Sprache der Verdinglichung
Seite 2: Das verdinglichte Bewusstseins denkt nur in Fakten und nicht mehr in Zusammenhängen und Prozessen
- Sprache der Verdinglichung
- Das verdinglichte Bewusstseins denkt nur in Fakten und nicht mehr in Zusammenhängen und Prozessen
- Die Genese des verdinglichten Bewusstseins
- Angst wird in Hass transformiert
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Die Zeit hat in ihrem Bericht brav Beispiele für typisch postfaktisches Agieren populistischer Bewegungen aufgeführt, unter denen auch folgendes "faktenwidriges" Verhalten angeprangert wird:
"In Großbritannien konnte die Brexit-Kampagne ein Referendum gewinnen, obwohl sämtliche ökonomischen Institute erklärten, dass der Brexit dem Land erheblich schaden würde."
Diese von der Zeit hier aufgeführte Realsatire, wonach "ökonomische Institute" zu einem Hort der Aufklärungsvernunft geadelt werden, ist Folge des relativistischen Wahrheitsbegriffes, der dem spätkapitalistischen Zeitgeist innewohnt. Zur Erinnerung: Wahrheit ist die Folge eines - auf Aufklärungsvernunft basierenden - öffentlichen "Aushandelns". Und ökonomische Institute besitzen nun mal eine große Handelsmacht auf dem Meinungsmarkt.
Bereits an diesem konkreten Beispiel schlägt die von der Zeit paradierte Aufklärungsvernunft - krisenbedingt - in Mythologie, in blinden Marktglauben um. Das, was sämtliche "ökonomischen Institute" in den letzten Dekaden als Fakten verkaufen, ernst zu nehmen, heiße, sich vollends im postfaktischen Ideologiedschungel zu verlieren. Demnach müssten beispielsweise "sämtliche ökonomischen Institute" vor 2008 die Öffentlichkeit beständig vor den drohenden Immobilienblasen in den USA und Amerika gewarnt haben.
Dieses Paradebeispiel für die ideologische Verschränkung von Mainstream und Extremismus, das dankenswerterweise ein überangepasster Zeitschreiber fabrizierte, verweist auf die gemeinsame Grundlage beider spätkapitalistischen Ideologieströmungen: auf das verdinglichte Bewusstsein, das sowohl dem Neoliberalismus wie dem Rechtsextremismus innewohnt - und das gerade solche Wortmonster wie postfaktisch fabriziert.
Schon Adorno verwies in seiner berühmten Schrift "Erziehung nach Auschwitz" darauf, dass die lückenlose kapitalistische Vergesellschaftung ein "verdinglichtes Bewusstsein" hervorbringe, das letztendlich den innersten Kern rechtsextremer, potenziell eliminatorischer Ideologiebildung darstelle. Das verdinglichte Bewusstsein sei "vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt". Träger des verdinglichten Bewusstseins halten ihre Identität, ihr "So-Sein - dass man so ist und nicht anders - fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes", anstatt es als ein durch Sozialisation "Gewordenes" zu begreifen.
Ich bin, es ist - das ist das Mantra des verdinglichten Bewusstseins. Bewegung im Kapitalismus wird als bloßes Oberflächenphänomen wahrgenommen. Laut dem verdinglichten Bewusstsein ändere sich im Kapitalismus alles nur deswegen, damit alles bleiben könne, wie es ist - wie es schon immer war. Gerade dieses kapitalistisch verstümmelte Denken in Dingen, das sich abschirmt gegen die Wahrnehmung von sozialen Prozessen, Entwicklungen, Widersprüchen und der eigenen wie der historischen Bedingtheit der kapitalistischen Gesellschaft, bildet die basale Grundlage des spätkapitalistischen öffentlichen Diskurses.
Deswegen beklagt ja die Zeit selber, dass postfaktisch inzwischen nichts weiter als "falsch" bedeute, die Beschreibung einer gesellschaftlichen Veränderung, eines Prozesses somit dem Wort abhandengekommen sei. Das Adjektiv postfaktisch ist binnen weniger Monate dem Prozess der Verdinglichung erlegen. Und es ist selber ein Produkt der Verdinglichung.
Das Wort ist bereits Ausdruck eines verdinglichten Bewusstseins, das nur noch in Fakten, und nicht mehr in Zusammenhängen/Prozessen denkt. Letztendlich kritisiert mit dem Begriff postfaktisch, der immer wieder mit dem Internetschwarm der neuen Rechten in Zusammenhang gebracht wird, die herrschende neoliberale Ideologie die eigenen - quasi schon postideologischen - Zerfallsformen in verkürzter Weise. Beiden ideologischen Strömungen, Neoliberalismus wie Rechtspopulismus, sind folglich nicht in der Lage, sich als Produkte desselben ideologischen wie gesellschaftlichen Zerfallsprozesses zu begreifen. Der Neoliberalismus war ja historisch tatsächlich die Brutstätte der neuen Rechten.
Dieses Denken in isolierten und verdinglichten Fakten, das Zusammenhänge und historische Entwicklungen verdrängt, ist längst hegemonial. Es ist ein eindimensionales Günter-Jauch-Denken. Ein Millionenpublikum hält die Beantwortung von Faktenfrage in der Quizsendung "Wer wird Millionär" für der Weisheit letzten Schluss. Und es sind gerade die zu Dingen erstarrten Fakten, die - losgelöst von ihrem sozialen und historischen Kontext - der ideologischen Instrumentalisierung offenstehen. Das Adjektiv postfaktisch ist in sich selbst widersprüchlich: Hier beklagt gerade das verdinglichte Bewusstsein unbewusst diese ihm innewohnende Tendenz zur ideologischen Instrumentalisierung verdinglichter Fakten.
Dies gilt einerseits für die neoliberalen "Sachzwänge" und den korrespondierenden Sachzwangdiskurs, mit denen etwa die Agenda 2010 durchgesetzt wurde - und die nur bei Ausblendung der Widersprüche, Krisenprozesse und der historischen Bedingtheit des Kapitalismus als solche wahrgenommen werden können. Zwänge, die von "Sachen", von Dingen, verursacht werden - auch dies ist ein Paradebeispiel für eine Sprache der Verdinglichung, die ja nur auf den realen Fetischismus der kapitalistischen Gesellschaft verweist.
Und selbstverständlich hat auch Sarrazin in der 2010 ausgebrochenen Sarrazin-Debatte die durch diese Agenda-Politik ausgelöste Prekarisierung und Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten als ein Ding, als ein Faktum wahrgenommen - und nicht etwa als Folge eines durch innerkapitalistische Widersprüche angetriebenen gesellschaftlichen Prozesses der sozialen Exklusion. Um dieses - aus dem sozialen und historischen Kontext herausgelöste - Faktum einer wachsenden Unterschicht in Deutschland bildete sich, vermittels der Sarrazin-Debatte, ein Morast aus sozialdarwinistischer und rassistischer Ideologie, der als Initialzündung der neuen deutschen Rechte diente.
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