Spaß beiseite - Köhler kommt

Deutschland muss endlich wieder rechnen lernen

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Dass Deutschland nach dem altersmilden Anstands-Rau-Rau nun einen Banker als Bundespräsident bekommt hat einen Vorteil: der Mann kann rechnen und uns Bürgern vielleicht auch klar machen, dass wir wieder Rechnen lernen müssen. Wenn in China ein Facharbeiter für 61Cent die Stunde antritt, während in Deutschland 16 Euro Kosten für eine Arbeitsstunde fällig werden - wo wird ein vernünftig kalkulierender Unternehmer seine nächste Produktionsstätte einrichten? Wenn ein deutscher Arbeiter in zwei Wochen soviel verdient wie der chinesische Kollege im ganzen Jahr, kann sich dann nicht jeder ausrechnen, wo in Zukunft Millionen Arbeitsplätze entstehen - und wo sie weiter abgebaut werden?

Für den frommen Bruder Johannes waren derlei Dilemmata der Globalisierung zu finster, als dass er sie den Bürgerinnen und Bürgern erklärt und nahegebracht hätte - Rau erinnerte lieber daran, nicht alles auf das Materielle zu reduzieren und weiter auch den "Menschen" zu sehen.

Das wird sich mit seinem Nachfolger jetzt wohl ändern. Aus seinem letzten Job beim Internationalen Währungsfond kennt er die Länder, wo für 61 Cent die Stunde gearbeitet wird, aus dem Effeff - und weiß wohin die Reise geht:

Deutschland steht noch vor weiterem schwierigen Wandel, wenn es seinen Wohlstand sichern möchte. Bundeskanzler Schröder hat mit der Agenda 2010 den richtigen historischen Schritt zurückgelegt. Wir müssen den Sozialstaat durch Umbau sichern, daran gibt es gar keinen Zweifel.

Köhler in einem seiner ersten Interviews nach der Nominierung

Man merkt, der Mann ist internationales Parkett und diplomatischen Umgangston gewohnt: "den Sozialstaat durch Umbau sichern" klingt irgendwie besser als "Reform", "Anpassung" oder gar "Abbau". Fragt sich nur, wie wir das mit den 15, 39 EU Lohn pro Stunde lösen, die zwischen unseren Werktätigen und denen in China klaffen. Auf Zeit zu setzen, auf dass bei dem potentiellen Milliardenheer von 61-Cent-Sklaven die Bedürfnisse steigen, die Kranken- und Rentenversicherung durchgesetzt, Tarifrechte eingeführt werden und das Lohniveau sich angleicht, scheint für die kommenden Jahrzehnte völlig aussichtslos. Alle heimischen Arbeiter/innen zu entlassen und in Ich-AGs zu verwandeln, die dann wiederum auf eigene Rechnung zwei, drei Chinesen einstellen, funktioniert ebenfalls nur theoretisch, und vor allem nur, wenn die billigen Hilfskräfte bleiben, wo sie sind. Sobald sie in Deutschland wohnen, essen, U-Bahn fahren und zum Arzt gehen müssen, haut das ja mit den 61 Cent pro Stunde nicht mehr hin.

Wie aber sollen die Millionen von neuen Ich-AGs kontrollieren, ob ihre Abermillionen von neuen Angestellten im fernen China auch richtig arbeiten ? Organisatorisch ist das kaum zu bewältigen, es sei denn, man zieht um. Aber wer zieht schon freiwillig in ein Land, wo er nicht einmal die Fußballergebnisse lesen kann? Wenn wir also die Chinesen nicht herholen können, weil Europa zu eng und zu teuer ist, und selbst nicht nach China übersiedeln wollen, was bleibt?

Wir werden tendenziell nicht darum herumkommen, auch in Europa chinesische Verhältnisse einzuführen: Maloche für'n Appel und'n Ei ist angesagt, der Trend geht zum Sklavenlohn - ansonsten wandert die Arbeit gnadenlos aus. Helfen könnten nur Handelsschranken, Zollbarrieren, Abschotten der Binnenmärkte - Instrumente, die der Bundespräsident in spe gut kennt und bei seinem letzten Arbeitgeber IWF verurteilen musste wie der Teufel das Weihwasser. Das wird er auch weiterhin tun - und auf seine Erklärungen sind wir gespannt. Denn, so der Kandidat gestern in der "Bild"-Zeitung:

Die Politik hat den Bürgern bisher nicht erklären können, warum sie sparen müssen, deshalb haben viele das Vertrauen in die Politik verloren.

Da braucht es in der Tat einen international versierten Rechenkünstler, der uns das erklärt - vor einem Jahr meldete "Radio China International" noch:

Der derzeit in China weilende Präsident des Internationalen Währungsfonds, Horst Koehler, stellte am Montag fest, Asien sei immer noch der Dreh- und Angelpunkt der globalen Wirtschaft. Das rasche Wachstum der chinesischen Wirtschaft und der weiter wachsende Handel kämen der globalen und regionalen Wirtschaft zugute.

Wie es dem "Standort Deutschland" und Europa zugute kommen soll, wenn VWs nicht mehr in Wolfsburg, sondern in China zusammengeschraubt werden, dies seinen Schäfchen vorzurechnen hat Koehler als Bundespräsident fünf Jahre Zeit - und übt sich derweil, beim ersten TV-Auftritt in der "Johannes B. Kerner"-Show mit der künftigen First Lady schon mal im präsidialen Gutzureden und Johannes-artigem Salbadern: "Es ist nicht alles schwarz zu sehen" und: "Es gibt keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen". Na denn - verdrücken wir uns fröhlich auf die Rechenbank...

Mathias Bröckers