Spiel mit dem Feuer

Von einer Rakete getroffener Bus und Auto in Holon, südlich von Tel Aviv, 11. Mai 2021. Foto: Yoav Keren/CC BY-SA 4.0

Die Eskalation in Israel und den Palästinensischen Gebieten hat auf beiden Seiten vor allem innenpolitische Gründe

In Israel und den palästinensischen Gebieten saßen die Menschen gerade beim Abendessen oder vor dem Fernseher, im Café, einer Bar, als am Sonntagabend plötzlich der Krieg in die Region zurückkehrte.

Als das Sirenengeheul begann, dachte so mancher an einen Fehlalarm, zumal es bislang selten vorgekommen war, dass Raketen den Weg von Gaza bis nach Jerusalem schafften und überhaupt nur selten in diese Richtung abgeschossen wurden. Denn in Jerusalem leben mehrere Hunderttausend Palästinenser; die bewaffneten Milizen im Gazastreifen würden auch riskieren, sie zu treffen.

Anders als zuvor

Doch das, was derzeit passiert, ist anders als alles, was die Menschen in der Region in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben. Das Raketenfeuer ist heftiger, und die israelischen Militärreaktionen darauf auch. Begleitet wird der militärische Konflikt von Massenprotesten in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland, und auch: von Ausschreitungen, die anders als früher nicht mehr nur zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften, sondern auch zwischen Juden und Arabern stattfinden.

Befördert wird das Ganze von einer politischen und gesellschaftlichen Situation, die auf beiden Seiten komplizierter und festgefahrener denn je ist. Und vor allem: Das alles ist rasend schnell, innerhalb von nur einer Woche eskaliert und kaum jemand hat es vorhergesehen. Ja, während der Ausschreitungen in der Jerusalemer Altstadt hatte die Führung der islamistischen Hamas, die seit 2007 den Gazastreifen kontrolliert, ein sehr knappes Ultimatum gesetzt.

Israels Regierung solle die Polizei vom Tempelberg, der drittheiligsten Stätte des Islam, sowie alle israelischen Siedler aus dem Stadtteil Scheich Dscharrah (eng. Sheikh Jarrah) abziehen. Dort versucht gerade eine rechte Organisation mehrere palästinensische Familien aus ihren Häusern zu klagen. Doch Israels Regierung hatte das als leere Drohung abgetan und darauf verwiesen, dass so etwas Standard sei, ohne dass darauf jemals etwas folge.

Dieses Mal folgte eine Raketenbarrage, die um ein Vielfaches heftiger ausfiel als das, was Israel während des Gaza-Kriegs 2014 erlebte. Innerhalb weniger Tage wurden mehr als 1500 Raketen abgefeuert, und nur einen Bruchteil davon konnte das Abwehrsystem "Eiserne Kuppel" abfangen.

Die israelische Reaktion darauf fällt ebenfalls massiver aus als in der Vergangenheit: Nach offiziellen Angaben griff die Luftwaffe seit Sonntagabend mindestens 500 Ziele im Gazastreifen an, unter den Opfern seien auch mehrere Kader des Islamischen Dschihad, einer Gruppe, die in ihrer Linie um ein Vielfaches radikaler ist als die der Hamas.

Kinder als Opfer

Zeigte die Hamas-Führung in den vergangenen Jahren zumindest die Bereitschaft zum Dialog mit Israels Regierung, lehnt der Islamische Dschihad jegliche Kommunikation ab. Besonders in den Vordergrund stellen beide Gruppen derzeit, dass sich unter den Opfern der Luftangriffe auch Kinder befunden haben sollen.

Auch die Kritik am israelischen Vorgehen, die in den vergangenen Tagen aus der Türkei, mehreren arabischen Staaten und von der Arabischen Liga zu hören war, baut unter anderem darauf auf: Die Nachrichten von israelischen Siedlern, die palästinensische Familien aus Häusern vertreiben wollen, die diese mehr als 50 Jahre lang bewohnt haben, die Bilder von israelischen Grenzpolizisten, einer paramilitärischen Polizeitruppe, die sich zum Ende des Ramadan Auseinandersetzungen mit arabischen Jugendlichen liefern, haben in der arabischen Öffentlichkeit die Wirkung nicht verfehlt; der öffentliche Druck auf die jeweiligen Regierungen ist hoch: Aus Sicht der Menschen ist die Al-Aksa-Moschee in Gefahr und die Sache der Palästinenser, die mehrere Jahre lang von der Tagesordnung verschwunden war, ist plötzlich wieder sehr präsent.

Auf die Frage, wie denn die Hamas bei ihren Raketenangriffen Kinder und Jugendliche schütze, bezeichnet Hamas-Sprecher Fawzi Barhum im Gespräch mit dem Autor diese als "legitime Ziele": Sie seien "Soldaten ohne Uniform", so Barhum: "In einigen Jahren werden sie unseren Jugendlichen gegenüberstehen und sie töten."

Am 4. März 1996 hatte ein von der Hamas entsandter Selbstmordattentäter eine auf einen Bus wartende Gruppe von Kindern und Jugendlichen angegriffen, die nach einer Feier zum jüdischen Karnevalsfest Purim auf dem Heimweg war. Vier der 13 Todesopfer waren Kinder und Jugendliche; unter den 131 schwer Verletzten waren 72 Kinder im Alter von unter zwölf Jahren.

Corona: Palästinensische Bevölkerung extrem hart getroffen

Angefangen hatten die Ereignisse mit vergleichsweise wenig, nämlich ein paar Steinwürfen und ein paar bösen Worten, hinter denen doch viel steckt: Die Corona-Pandemie hat die palästinensische Bevölkerung extrem hart getroffen; die Arbeitslosigkeit ist nun extrem, die Armut ebenso. Dabei ist das lange schwelende Gefühl nach oben gekommen, dass man vollständig von Israels Regierung und ihren Entscheidungen abhängig ist.

Wenn Israel die Grenzen zumacht, dann sind sie auch in den Palästinensischen Autonomiegebieten dicht. Wenn Israel die Läden schließt, dann sind sie auch in Ost-Jerusalem und im Westjordanland zu. Aber Impfstoff ist Mangelware, ebenso wie eine Perspektive. Anders als früher ist zudem, dass im Mittelpunkt der Wut nicht mehr nur Israel steht, sondern auch der palästinensische Präsident Mahmud Abbas, wobei in der öffentlichen Meinung beides ineinander fließt.

Abbas, so eine oft geäußerte Ansicht, sei nicht mehr als ein Statthalter Israels und Bewahrer eines Status Quo, in dem man nur darauf warte, dass Israels Politik in die Gänge komme, und irgendwer einen Vorschlag mache, der zu einer Lösung führe.

Doch das passiert nicht, im Gegenteil. Vier Mal wurde in Israel nun innerhalb von zwei Jahren gewählt, und die politische Landschaft ist immer gleichgeblieben: Die Rechte hat ungefähr die Hälfte der Mandate, mal ein paar mehr, mal ein paar weniger. Und um an der Macht zu bleiben, braucht Regierungschef Benjamin Netanjahu, seit 2009 im Amt, auch ultra-rechte Parteien wie die Religiös-Zionisten, die ein Sammelbecken für Rechtsextremisten sind, von denen einige in den vergangenen Tagen auch bei den Ausschreitungen in Ost-Jerusalem und den Klagen auf Häuser-Räumungen in vorderster Reihe standen.

So erklärt sich auch, warum Netanjahu nichts unternahm, um die Eskalation in Ost-Jerusalem zu verhindern. Aber es erklärt nicht alles.

Netanjahu und Abbas

Anstatt über Jahre etablierte Polizei-Strategien beizubehalten, wurden die Sicherheitskräfte mitten hinein geschickt - gegen die Warnungen von Polizei- und Militärführung, die beide vor Auseinandersetzungen warnten. Doch das Problem scheint zu sein, dass diese Regierung, die nur übergangsweise im Amt ist, im wahrsten Sinne des Wortes am Ende ist: Netanjahu und Verteidigungsminister Benny Gantz, ein ehemaliger Generalstabschef, hatten sich vor gut einem Jahr auf eine Machtteilung geeinigt.

Doch Netanjahu umging Gantz, der nach 18 Monaten die Macht übernehmen sollte, wo immer er konnte; darüber zerbrach dann auch nach wenigen Monaten die Regierung: Es herrscht nun Chaos. Mit der Regierungsbildung ist aktuell Ja'ir Lapid, Chef der zentristischen Zukunftspartei beauftragt. Oder anders gesagt: Niemand weiß, wer in ein paar Wochen in Israel das Sagen haben wird.

Auf der palästinensischen Seite rettete sich Präsident Abbas derweil in die Nachspielzeit, indem er die eigentlich für den 22. Mai geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen kurzerhand wieder absagte. Beide Wahlen sind seit mehr als zehn Jahren überfällig; Abbas regiert seitdem ohne jegliches Mandat und das auch zunehmend autokratischer.

Kritiker werden inhaftiert oder bedroht, potenzielle Nachfolger mundtot gemacht, und dies obwohl Abbas jenseits der 80 und extremer Raucher ist. Es erscheint einigermaßen sicher, dass die Hamas die Wahlen gewonnen hätte, und das nicht, weil die palästinensische Bevölkerung nach rechts gerutscht ist, sondern weil es schlicht keine Alternativen gibt: Abbas' Fatah-Fraktion hat in den vergangenen Jahren alles unternommen, um das Entstehen einer Parteienlandschaft zu verhindern.

Und so hat es auch vor allem innenpolitische Gründe, dass die Hamas am Sonntag auf die Bühne stürmte und ihr, ganz offensichtlich aussichtsloses, Ultimatum stellte, bevor sie damit begann, im Minutentakt Raketen auf Israel abzufeuern. Während Abbas in den vergangenen Tagen weitestgehend abwesend war, hat die Hamas damit ihren Führungsanspruch dokumentiert.

Das Risiko

Womit sie allerdings auch selbst ein erhebliches Risiko eingeht, wenn man die Sache aus der Perspektive der palästinensischen Innenpolitik betrachtet. In voran gegangenen Konflikten mit Israel war es jeweils so, dass sehr bald die internationale Diplomatie in Gang kam, vor allem die Regierung Ägyptens versuchte, Waffenstillstände auszuhandeln, und auch dieses Mal hat Kairo bereits seinen Hut in den Ring geworfen (Nahostkonflikt: Neue Wucht, neue Waffen und neue politische Konstellationen).

Doch dieses Mal ist alles viel komplizierter als je zuvor: Sollte die Hamas-Führung keine Vereinbarung vorlegen, die sehr erhebliche Zugeständnisse der israelischen Regierung enthält, könnte der öffentliche Zuspruch sehr schnell wieder weg sein. Aber man weiß eben auch nicht, wie die Regierung in Israel in ein paar Tagen oder Wochen aussehen wird; es ist jederzeit möglich, dass Lapid eine Koalition vorstellt und das Parlament diese bestätigt.

Israel hätte dann mitten in einem Krieg einen Regierungswechsel vollzogen. Doch bis dahin scheint Netanjahu keinerlei Interesse an einem Waffenstillstand zu haben: "Israel wird nicht aufhören und hat auch kein Interesse daran aufzuhören", zitierte das Nachrichtenportal Ynet.co.il am Mittwoch eine Quelle im Sicherheitskabinett: "Wenn wir alle unsere Ziele angegriffen haben, und die andere Seite sich nicht ergeben hat, werden wir eine Bodenoffensive starten, auch wenn das nicht unser Plan ist."