"Sitzenbleiben ist sinnlos"
Seite 2: Aus theoretischer Sicht
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Ich möchte im Folgenden erst als theoretischer Psychologe und danach persönlich etwas zum Nutzen des Sitzenbleibens zu bedenken geben:
Ganz allgemein gesagt ist das Verhalten eines Organismus das Ergebnis der Interaktion von Körper und Umwelt: V = K x U. Das gilt auch für das Schulverhalten. Wir neigen aber dazu (vor allem in unseren westlichen Kulturen mit ihrer Praxis individueller Verantwortlichkeit) in erster Linie auf den einzelnen Menschen zu schauen - also das K (oder hier konkret ein Schulkind, und den Beitrag der - auch sozialen - Umwelt zu übersehen).
Das Sitzenbleiben ist eine Intervention, die das Schulkind in eine (begrenzt) andere Umwelt versetzt: neue Mitschülerinnen und -Mitschüler, neue Lehrerinnen und Lehrer. Die Chance, einen neuen ersten Eindruck zu erwecken, wird durch das Stigma "Sitzenbleiben" geschmälert.
Wenn jemand, wie die eingangs zitierte Studienrätin, felsenfest davon überzeugt ist, dass die Maßnahme sowieso sinnlos ist, dann steht das Urteil bereits im Voraus fest; ganz ähnlich, wie sich ein vermeintlicher Unterschichtenname wie Chantal oder Kevin schlecht auf die Note auswirken kann. Und schon in den 1960er Jahren haben Psychologen festgestellt, dass die Erwartungen der Lehrenden den Erfolg ihrer Schülerinnen und Schüler beeinflussen.
Verzerrte Wahrnehmung
Diese Beispiele zeigen, nebenbei bemerkt, wie Faktoren außerhalb des Individuums das sichtbare Verhalten beeinflussen, eben V = K x U. Dennoch geben wir üblicherweise jemandem die Schuld, wenn er oder sie sitzen bleibt; oder loben wir den- oder diejenige für ein sehr gutes Zeugnis.
Diese in der Psychologie Attributionsfehler genannte Verzerrung ist seit Jahrzehnten bekannt; dennoch urteilen wir tagtäglich so, ohne dass dies vielen von uns auffiele. Was wir tatsächlich mit individueller Kritik oder individuellem Lob tun, ist immer auch die Bestätigung der herrschenden Gesellschaftsordnung und ihrer Regeln.
Individuum oder Umgebung?
Zurück zum Sitzenbleiben: Dieses wäre nur dann von vorneherein sinnlos, wenn die Ursache für das schlechte schulische Funktionieren (nahezu) ausschließlich im Schulkind läge, also im K; dann könnte keine Änderung der Umwelt einen positiven Effekt erzielen. Solche Fälle gibt es sicher, dass jemand schlicht auf der falschen Schulform gelandet ist, dass jemandes Talente auf einem anderen Gebiet liegen, als es etwa das Gymnasium oder die Realschule erfordert.
Wie können wir das aber mit Sicherheit sagen? Wo wir doch nur das Verhalten insgesamt sehen und es großer wissenschaftlicher Bemühungen bedürfe, K und U sorgfältig auseinanderzudividieren? Die Debatte darüber, ob man als unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommt und wie viel genetisch prädeterminiert ist (engl. "Nature vs. Nurture"), wird doch schon seit dem 17. Jahrhundert geführt, ohne dass sich ein eindeutiges Ergebnis abzeichnet.
Im Zweifel für das Schulkind
Sollten wir uns im Zweifelsfalle also für die verengte ökonomische Effizienz entscheiden, die viele andere Aspekte von Kosten und Nutzen außen vorlässt, weil man sie nicht so leicht quantifizieren kann? Oder im Zweifelsfalle für das Schulkind, das eine zweite Chance in einer neuen Umgebung vielleicht doch besser nutzen kann als die erste? Und das in einem Land, das so früh wie kaum ein anderes über die schulische Zukunft entscheidet, nämlich im Alter von nur neun bis zehn Jahren.
Wenn sich freilich durch das Sitzenbleiben weder K noch U der Gleichung signifikant ändern und die Maßnahme zu einer reinen Warteschleife verkommt, dann ist es tatsächlich sinnlos, reine Zeit- und Geldverschwendung - und zwar aller Beteiligten! Darum ist es aber wichtig, nicht alle über einen Kamm zu scheren: Tumbes Wiederholen ist pädagogisch ebenso wenig sinnvoll wie ein generelles Wiederholungsverbot.
Mit anderen Worten: Eine maßgeschneiderte Intervention, die berücksichtigt, wo das Hauptproblem liegt, kann dem Schulkind eine wichtige zweite Chance geben. Eine hierfür förderliche Umwelt kann dann nicht nur das gewünschte Verhalten begünstigen, sondern langfristig auch den Menschen, das K in der Formel, in positiver Weise prägen, wie es schließlich der Sinn einer humanistischen Bildung ist.