiedene Ansätze der Gesellschaftskritik unterscheiden. Ein funktional argumentierender Ansatz arbeitet heraus, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem bestimmte von ihm selbst beanspruchte Funktionen nicht erfüllt, also "intrinsisch dysfunktional und notwendig krisenhaft" ist (Jaeggi 2013, 323).

Eine "moralische oder gerechtigkeitsorientierte" Kritik fokussiert sich auf die ungleiche Weise, in der Individuen am Reichtum partizipieren. Die ethische Gesellschaftskritik thematisiert das jeweilige "Welt- und Selbstverhältnis" in einer Gesellschaftsform (Ebd., 341).

Sie arbeitet heraus, dass das Leben in der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie trotz aller materiellen Vorteile verarmt, "sinnlos oder leer ist", insofern letztere zentrale Momente des guten Lebens nicht oder nur begrenzt zustande kommen lässt (Ebd.). Das haben wir in diesem Artikel skizziert.