"Sitzenbleiben ist sinnlos"

Seite 3: Aus persönlicher Sicht

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An diesem Punkt möchte ich mit meiner persönlichen Erfahrung enden. Ich werde das Gespräch mit einem Lehrer, nennen wir ihn Herrn P., auf dem Schulhof an einem sonnigen Tag im Frühjahr 1997 nie vergessen. Das Ende des Schuljahres näherte sich und es zeichnete sich ab, dass meine Versetzung gefährdet war.

Herr P., der mich schon jahrelang als Klassenlehrer und Tutor protegiert hatte, sprach mir Mut zu: Wenn ich den Lehrerinnen und Lehrern meinen guten Willen zeigen würde, dann könne er sich noch einmal für mich einsetzen. Ich wollte aber nicht mehr; dieses ewige "Weiter so", es gerade so zu schaffen, das fühlte sich nicht mehr gut an. Etwas musste sich ändern. Und das Sitzenbleiben schien mir dafür eine gute Gelegenheit.

Per Konferenzbeschluss vom 14. Juli 1997 wurde ich mit null Punkten in zehn von dreizehn Fächern nicht zur zwölften Klasse des Gymnasiums zugelassen. Ich blieb sitzen. Und das war gut so.

Zeugnis 11 Klasse.jpg Beschreibung: Auf dem Tiefpunkt meiner Schullaufbahn: Wegen Schulverweigerung erhielt ich in fast allen Fächern null Punkte. Die Zeit hatte ich mir stattdessen in der Stadt- oder Landesbibliothek oder der damals gerade entstehenden Onlinewelt vertrieben. Ich bekam eine zweite Chance in der Schule - und nutzte sie. Entscheidend dafür war aber auch eine andere Umwelt. Nur drei Jahre später würde ich das Gymnasium mit sehr guter Durchschnittsnote abschließen. (Namen und Unterschriften Dritter sind aus Gründen des Persönlichkeitsrechts unkenntlich gemacht.)

Neue Umgebung, neue Chance

Das wiederholte Jahr war oft langweilig, gab mir aber auch eine Verschnaufpause und Zeit zum Nachdenken. In der neuen Umgebung kannte man mich nicht als Schulversager. Die Jungs hatten Gerüchte aus wilden Zeiten gehört und daher Respekt vor mir. Ende des Jahres zog ich aus, im Alter von 17. Die neue Umwelt war zwar nicht unbedingt dem Lernen förderlich, wie bei manchen Klassenkameradinnen und Kameraden, hatte aber viel weniger Hindernisse.

Wer hätte damals gedacht, dass ich fünfzehn Jahre später W3-Universitätsprofessor (auf Zeit) sein würde? Ohne den Gymnasialabschluss wäre das nicht möglich gewesen. Und ohne mein Studium hätte ich wohl nie diese Texte geschrieben, von denen Sie gerade einen lesen.

Den Lehrerinnen und Lehrern, die mich damals nicht völlig abgeschrieben haben, bin ich bis heute unendlich dankbar.

Ungerechtes Bildungssystem

Deutschland ist international bekannt für sein sozial ungerechtes Bildungssystem, und zwar schon seit vielen Jahrzehnten: Wohlstand und Bildungsstatus der Eltern bestimmen in großem Maß den Bildungserfolg der Kinder. In den Worten des Bildungsforschers René Krempkow:

Zwar schaffen schon es schon von der Grundschule bis zur Hochschule nur etwa halb so viele Nichtakademiker-Kinder wie Akademiker-Kinder… Wie unsere Analyse zeigt, hört aber danach die soziale Selektivität keineswegs auf: Bis zum Master verändert sich die Relation der beiden Herkunftsgruppen weiter, und zwar auf knapp 1:6. Das heißt, auch innerhalb des Hochschulsystems sind die Chancen bis zum Masterabschluss für Nichtakademiker-Kinder nicht besser. Die Chancen an den Hochschulen sind vielmehr bis zum Master sogar nur rund ein Drittel so hoch wie für Akademiker-Kinder und damit insgesamt geringer als im Schulsystem.

René Krempkow

Auf die politische Agenda

Auf der politischen Agenda brauchen wir keine hundertste als ökonomische Effizienzsteigerung getarnte Ausgrenzungsmaßnahme sozial Schwächerer, sondern dringendst Anpassungen im Sinne der sozialen Gerechtigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Nicht mehr und nicht weniger.

Aus bildungsfernen Familien schafft nur einer von Hundert einen Doktorgrad. Das sind zehnmal weniger als aus Akademikerfamilien. Und dennoch gibt es sie. Sie lasen gerade einen Text von einem.