Soziale Proteste: Die Linke als Diskurspolizei?

Von den Septemberstreiks vor 53 Jahren bis zu den ostdeutschen Betriebskämpfen gibt es aktuell genügend historische Anknüpfungspunkte. Doch die Linke bleibt passiv. Wie den Rechten das Feld überlassen wird.

Aktuell ist die Zeit der Gesundbeter, die die Lage trotz hoher Inflation und eines bevorstehenden Winters mit zu erwartender Energiearmut bisher unbekannten Ausmaßes schönreden. Befürchtet wird von den ideologischen Staatsapparaten, dass ein Teil der Bevölkerung dieses Zweckoptimismus nicht teilt und womöglich auf die Straße geht, um eine andere Politik zu fordern.

In liberalen Medien kommen Psychologen zu Wort, die erklären, wie man die Krise meistern und aushalten kann. Diesen Zweckoptimismus bedienen auch Politik und Medien. "5:1 für die Zuversicht", titelte die linksliberale taz und vermeldet, dass außer der AfD alle im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien davon ausgehen, die Krise in der Hauptstadt sei gemeistert.

Eigentlich müsste es als großes Warnsignal verstanden werden, wenn es keine linken Parteien gibt, die angesichts der drohenden massiven Inflation und Energieknappheit mit noch unklaren Folgewirkungen den Widerstand der Bevölkerung gegen diese Politik und ihre Profiteure unterstützen. Denn eine solche Kraft wäre auch ein großer Beitrag gegen rechts.

Wenn aber eine ganz Große Koalition – außer der AfD – im Berliner Abgeordnetenhaus auf Zweckoptimismus setzt, ist das ein großes Geschenk für die Rechten.

Eine Linke, die in soziale Kämpfe eingreift

Das hat der Publizist Sebastian Friedrich in seiner Kolumne in der Wochenzeitung Freitag gut herausgearbeitet, wenn er fragt, ob die linke Bewegung in den kommenden Protesten eingreifen oder nur Diskurspolizei spielen wird. Das hört sich zunächst allgemein an, doch Friedrich wird konkreter:

Entscheidend wird dann aber tatsächlich nicht sein, ob Linke akribisch jede einzelne rechte, rechtsoffene oder verschwörungsideologische Aussage zählen und notieren, sondern ob es ihnen gelingt, den reaktionären Deutungen linke, also sozialistische entgegenzusetzen. Ob es ihnen gelingt, da Überzeugungsarbeit zu leisten, wo es möglich ist, und da, wo nichts mehr geht, unmissverständlich Grenzen aufgezeigt werden könne.

Sebastian Friedrich im Freitag

Dabei wäre es auch eine wichtige Aufgabe linker Organisationen, heute weitgehend vergessene historische Kämpfe aufzuarbeiten und populär zu machen. Mit Blick auf den Ukraine-Konflikt wäre es beispielsweise wichtig, an die Zimmerwalder Konferenz vor 107 Jahren und die sich dort formierende Zimmerwalder Linke zu erinnern.

Von ihr kam damals über "die dampfenden Schlachtfelder und die zerstörten Städte und Dörfer hinweg" der Aufruf, die Proletarier der kriegsführenden Staaten sollen sich nicht weiter abschlachten lassen, sondern vereinen.

Das ist in Zeiten, in denen auch Linke in Russland, der Ukraine und Deutschland mit ihren Regierenden in realen und geistigen Schützengräben liegen, eine wichtige Erkenntnis.

In Bezug auf die Proteste gegen die steigende Inflation und drohende Energiearmut wäre es wichtig, an die heute weitgehend vergessenen Septemberstreiks zu erinnern, die sich bald zum dreiundfünfzigsten Mal jähren.

Diese nicht von der DGB-Führung, sondern von den Arbeitern an der Basis organisierten Ausstände fielen in eine Zeit des gesellschaftlichen sozialen Aufbruchs, der Apo, die fälschlich immer als Studentenbewegung klassifiziert wird.

Doch der gesellschaftliche Aufbruch beeinflusste alle Bereiche der Gesellschaft, darunter natürlich auch die Lohnabhängigen. Mit den Streiks reagierten die Beschäftigten auf die konjunkturelle Entwicklung – sie wollten Reallohnverluste verhindern. Dafür setzten sie setzten ihr wichtiges Kampfmittel ein, die Arbeitsniederlegung, die damals noch allgemein bekannt war.

Heute ist das anders. Solche Erfahrungen aus den Kämpfen der Arbeiterbewegung sind in Vergessenheit geraten, was dazu führt, dass Streiks als Kampfmittel gegen Inflation oft auch in linken Gruppen gar nicht erwähnt werden.

Heißer Herbst; Es kommt auch auf die Gewerkschaften an

Zumindest einige Publizistinnen und Publizisten erinnern sich noch daran. Neben Sebastian Friedrich ist das Nina Scholz. "Heißer Herbst, es kommt auch auf die Gewerkschaften an", lautete die Überschrift ihrer Kolumne. Dabei hat sie keine Illusionen über die Position der aktuellen Gewerkschaftsführungen:

Während Unternehmer seit Jahren die Sozialpartnerschaft sukzessive aufkündigen, gegen Streiks klagen, gewerkschaftliche Arbeit mit Hilfe großer Kanzleien verhindern, Boni einstreichen, wo Stellen gekürzt werden, halten die großen Gewerkschaften diese Sozialpartnerschaft hoch. Gegen die rasanter wachsende Ungleichheit aber hilft nicht allein eine Tarifrunde. Die drängende Frage ist, ob sich die Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) als kämpferischer Teil der Gesellschaft begreifen, der aktuell keine Gewinne macht. Das würde bedeuten, sich proaktiv und kämpferisch in Bündnissen zu engagieren, die nicht nur für die eigenen Mitglieder kämpfen.

Nina Scholz, Freitag

Ostdeutsche Betriebskämpfe gegen die kapitalistische Landnahme

Wie bei den Septemberstreiks vor 53 Jahren müsste der Druck von der Basis der Beschäftigten ausgehen. Dazu ist es natürlich wichtig, diese historischen Erfahrungen überhaupt zu kennen. Und nicht nur sie. Marek Winter erinnert in einem Artikel in der Wochenzeitung Jungle World an vergessene betriebliche Kämpfe, die kaum 30 Jahre her sind:

Schon einmal wurde in Ostdeutschland gegen Werkschließungen gekämpft, in den frühen neunziger Jahren, als nach dem Beitritt zur Bundesrepublik im Zuge der Zerschlagung des "Volkseigentums" durch die Treuhand Industriebetriebe massenhaft geschlossen bzw. ihre Belegschaften verkleinert wurden. Diese Abwehrkämpfe, die auch Streiks und Besetzungen umfassten, endeten in einer schweren Niederlage.

Marek Winter, Jungle World

Es ist schon frappierend, wie sehr diese Auseinandersetzungen in vielen Städten Ostdeutschlands verdrängt wurden. Dabei hatte damals ein Bündnis kritischer Gewerkschaftler aus Ost und West in Berlin diese Kämpfe unterstützt.

Aber diese Verdrängung kämpferischer Gewerkschaftsgeschichte ist auch eine Einladung an die Rechten. Die können nun einen Zusammenhang zwischen den nach rechts offenen Montagsdemonstrationen in der späten DDR bis zu Pegida und AfD eine Verbindung herstellen.

Dagegen steht eine linke DDR-Opposition, die gegen die autoritäre SED-Herrschaft den Sozialismus real durchsetzen wollen. Die Kämpfe gegen die Zerschlagung der DDR-Betriebe gehören in diesen Kontext als der Kampf für eine unabhängige DDR schon verloren war.

Man kann auch sagen, es waren Kämpfe gegen die kapitalistische Landnahme, die die realen Rechte der Lohnabhängigen in der DDR ausradierten. Es ist zu begrüßen, wenn jüngere Linke sich heute wieder an diese Kämpfe erinnern und nicht nur zu historischen Zwecken.

Wenn jetzt Habeck und Co. in Schwedt die Deindustrialisierung Ostdeutschlands fortsetzen wollen, könnte es dann auch Proteste führen, die an diese Betriebskämpfe vor über 30 Jahren anschließen.

Dann könnte Ostdeutschland tatsächlich eine Keimzelle neuer Sozialproteste werden, die nicht, wie der Zivilgesellschaftler David Begrich fürchtet, rechts dominiert sind.

Es wäre dann vielmehr Proteste, die die AfD und andere Rechte fernhalten wurde, ohne dass sich die Linke zur Diskurspolizei macht oder genau deswegen. Sie würde dann in die Kämpfe eingreifen. Doch hat sie noch das Selbstbewusstsein dafür?