Sozialpädagogische Menschenrechtsverletzungen
Für die Zustände in deutschen Gefängnissen sind auch Gemeinschaftsideologien aus den 1970er Jahren verantwortlich
In den letzten Jahren las man mit schöner Regelmäßigkeit von Folter, Mord und teilweise sehr seltsamen "Selbstmorden"1 in deutschen Gefängnissen - zuletzt in der Jugend-Justizvollzugsanstalt Regis-Breitingen, dem "sächsischen Abu-Ghuraib".
In diesem Fall kam (wie in zahlreichen anderen zuvor) scheibchenweise ans Tageslicht, dass in der Haftanstalt Gewalt offenbar kein Ausnahmefall, sondern Normalität war. Die stellvertretende Anstaltsleiterin Claudia Ramsdorf musste unter anderem zugeben, dass auch die Trennung von erstmals und wiederholt Inhaftierten die sofortige Bildung von Hierarchien nicht verhindern konnte und dass es Gefangene gab, die aus Angst vor Gewalt das Duschen verweigerten.
Mittlerweile ist bekannt, dass nicht nur gegen einen Fünfzehn- und einen Vierundzwanzigjährigen Anklagen wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchtem Mordes an einem Achtzehnjährigen erhoben wurden. Insgesamt ermittelte man gegen neun Täter, die ihn zwischen dem 20. April und dem 24. Mai 2008 auf verschiedene Weise gefoltert haben sollen. Unter anderem soll das Opfer mit kochendem Wasser verbrüht und mit einem Besenstiel verprügelt worden sein. Auch sei versucht worden, den Mann zu erwürgen und in den Selbstmord zu treiben.
Kurz nach dem Öffentlichwerden der Vorgänge meldete sich der sächsische Berufsverband der Strafvollzugsbediensteten mit einer Forderung, die man von den Gefängnisfällen der letzten Jahre kannte - nämlich, dass es zu wenig Personal gebe. Diesmal allerdings bestritt Justizminister Mackenroth vehement, dass die Vorgänge darin begründet lägen und sprach stattdessen von einer "überdurchschnittlichen Personalausstattung".
Tatsächlich hätten ein oder zwei Wärter mehr den Fall in Sachsen möglicherweise nicht verhindert. Denn der dort und in anderen deutschen Gefängnissen praktizierte Strafvollzug bietet Gewalttätern auch ohne die Mehrfachbelegung von Zellen Möglichkeiten, ihren Neigungen nachzugehen. Regis-Breitingen ist nämlich eine Jugendstrafanstalt mit so genanntem "Wohngruppenvollzug" - einer Erfindung der sozialpädagogischen 1970er Jahre. Geleitet von einem Zeitgeist, der Einzelzellen mit einer unpassende Metapher als "Isolationsfolter" schmähte, stellte man sich "Wohngruppen" damals wie Wohngemeinschaften vor und verschloss die Augen davor, dass es nicht nur Soziologiestudenten, sondern auch Soziopathen und gerichtlich zertifizierte Gewaltexperten gibt, die in Milieus wie Gefängnissen oder dem Militär durchaus bestimmendere Rollen einnehmen können.
In einem Wohngruppenvollzug sollen 10 bis 12 Häftlinge "zusammenleben", wozu es neben den Zellen auch "Gemeinschaftsräume" gibt. Im dreistöckigen "Ersttätervollzugshaus F" in Regis-Breitingen, wo es zu den Folterungen kam, konnten sich die Häftlinge jeden Tag zwischen 8 Uhr 30 und 21 Uhr 30 aufhalten, wo sie wollten.
Dass solch ein "Umschluss" eine sehr gefährliche Sache ist, war spätestens seit 2006 bekannt. In diesem Jahr erschien eine Studie, die darlegte, dass der Löwenanteil von insgesamt 2.436 untersuchten Gefängnisgewalttaten zwar in Mehrfachzellen stattfand, aber immerhin ein Viertel "im Rahmen von Umschluss oder Aufschluss" begangen wurde. Trotzdem schaffte man ihn in Regis-Breitlingen auch nach den Folter-Vorfällen nicht ab, sondern verkürzte den „Umschluss“ lediglich. Einer der Täter konnte sich so angeblich auch später noch an Gewaltakten beteiligen.
In den Wohngruppen sollen die Gefangenen "soziales Miteinander trainieren". Genau dieses "soziale Miteinander" ist aber, wie die Studie aus dem Jahr 2006 als eine der ersten empirischen auf einem sonst fast ausschließlich theoretisch beackertem Gebiet feststellte, ganz von "alltäglich praktizierten Strategien von Unterwerfung" geprägt. In den USA führte solch ein "soziales Miteinander" unter anderem zur Bildung von Banden wie der Aryan Brotherhood oder La Eme, die bald auch außerhalb von Gefängnissen als organisiertes Verbrecherbanden auftraten. Doch auch ohne explizite Bandenbildung bieten die "Gemeinschaftserlebnisse" in Gefängnissen einzigartige Möglichkeiten zum Austauschen von Fachwissen und zum Knüpfen von Kontakten, die aus Kriminellen erst Schwerkriminelle machen.