Spiel/Film

Wenn die Videogames ihre Ambitionen verwirklichen wollen, mit dem Film gleichzuziehen, dann müssen sie sich von dessen Vorbild lösen

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Es begann als ein Medium der Bastler und Tüftler. Hat angefangen als Nebenprodukt, Spielerei, Experiment im Labor. Kannte zunächst kaum die Trennung in Hardware und Software, in Apparatur und Programm. War wissenschaftliches Kuriosum, bis jemand den Unterhaltungswert für die gewöhnliche Öffentlichkeit erkannte. Bis clevere Geschäftsleute, Schausteller das Marktpotential erkannten, es zur Attraktion gegen Bares, zum Vergnügen gegen Münzeinwurf machten: Das Medium Film hat in seiner Entstehung erstaunlich viel gemeinsam mit Videospielen.

Pong

Noch heute kann man in Disneyland in den PennyArcades originale Edison-Kinetoskope neben Videospiel-Automaten stehen sehen; eine greifbare Erinnerung daran, dass bewegte Photographie und Bildschirm-Daddeleien ihre Karriere als eng verwandte Formen kurzfristiger mechanisierter Unterhaltung gestartet haben. Aus beiden Medien sind im Lauf der Zeit regelrechte Wirtschaftszweige erwachsen, mit industriellen Produktionsmethoden und -standards; und von ihrer ökonomischen Bedeutung her haben sie sich weitgehend angenähert. Nach jüngsten Zahlen besitzen über 60% aller US-amerikanischen Haushalte Videospiel-Hardware, vom Umsatz her hat die Branche mit Hollywood gleichgezogen. Der Produktionsaufwand für einen Titel der großen japanischen Softwarehäuser ist von dem für einen Kino-Blockbuster kaum noch zu unterscheiden, weder vom Umfang der Teams, noch von der Entwicklungsdauer, noch vom Budget. Und für die Sozialisation der heute Unter-20-Jährigen dürften Videospiele wohl ein mindestens so entscheidender Faktor sein wie Kino.

30 Jahre gibt es nun Videospiele, 1972 kam PONG heraus (Vgl.Mehr nicht!). (Mit der Festlegung der eigentlichen "Geburtsstunde" ist es bei den Games wie beim Kino: Sie ist letztlich willkürlich, die Liste der "Vorläufer" lang. Im populären Gründungsmythos hat sich aber in beiden Fällen als Stunde Null bezeichnenderweise der Moment durchgesetzt, wo das Medium zum ersten Mal wirklich öffentlich und gegen Bezahlung präsentiert wurde. Schließen wir uns hier der Einfachheit halber dieser Sichtweise an.) Und betrachtet man den rein technischen Fortschritt von Bildschirmspielen in den 30 Jahren ihrer Existenz, dann verlief der ungleich rasanter als der des Films zwischen 1895 und 1925. Der Unterschied zwischen PONG und aktuellen Massive Multiplayer Online-Computerspielen ist, vom technischen Standpunkt, ein wesentlich radikalerer als der zwischen den ersten Lumière-Loops und den späten Stummfilmen.

'Das Cabinett des Doktor Calligari' und 'Resident Evil'

Aber bei allem wirtschaftlichen und technischen Aufblühen des Mediums: Vom Standpunkt der Videospiele als so etwas wie einer "Kunstform" sieht die Sache deutlich bescheidener aus. Keine Frage, wer ex- und intensiv den e-Games zuspricht, wird auch schon große Momente erlebt haben. Wird seine unvergesslichen Spiel-Erlebnisse haben, sich an manche Sequenzen noch nach Jahren erinnern. Und doch: Selbst wenn ein Spiel es schafft, wirkliche Emotionen zu wecken (die Mehrzahl ist ja schon froh, wenn es ihr gelingt, halbwegs unterhaltsam zu sein), und selbst wenn diese Emotionen andere sind als die relativ leicht zu erzeugenden von Überraschung, Panik, Triumph, Staunen - so ist es doch der absolute Ausnahmefall, dass ein Game einen wirklich BERÜHRT. Und, zumindest in meiner Erfahrung, noch nie vorgekommen, dass ein Spiel dies mehr als punktuell schafft - verglichen mit dem, was ein Spielfilm in 90 Minuten alles erreichen kann, ist die Ausbeute bei den Dutzenden von Stunden, die die meisten anspruchsvolleren Games heute zur Bewältigung brauchen, eher armselig.

Nach drei Jahrzehnten hat das Medium einige Designer hervorgebracht, die Außergewöhnliches geschaffen haben. Aber gemessen an dem, was die einstige Jahrmarktsattraktion Kino im selben Zeitraum erreicht hat, ist man noch nicht sonderlich weit gekommen. Miyamoto, Molineux, Suzuki oder wer immer einem einfallen mag - ein Fritz Lang, ein D.W. Griffith, ein Buster Keaton ist nicht dabei. RESIDENT EVIL ist bei weitem kein CABINETT DES DR. CALLIGARI, QUAKE kein BEN HUR, THE SIMS kein THE CROWD.

'Ben Hur' und 'Quake'

Nicht nur scheint das Potential, Videospiele zum durchgehend intensiven, an Wesentlichem rührendem emotionalen Erlebnis zu machen bisher bestenfalls angekratzt (diese Potential, da bin ich mir sicher, hätten sie!) - das, was das Medium sich bisher traut, über das Leben, das Universum und den ganzen Rest zu sagen, ist im Vergleich zu den großen Werken anderer Kunstformen bisher praktisch ohne Ausnahme sehr simpel, konservativ und nah am Klischee gestrickt. Und zwar oft gerade in jenen Titeln (japanischen RPGs beispielsweise), die sich befleißigen, dem Spielfilm in ihrer epischen Anlage Konkurrenz zu machen.

Nun sollte man die Parallele zwischen Kino und e-Spielen auch nicht überstrapazieren. Bei allen augenfälligen Ähnlichkeiten in der Entwicklung - die Voraus- und Zielsetzungen waren an entscheidenden Punkten doch ganz andere. Das fängt mit der banalen Tatsache an, dass Filme in den ersten, Videospiele hingegen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts groß wurden. Kino formte sich in einer Zeit allgemeinen ästhetischen Auf- und Umbruchs, am Wendepunkt zur Moderne, als in allen Künsten das Tradierte grundsätzlich in Frage gestellt wurde, als Experiment, Neuformulierung, Neufindung allüberall im Schwange waren. Die 1970er bis 1990er dagegen waren eine Ära des konservativen Backswing, der weitreichenden Konsolidierung, Kommerzialisierung. Während das Kino in seinen Kinderjahren sehr schnell auch Resonanz fand bei Künstlern und Intellektuellen, wirkten die Videospiele sehr lang (und zu nicht unerheblichem Teil immer noch) nur in Zirkeln von Technikbegeisterten und von adoleszenten Buben. Film wurde schnell eingebunden in einen größeren Diskurs um Ästhetik, wurde schnell auch Gegenstand von grundlegender Reflexion und weitschauender Kritik, fand sich da auf theoretisch wie praktisch sehr fruchtbarem Feld.

'The Crowd' und 'The Sims'

Das alles hat den Games lange gefehlt, wo die einzigen Diskussionen sich ewig nur um Grafik und Sound und höchstens rudimentäre Aspekte des interaktiven Elements beschränkten. Ihren Eisenstein haben die Videospiele wohl noch nicht gefunden. Selbst die frühen Väter des Films, für die Kino zunächst ja auch bloße Technik und nicht Kunstform war, stammten aus einer Zeit, in der eine bürgerliche Erziehung zwangsläufig ein Grundmaß auch an ästhetischer Bildung einschloss, einen gewissen "high-brow"-Horizont vorschrieb. Das war zur Entstehungszeit der Videospiele längst nicht mehr so verbindlich; gerade die Computer- und Techies-Subkultur der 70er und 80er hatte etwas extrem Hermetisches, das als kulturelle Bezugspunkte oft nur Science Fiction, Fantasy und männlich-pubertäre Machtphantasien kannte. Dazu hat im Kino die Standardisierung der "Hardware" sehr früh stattgefunden und nur in relativ großen Abständen entscheidende Neudefinitionen (Tonfilm, Farbfilm, Breitwand) erfahren. Sehr bald war der technische Ablauf der Filmfertigung ziemlich genau vorformuliert, kümmerten sich die eigentlichen "Filmkünstler" quasi technikunabhängig um die "Software".

Bei den Games scheint sich erst jetzt zaghaft die Möglichkeit eines Plateaus anzukündigen, das nicht bei jedem neuen Titel das grundlegende Einsteigen in die aktuellste Hardware voraussetzt. Erst langsam wird es üblich, für die Game-Entwicklung standardisierte Engines und Tools zu verwenden und den Hauptteil der Zeit auf das Design des eigentlichen Spiels zu verwenden. Bisher aber war die Geschichte der Videospiele auch stets eine Geschichte der Hatz nach der optimalen Ausnützung stetig sich fortentwickelnder Plattformen, was inhaltliche Aspekte zusätzlich in den Hintergrund drängte. Man darf auch nicht außer acht lassen, dass Computerspiele, obwohl (oder vielleicht doch: weil) sie ein Medium der technischen Avantgarde sind, ein in den meisten anderen Belangen extrem konservatives Publikum haben. Auch wenn das Mainstream-Kinopublikum dem Neuen und Experimentellen in den Anfangsjahren genauso wenig bedingungslos aufgeschlossen war, wie es das heute ist, hat es noch nie mit einer so rabiat ablehnenden Haltung auf Abweichungen vom Gewohnten reagiert, wie das bei vielen Gamern der Fall ist. Treibt man sich ein wenig in den entsprechenden Internet-Foren herum, bekommt man den Eindruck, dass die Änderung einer Prügelspiel-Combo, die Umstrukturierung eines RPG-Combat-Systems, die (Schockschwerenot!) grafische Neugestaltung von ZELDA für manche Menschen eine geradezu existentielle, identitätsgefährdende Bedrohung darstellt. Was in einer immer noch so sehr von eingefleischten Fans abhängigen und derart stark von letztlich nur am Gewinn interessierten Publishern bestimmten Branche nicht das günstigste Klima schafft für Innovation.

Und schließlich haben die e-Games nunmal ihre Wurzeln zunächst im Spiel, nicht in der Kunst. Film als Abbildungstechnik war von Anfang an vorgeprägt durch Traditionen der Malerei und Fotografie, als narratives Medium von denen der Bühne und des Buchs. Das Vorbild für PONG hingegen war Tischtennis. Es ist zu einem gewissen Grad unfair, die Erwartungen der einen Gattung an die andere zu stellen, und es wäre ebenso lächerlich, Autorennspiele oder Fußballsimulationen zu Videogames zweiter Klasse zu erklären, wie von ihnen zu verlangen, unser emotionales oder geistiges Leben entscheidend zu bereichern.

Und doch: Es ist ja nicht so, dass die Bildschirmspiele inzwischen nicht selbst immer öfter gehörige Bedeutung heischten. Hideo Kojima sieht sein METAL GEAR SOLID gewiss nicht in einer Traditionslinie mit "Mensch, ärgere Dich nicht!", sondern mit filmischen und literarischen Werken. Gerade aber da, wo ein bewusster Wunsch aufscheint, in der kulturellen Oberliga mitzuspielen, scheint mir das Medium oft am weitesten weg von seinen intrinsischen Stärken zu driften. Als der Film an der Schwelle stand vom proletarischen Minuten-Vergnügen zur narrativen (Kunst)Form, hat er die nötige Sprache, hat er entsprechende Bild- und vor allem Schnitt-Vokabeln und -Grammatik nicht einfach aus dem Hut gezaubert. Es war der bürgerliche Roman, vor allem die Erzähltechniken Dickens', die da (ganz bewusst) übernommen und adaptiert wurden - mit außerordentlich fruchtbarem Ergebnis. Videospiele aber tasten noch immer nach einer solchen "Sprache", nach gewissen verbindlichen Grundgesetzen, die dem Medium standardisierte Ausdrucksmöglichkeiten geben. Sie haben so eine Grammatik bisher bestenfalls für einzelne Genres gefunden - und sie selbst dort selten für mehr benutzt, als den SpielerInnen einen schnellen Einstieg in Vertrautes zu gewähren. Was weitgehend fehlt, sind ausformulierte Konzepte dafür, wie man mit den ureigenen Mitteln des Mediums wirkliche Aussagen (oder spezifische Gefühlsregungen) zustande bringt. Wann immer jemand mit einem Spiel aber dezidiert etwas erzählen, etwas mitteilen möchte, wird deshalb zum scheinbar naheliegendsten und einleuchtendsten Muster gegriffen - dem Spielfilm.

'Donkey Kong'

Seit jeher flirtet das Videospiel mit dem Kino, gibt ihm Ideen (TRON), bedient sich bei ihm (von DONKEY KONG an ad infinitum), lässt sich verfilmen oder setzt Filmlizenzen um; lange schon ist man gewohnt, beides auf einem heimischen Bildschirm zu sehen. Also holen sich Games immer öfter gerade da, wo sie die Geste des Großen, des Wichtigen und Aussagekräftigen zelebrieren, hier das direkte Vorbild. Das aber erinnert im Ergebnis dann oft gerade an jene französischen Filme der Stummfilmzeit, in denen qualitätsbesorgte Bürger das Kino von seinem proletarischen Hautgoût befreien und zu den hehren Höhen lichter Kunst zu heben suchten, indem sie zum naheliegendsten Beispiel einer anderen dramatischen Ars griffen. Und bekannte Theaterstücke mit den berühmtesten Schauspielern der Epoche einfach mit feststehender Kamera abfilmten - wie gesagt, als Stummfilm! Die Ergebnisse gehören zum Leblosesten, Drögesten und Unfilmischsten, was die Kinogeschichte zu bieten hat. Ähnlich (wenngleich lang nicht so einschläfernd) wirken derzeit manche Prestige-Spiele. Das Eigentliche des Mediums, die Interaktivität, das Spiel, scheint da eher ein störendes Element zu sein, sein Vorhandensein fast eher eine Konzession. Die SHENMUE-, FINAL FANTASY- und besonders METAL GEAR SOLID-Reihen bewegen sich immer mehr zu auf Filme (bzw. bei den Codec-Interludes von MGS: Hörspiele) mit kurzen Spiel-Unterbrechungen.

Immer ausufernder werden die unbeeinflussbaren Sequenzen, in denen die eigentliche Story stattfindet, die eigentliche Botschaft transportiert wird; immer unverbundener stehen dazu die eigentlichen Spiel-Anteile. (Das Triple Triad-Kartenspiel aus FINAL FANTASY VIII, wohl das unterhaltsamste interaktive Element des Titels, schien wie ein nachträglicher Gedanke der Entwickler, als sie irgendwann realisierten (frei nach Loriot): "Spiel muss auch Freude bereiten.")

Jede Form der Interaktivität kann ein Erzählen nach klassischen Kino-Regeln nur schwächen, verwässern, stören. Das Spiel definiert sich nun aber einmal per se durch die Interaktivität. Wenn die Videogames ihre Ambitionen verwirklichen wollen, von ihrer Wirkung, von ihrer Aussagekraft her endlich mit dem Film gleichzuziehen, dann müssen sie sich, trotz aller Parallelen, wieder mehr von dessen Vorbild lösen. So wenig, wie das Kino seine eigene Sprache im doch auf den ersten Blick so eng verwandt scheinenden Theater gefunden hat, so wenig wird das den Bildschirmspielen beim ihnen eben nur scheinbar nahestehenden Film gelingen - der höchstens als thematischer Ideenlieferant geeignet ist. Viel eher müssten sie sich orientieren an Ausdrucksformen, die mit den selben Parametern arbeiten, die auch einem interaktiven Medium voll zur Verfügung stehen - mit Raum, Zeit, Rhythmus, Spannung und Entspannung, Dichte, Farben, Formen. Sprich: Bildende Kunst und Musik. Eigentlich war PAC MAN schon näher dran am Sublimen als METAL GEAR SOLID 2 - weil durch und durch Videospiel und von einer fast transzendenten Klarheit. Das ist es doch, was Games wirklich können, wo ihre Stärke und Größe liegt: Eine konsistente Welt erschaffen mit eigenen Regeln und Gesetzen, in die SpielerInnen einfach losgelassen werden.

Die MMO-Spiele sind derzeit dabei, dies auf einem neuen Level der Komplexität zu tun und dabei auch noch eine Balance zu suchen mit narrativen Elementen - bisher vielleicht noch nicht gerade mit Ergebnissen, die an großer Kunst gemessen werden wollen oder sollen, aber mit dem Ausblick, in den nächsten Jahren auf wirklich spannendes und eigenständiges Terrain zu kommen. (Was es da vor allem bräuchte, wären DesignerInnen und SpielerInnen, die erheblich weniger Tolkien-verseucht sind...) Aber auch ein Spiel wie (das bezeichnenderweise Kandinsky gewidmete) REZ (auf Dreamcast und PS2) zeigt, wo es lang gehen könnte: Es ist der bisher wohl gelungenste Versuch, Bewegung, Form, Farbe, Musik und Interaktivität zu einem synästhetischen Gesamterlebnis zu verschmelzen - in seinen besten Momenten wird das wirklich zur Trance, spricht alle Bewusstseinsschichten an, gibt einem das Gefühl, etwas Entscheidendes mitzubekommen. Und zwar etwas, das so in keinem anderen Medium sich ausdrücken könnte, das sich - ähnlich wie bei wirklich großen Filmen und anders als die "Moral" eines typischen japanischen RPGs - nicht auf eine sprachliche Aussage reduzieren lässt. REZ ist gewiss noch nicht perfekt, gerät manchmal aus der Balance, verliert seinen zwingenden Rhythmus und steht dann über gewisse Strecken plötzlich als durchschnittlicher Shooter da. Aber es gibt eine Ahnung davon, was noch alles drin wäre, wenn das Medium Videospiel Größe nicht zuerst im Narrativen und den Weg zum Erzählen nicht zuerst über das Vorbild Spielfilm suchte. Wobei: Ob REZ in seiner jetzigen Form existieren würde ohne die Space-Tunnel-Sequenz in Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY...?