Soziale Medien: Verdrahtete Versuchskaninchen – Generation Z

Ein Mädchen, das schwarze Lederjacke und Kopfhörer trägt, Smartphone verwendet und über eine Brücke geht

Bild: Zivica Kerkez / Shutterstock

US-Sanitätsinspekteur fordert Warnhinweis für soziale Medien. Er ist nicht der Einzige, der vom Risiko für Einsamkeit, Angstzustände und Depressionen überzeugt ist.

Zu Beginn der Corona-Jahre veröffentlichte Vivek Murthy, Sanitätsinspekteur der USA (Surgeon General) und damit der höchstamtliche "Arzt der Nation", sein Buch "Together", eine wichtige Reflexion über Einsamkeit, die bereits vor dem Jahr 2020 besorgniserregende Ausmaße angenommen hatte.

Neben einer Reihe von grundlegenden Erkenntnissen wartet sein Buch auch mit vielen Lösungsvorschlägen auf. Soziale Medien und deren Auswirkungen sind ebenfalls Thema. Murthy warnt:

Die ständige Präsenz der sozialen Medien schafft die Illusion, dass wir nie allein sein müssen - und dass etwas mit uns nicht stimmen muss, wenn wir uns allein fühlen.

Vivek Murthy

Murthy, der bereits von dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama zum Surgeon General der USA ernannt wurde, wurde auch von Präsident Joe Biden in das Amt berufen. Der Sanitätsinspektor ist einer der Leiter des United States Public Health Service.

Letztes Jahr folgte dann seine erste deutliche Warnung in seinem Bericht Surgeon General’s Advisory:

Die derzeitigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass soziale Medien zwar für einige Kinder und Jugendliche von Nutzen sein können, dass es aber auch zahlreiche Anzeichen dafür gibt, dass soziale Medien die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen erheblich gefährden können.

Vivek Murthy

Eine weitreichende Forderung

In einem Meinungsbeitrag in der New York Times fordert Murthy aktuell staatlich vorgeschriebene Warnhinweise auf sozialen Medien. Sie sollen denen ähneln, die vor genau sechzig Jahren der damaligen US-Surgeon General auf Zigaretten erfolgreich gefordert hatte.

Schon zu Anfang seines Beitrags lässt Murthy nichts an Klarheit vermissen:

Eine der wichtigsten Lektionen, die ich während meines Medizinstudiums gelernt habe, war, dass man in einem Notfall nicht den Luxus hat, auf perfekte Informationen zu warten. Man bewertet die verfügbaren Fakten, nutzt sein bestes Urteilsvermögen und handelt schnell.

Die Krise der psychischen Gesundheit junger Menschen ist ein Notfall – und die sozialen Medien haben sich als ein wichtiger Faktor erwiesen. Jugendliche, die mehr als drei Stunden pro Tag mit sozialen Medien verbringen, haben ein doppelt so hohes Risiko, an Angstzuständen und Depressionen zu erkranken, und die durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer in dieser Altersgruppe lag im Sommer 2023 bei 4,8 Stunden.

Darüber hinaus gibt fast die Hälfte der Jugendlichen an, dass sie sich durch soziale Medien in Bezug auf ihren Körper schlechter fühlen.

Es ist an der Zeit, einen Warnhinweis auf Social-Media-Plattformen einzuführen, der besagt, dass Social Media mit erheblichen psychischen Schäden für Jugendliche verbunden ist.

Vivek Murthy, New York Times

Der Dopamin-Kick

Hintergrund für die Sorgen des Mediziners ist die bewusste Konzeption von sozialen Medien als Drogen. Sean Parker, ehemaliger Präsident von Facebook, gesteht dies offen ein:

Wir müssen Dir sozusagen ab und zu einen kleinen Dopamin-Kick verpassen, weil jemand ein Foto oder ein Posting oder sonst was geliket oder kommentiert hat. (…) Das ist eine Feedbackschleife für soziale Anerkennung (…)

Genau das, was ein Hacker wie ich sich ausdenken würde, weil man damit eine Schwachstelle der menschlichen Psyche ausnutzt. (…) Die Erfinder, die Urheber – Leute wie ich, Mark (Zuckerberg), Kevin Systrom von Instagram, all diese Leute – haben das auf einer ganz bewussten Ebene verstanden.

Und wir haben es trotzdem gemacht (…) es verändert buchstäblich Deine Beziehungen zur Gesellschaft und untereinander. (…) Wer weiß, was es mit den Gehirnen unserer Kinder anstellt.

Sean Parker

Die bemerkenswerte Netflix-Dokumention "Das Dilemma mit den sozialen Medien" gewährt einen detaillierten Blick hinter die Kulissen einer Industrie, die ganz bewusst führende Neurowissenschaftler eingestellt hat, um die Wahrscheinlichkeit, die Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange auf der jeweiligen App zu halten und möglichst viel Aufmerksamkeit als Bezahlung zu erhalten.

Es passt daher ins Bild, dass ein Start-up mit dem sprechenden Namen Dopamine Lab (jetzt: Boundless Mind) seinen Kunden verspricht, "Dopamine makes your app addictive". (deutsch: Dopamin weckt das Suchtpotential Ihrer App). Die Soziologin Sherry Turkle betonte daher schon vor fast zehn Jahren in ihrem Buch Reclaiming Conversation:

Wenn wir uns "süchtig nach unseren Handy" fühlen, ist das keine persönliche Schwäche. Wir zeigen eine vorhersehbare Reaktion auf ein perfekt ausgeführtes Design.

Sherry Turkle

Ausreichend solide Forschung

Der US-amerikanische Psychologe Jonathan Haidt hat mit seinem vor wenigen Tagen auf Deutsch erschienen Buch Die Generation Angst vermutlich das gegenwärtige Standardwerk über die Forschung zu den Auswirkungen der sozialen Medien veröffentlicht.

Zudem schreibt er regelmäßig auf seiner Webseite afterbabel.com über dieses Thema und veröffentlicht gemeinsam mit Mitarbeitern eine beeindruckende Liste an Studien. Nicht weniger als 335 Seiten gesammelter aktueller Forschungsergebnisse hat er versammelt und zusammenfassende Artikel geschrieben (siehe auch hier).

Am Beispiel der USA belegt Haidt, dass es von den 1990er-Jahren bis Mitte der 2000er-Jahre keine Anzeichen für ein Problem der psychischen Gesundheit von Jugendlichen gab. Doch im Jahr 2015 war die psychische Gesundheit von Jugendlichen dann ein massives Thema.

Einsamkeit, Angst, Depression und Selbstverletzung

Einsamkeit, Angst, Depression und Selbstverletzung stiegen steil an. Ebenso ist ein deutlicher Anstieg der Notaufnahmen und Krankenhauseinweisungen wegen Selbstverletzungen bei jugendlichen Mädchen zu verzeichnen sowie einen Anstieg der tatsächlichen Selbstmorde bei Jungen und Mädchen seit 2010.

Die USA sind jedoch keineswegs allein. Beispielsweise zeigte eine Studie mit 10 Ländern (dem angloamerikanischen und dem skandinavischen Raum), dass Depressionen, Angstzuständen und anderen Indikatoren für psychisches Unwohlsein seit 2010 in all diesen Ländern gestiegen sind.

Psychische Probleme nehmen seit Corona-Krise zu

Dass seit den Corona-Jahren psychische Probleme noch einmal massiv zugenommen haben, auch in Deutschland, wurde hier bereits näher thematisiert. Die Datenbasis ist also erschreckend solide, dennoch ist der Widerstand gegen Haidts Erkenntnisse und Forderungen groß.

Haidt schreibt:

Die meisten unserer Kritiker behaupten nicht, dass soziale Medien harmlos sind. Sie sind der Meinung, dass die von uns zusammengetragenen Beweise nicht stark genug sind, um sicher zu sein, dass soziale Medien schädlich sind.

Fast alle sind sich inzwischen einig, dass es Zusammenhänge zwischen der Nutzungsdauer und dem Ausmaß an Depressionen und Angstzuständen gibt, aber einige Kritiker argumentieren, dass die Korrelationen zu gering sind, um eine so große Veränderung bei dem Ausmaß psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen zu verursachen.

Jonathan Haidt

Es scheint, dass Haidt nun einen entschlossenen Mitkämpfer in hoher Position hat. Murthy betont in seinem Beitrag in der New York Times:

Eines der schlimmsten Dinge für Eltern ist es, zu wissen, dass ihre Kinder in Gefahr sind, aber nichts dagegen tun zu können. Genau so fühlen sich Eltern, wenn es um soziale Medien geht - hilflos und allein angesichts giftiger Inhalte und versteckter Gefahren.

Das muss nicht so sein. Angesichts der hohen Zahl von Todesfällen durch Autounfälle Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts forderte der Gesetzgeber erfolgreich Sicherheitsgurte, Airbags, Crashtests und eine Reihe anderer Maßnahmen, die die Autos letztendlich sicherer machten.

Vivek Murthy

Murthy fragt:

Warum haben wir es versäumt, auf die Gefahren der sozialen Medien zu reagieren, obwohl sie nicht weniger dringlich oder weit verbreitet sind als die Gefahren, die von unsicheren Autos, Flugzeugen oder Lebensmitteln ausgehen? Diese Schäden sind kein Versagen von Willenskraft und Elternschaft; sie sind die Folge der Entfesselung mächtiger Technologien ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen, Transparenz oder Rechenschaftspflicht.

Vivek Murthy

Konkrete Lösungsvorschläge

Jonathan Haidt bietet in "Generation Angst" eine Reihe von konkreten Lösungsvorschlägen an. Die Basis hierfür bildet seine Forderung, keine Smartphones vor dem Alter von 14 Jahren, keine sozialen Medien vor dem Alter von 16 Jahren. Ebenso handyfreie Schulen und mehr freies Spiel.

Murthy schlägt ähnliches vor. Schulen sollten dafür sorgen, dass Lernen und das Zusammensein mit anderen ohne Handy möglich ist.

Eltern sollten rund um die Schlafenszeit, die Mahlzeiten und soziale Treffen handyfreie Zonen einrichten. Zugang zu soziale Medien sollten sie erst nach der Mittelstufe erlauben.

Selbstverständlich ist Murthy nicht so lebensfremd, dass ihm nicht klar ist, wie schwierig sich die reale Umsetzung gestaltet. Deshalb schlägt er vor, dass möglichst viele Eltern mit anderen Familien zusammenarbeiten, um so gemeinsame Regeln aufzustellen, sodass kein Elternteil allein kämpfen muss.

Handeln jetzt – positive Resultate

Angesichts des Ausmaßes der Gesundheitskrise, die sich weltweit zeigt und der Geschwindigkeit mit der sie sich ausbreitet, betont Murthy, dass man schlicht nicht den Luxus hat auf absolut vollständige und unwiderlegbare Beweise zu warten, bevor man sich – ähnlich wie bei Zigaretten – daran macht, Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit zu treffen.

Auch Haidt pflichtet dem bei:

Es besteht die Möglichkeit, dass ich falschliege. Aber lassen Sie uns annehmen, dass sich irgendwann herausstellt, dass der Grund für die Zunahme psychischer Erkrankungen nicht die Smartphones sind. Welchen Preis haben wir dann gezahlt? Es kostet nichts, die Dinge zu tun, die ich vorschlage. Aber was, wenn ich recht habe, und wir unternehmen jetzt nichts?

Wir sprechen über Hunderte Millionen junger Menschen auf der ganzen Welt, die weniger intelligent, weniger glücklich und weniger kompetent sein werden. Wir erleben eine massive Zerstörung des Humankapitals globalen Ausmaßes.

Jonathan Haidt, Interview mit der Welt

Studien geben tatsächlich Anlass zu einem verhaltenen Optimismus. In einer großangelegten Studie wurden Menschen dafür bezahlt, Facebook für einen Monat zu deaktivieren.

Das Resultat: Die Menschen trafen sich deutlich häufiger mit Freunden und Bekannten in der realen Welt, fühlten sich glücklicher und – das sollte betont werden – langweilten sich weniger. Als die Facebook-Diät wieder aufgehoben wurde, kehrten diejenigen, die 30 Tage abstinent gelebt hatten, nur langsam zu ihrer alten Gewohnheit zurück und verbrachten auch anschließend deutlich weniger Zeit auf der Plattform.

Das Experiment dürfte auch bei anderen sozialen Medien, die in der Generation Z populärer sind, ähnlich ausfallen.

Generation Z

Dass es dringenden Handlungsbedarf gibt, zeigen nichts zuletzt auch eine Reihe von Äußerungen der Generation Z. Die Journalistin Freya India, selber zur Generation Z gehörend, schreibt:

Die Generation Z war das Versuchskaninchen in diesem unkontrollierten globalen sozialen Experiment. Wir waren die ersten, deren Schwächen und Unsicherheiten in eine Maschine eingespeist wurden, die sie ständig vergrößerte und auf uns zurückwarf, bevor wir überhaupt wussten, wer wir waren.

Wir sind nicht nur mit Algorithmen aufgewachsen. Sie haben uns großgezogen. Sie haben unsere Gesichter umgestaltet. Unsere Identität geformt. Haben uns eingeredet, wir seien krank.

Freya India

Ihr Artikel trägt die vielsagende Überschrift "Algorithmen haben meine Generation gekapert. Ich fürchte um die Generation Alpha".

Die Generation Alpha sind Kinder und Jugendliche, die etwa ab dem Jahr 2010 geboren sind. Ähnlich nachdenklich äußerte sich auch eine Studentin während eines Vortrages gegenüber dem Autor dieser Zeilen: Ihre Generation sei handysüchtig. Im Gegensatz zur Generation Alpha ist ihnen das schmerzhaft bewusst.

Murthy schließt sein Essay mit einem dringenden Aufbruch zur Handlung ab:

Der moralische Test für jede Gesellschaft ist, wie gut sie ihre Kinder schützt. (...) Wir haben das Fachwissen, die Ressourcen und die Werkzeuge, um die sozialen Medien für unsere Kinder sicher zu machen. Jetzt ist es an der Zeit, den Willen zum Handeln aufzubringen. Das Wohl unserer Kinder steht auf dem Spiel.

Vivek Murthy

Literatur:
Jonathan Haidt: Generation Angst
Vivek Murthy: Together
Richard Layard: Wellbeing
Sherry Turkle: Reclaiming Conversation

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