Staatsverschuldung ist Privatisierungspolitik

Robert Misik über die Finanzkrise in Europa und wie Keynesianismus in den Neoliberalismus führt

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Mit seinem Buch Erklär mir die Krise! Wie wir da rein gerieten und wie wir wieder rauskommen hat der Journalist und Blogger Robert Misik eine Einführung in das Dilemma aktuellen Wirtschaftens geschrieben. Telepolis sprach mit ihm über den Anteil Deutschlands an der Wirtschaftskrise und die "Katastrophen-Spirale".

Herr Misik, was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise?
Robert Misik: Zunächst einmal (und das ist gewissermaßen die Basisdefinition einer Finanzkrise) ist der Grund die gleichzeitige Überschuldung wichtiger Wirtschaftsakteure: Der Finanzinstitutionen, der privaten Haushalte und der Staaten. Zwischen verschiedenen Volkswirtschaften gibt es da natürlich Unterschiede: Die Verschuldung privater Haushalte ist in den USA und Spanien hoch gewesen, in Griechenland war es der Staat. Das Hauptproblem sind aber natürlich die Finanzinstitutionen. Sie hatten einerseits hohe Werte in ihren Büchern und haben auf dieser Basis Geld verliehen, investiert und mit einer hohen Hebelwirkung gezockt. Das heißt, sie haben Werte angekauft, aber auf Pump - also kreditfinanziert.
Robert Misik. Foto: Helena Wimmer.
Was sind die Folgen, wenn dieser Kreditkreislauf irgendwo unterbrochen wird?
Robert Misik: Wenn eine Blase platzt, wie etwa die US-Immobilienblase, dann verfallen die Werte in den Büchern. Die Banken, Versicherungen und Fonds sind über Nacht schwer verschuldet und sie müssen dann diese Werte verkaufen. Weil das aber in diesem Moment alle gleichzeitig tun, verfallen die Werte weiter. Das hat zwei Folgen: Einerseits lassen sich die Werte am Markt gar nicht mehr realisieren, der allgemeine Wertverfall reißt andererseits noch viel größere Löcher in die Bilanzen. Ist eine solche Spirale nach unten erst einmal etabliert, dann erleben wir die berühmte Kernschmelze an den Finanzmärkten.

"Finanzmärkte agieren pro-zyklisch"

Was sind die Gründe für diese "Kernschmelze"?
Robert Misik: Man muss ein sehr simples Prinzip verstehen: Finanzmärkte funktionieren nicht wie Märkte. Jedenfalls nicht so, wie wir uns gemeinhin "Märkte" vorstellen. Steigende Preise führen auf Finanzmärkten nicht zu sinkender Nachfrage, sondern zu mehr Geld und damit dazu, dass die Party erst so richtig losgeht. Und fallende Preise führen zu keinem neuen "Gleichgewicht", sondern in eine Katastrophenspirale. Das ist der Grund für die inhärente Instabilität von Finanzmärkten, die ganz anders läuft, als etwa auf Gütermärkten. Auf Gütermärkten wird, wenn etwa der Zahnstocherpreis steigt, die Nachfrage sinken. Das ist dann vielleicht ein dentistisches Problem, aber kein ökonomisches.
Aber Finanzmärkte funktionieren ganz anders. Ökonomisch gesprochen heißt das: Finanzmärkte agieren pro-zyklisch, Gütermärkte anti-zyklisch. Das ist ein gravierender Unterschied.
Und was bedeutet das?
Robert Misik: Das heißt, Finanzmärkte müssen extrem reguliert sein, um stabil zu funktionieren. Lässt man sie von der Leine, werden sie Risiken aufeinandertürmen. Und zwar Risiken, die in den meisten Fällen erst erkannt werden können, wenn die Blase platzt.

"Wachsende Verschuldung heißt steigende Instabilität"

Ist das der wesentliche Grund für Finanzkrisen?
Robert Misik: Ja. Es ist die inhärente Instabilität des Finanzsystems als solche. Darüber hinaus gibt es natürlich noch eine Reihe anderer Gründe: Die ansteigende Ungleichheit, die zu riesigen Vermögen auf der einen und sinkenden oder stagnierenden Einkommen auf der anderen Seite sorgt, was ja nichts anderes heißt, als dass die einen mehr Geld haben, als sie brauchen, und die anderen weniger, als sie benötigen. Diese beiden Gruppen sind durch Kredit und Zahlungsverpflichtung verbunden, das heißt, die Vermögen der einen sind die wachsenden Schulden der anderen. Wachsende Verschuldung heißt aber steigende Instabilität.
Ein zweiter Grund mag die Übersättigung von Märkten in einer Welt sein, in der wir schon immense Produktionskapazitäten entwickelt haben. In der Realwirtschaft sind in einer solchen Situation keine grandios wachsenden Renditen zu erwarten, sondern sinkende. Das ist aber ein Problem für die Vermögen, die Anlagemöglichkeiten suchen. Je weniger vernünftige Investitionsmöglichkeiten es gibt, umso mehr wird versucht, durch spekulative Anlagen hohe Zinsgewinne zu realisieren. Auch das steigert noch einmal die Instabilität.
Das sind die wesentlichen Gründe der Finanzkrise. Die Wirtschaftskrise im Sinne von Rezession, steigernder Arbeitslosigkeit, Vernichtung von Produktionskapazitäten ist dann die Folge davon: Wenn alle überschuldeten Wirtschaftsakteure gleichzeitig versuchen, ihre Schulden zu reduzieren, sinkt die Nachfrage und alles geht den Bach runter.

Die Katastrophe der Euro-Zone

Warum hat sich der Neoliberalismus bis 2007 in einer so außerordentlichen Weise durchsetzen können? Hat sein Erfolgszug etwas mit den fehlgeschlagenen Bemühungen der Keynesianer in den 70er Jahren zu tun, die Wirtschaftskrise mit ihren Mitteln auszubremsen? Warum bekennen sich Alt-Sozialdemokraten wie Helmut Schmidt zu den neoliberalen Reformen á la Agenda 2010?
Robert Misik: Es hat eine Reihe von Gründen: Der Moment, in dem die Neoliberalen triumphierten, war der, in dem eine keynesianische Annahme nicht mehr aufging: Dass man mit steigender Inflation Wachstum erkaufen kann. Als zu Beginn der 70er Jahre sowohl Stagnation als auch Inflation herrschten, war die Stunde des Aufstiegs neuer Konzepte gekommen. Ein weiterer Grund war der Strukturwandel der Wirtschaft als solches aber auch die Globalisierung, welche die nationalstaatliche keynesianische Steuerung an ihre Grenzen brachte.
Die neoliberale Revolution war intellektuell viele Jahrzehnte vorbereitet und hatte plötzlich ein relativ kohärentes ökonomisches Konzept anzubieten: Deregulierung, Entfesselung der Marktkräfte, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeitskonkurrenz und Standortkonkurrenz. Demgegenüber hatten die progressiven Kräfte - also reformorientierte Sozialdemokraten, andere Linke und so weiter - kein kohärentes Bild mehr im Kopf. Sie hatten nichts mehr, woran sie wirklich glaubten. Sie sind keine Neoliberalen geworden, aber sie lebten von der Hand in den Mund, mischten sich halt so die Dinge zusammen: Ein bisschen ökonomische Steuerung, ein bisschen soziale Absicherung, aber auch ein bisschen Deregulierung und Entfesselung der Wirtschaft.
In welchem Maße tragen die geschröderten Neu-Sozialdemokraten Verantwortung für die Wirtschafts- und Finanzkrise? Haben die Linken darauf angemessen reagiert?
Robert Misik: Genau in dem Sinn, wie ich das jetzt beschrieben habe. Ob man das Verantwortung nennen kann? Ja, sicher. Sie hatten einen starken Zeitgeist gegen sich, haben ihm aber auch bereitwillig nachgegeben. Einzelne Maßnahmen, etwa in der Finanzmarktderegulierung, aber auch die Deregulierung der Arbeitsmärkte im Zuge der Agenda 2010 sind teilweise von Sozialdemokraten besonders betrieben worden. Dabei muss ja gar nicht alles schlecht daran gewesen sein, aber das Wachstum des Niedriglohnsektors in Deutschland geht eindeutig auf das Konto Schröders und der SPD. Wobei sie sich darüber nicht richtig Rechenschaft ablegen kann, weil diese Reformen ja in gewissem Sinn "Erfolg" hatten. Deutschland hat seine Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten seiner Partner gesteigert.
Die Rückseite dieses Erfolges ist die Katastrophe der Euro-Zone. In diesem Sinn von Erfolg sprechen kann man nur, wenn man Europa nicht als Volkswirtschaft versteht. Es ist so, als würde Nordrhein-Westfalen Hessen niederkonkurrieren. Da würde auch niemand vom "Erfolg" Nordrhein-Westfalens sprechen, sondern von dem Problem, dass Deutschland mit der hessischen Misere hat. Da wir Europa aber noch nicht als Volkswirtschaft im Sinne einer gemeinsamen Kreislaufökonomie denken, kann sich das Bild vom Erfolg durch diese "Reformen" in den Köpfen halten.
Dagegen sind die Linken noch nicht angekommen. Es sei denn, man versteht "die Linken" als Linkspartei: Die verdankt natürlich ihre Existenz dem Protest gegen die Schröderschen Reformen. Aber die Linke in einen weiteren Sinne hat auch heute noch kein kohärentes Konzept, das für die Mehrheit der Bürger plausibel erscheint.
Seit 2007 betreiben die meisten Staaten wieder eine Art Keynesianismus – nämlich für die Banken. Dieser führt, wie man bereits jetzt an Südeuropa sehen kann erneut zur Privatisierung. Ist der Keynesianismus, der auf Schulden und nicht auf Steuererhöhung basiert, ein maskierter Neoliberalismus?
Robert Misik: Wir hatten, wenn man das schon so nennen will, schon einen zweifachen Keynesianismus: Einerseits den "Sozialismus für die Reichen", also die Bankenrettungsprogramme, die zwar notwendig waren, aber natürlich auch die Finanzvermögen aller Finanzmarktakteure gerettet haben, die ansonsten ja verloren gewesen wären. Darüber hinaus gab es aber auch Keynesianismus klassischer Art: Konjunkturprogramme, Programme, die dafür sorgten, dass sich Entlassungen in Grenzen hielten, etwa die Finanzierung von Kurzarbeit, wo der Staat de facto den Unternehmen Teile der Löhne ersetzt und ähnliches. Das hat die Nachfrage und damit auch die Konjunktur unterstützt.
Diese Programme sind in Europa aber spätestens 2011 gestoppt und durch eine allgemeine Austeritätspolitik ersetzt worden, was die Eurozone in eine 18monatige Rezession und die Krisenstaaten in eine Katastrophe trieb. Natürlich kann man die Finanzierung solcher Programme durch Schulden statt durch Vermögenssteuern einen maskierten Neoliberalismus nennen.
Die Staatsverschuldung ist also Teil des neoliberalen Projekts?
Robert Misik: Kurzfristig ist Wirtschaftsbelebung durch Schulden sicherlich kein Problem. Die langfristige Unterfinanzierung der Staaten ist aber sicherlich ein Problem, und sie ist eine mächtige Triebkraft des Neoliberalismus: Denn irgendwann steht der Staat vor so großen Finanzierungsproblemen, dass Privatisierung, Abbau staatlicher Leistungen unumgänglich werden und sich der Staat generell als funktionsuntüchtig erweist. Es war immer die Strategie der Neoliberalen, die Schuldenstände hochzutreiben um den Staat zu ruinieren und ihn damit erst so funktionsuntüchtig zu machen, wie sie immer behauptet haben, dass er ohnehin wäre. Nie stiegen die Defizite in den USA etwa so rasant wie unter Reagan und Bush.
Wollen Sie eine Abschätzung wagen: Wie wird es mit uns in nächster Zeit wirtschaftlich weitergehen?
Robert Misik: Innerhalb der Eurozone werden wir ökonomisch nicht vom Fleck kommen. Es wird so ein krisenhaftes Gedümpel bleiben, ohne weitere große Abstürze, aber auch ohne Rückkehr zu Prosperität. Ein Schuldenschnitt für Griechenland wird kommen müssen, der wird aber wiederum Löcher in die Bilanzen jener Banken reißen, die noch griechische Staatsanleihen halten und in die öffentlichen Haushalte. Das wird wiederum zu Rekapitalisierung von Banken führen müssen, vor allem für Länder wie Spanien und Portugal kann das wieder ein Problem werden.
Man wird auch das irgendwie in den Griff bekommen, aber die öffentlichen Haushalte werden chronisch unterfinanziert bleiben solange man das Steueraufkommen durch die, sagen wir, Top-5-Prozent der Einkommen und Vermögen nicht signifikant erhöht. Und das wird nur in kleinen homöopathischen Dosen geschehen, wenn überhaupt.
Sehen Sie irgendwo Anzeichen, dass sich das Blatt politisch und ökonomisch wieder wenden wird?
Robert Misik: Kleine Anzeichen, gewiss. Die politischen Akteure auf der Linken haben heute sicher ein klareres Verständnis ihrer eigenständigen ökonomischen Konzeption als noch vor sechs, sieben Jahren. Aber ausreichend gefestigt ist das noch lange nicht. Und es ist weit davon entfernt, überzeugend auf die Bevölkerung zu wirken. Dafür braucht es noch das Bohren sehr vieler dicker Bretter, um Max Weber zu paraphrasieren.

"Natürlich kann es einen guten Kapitalismus geben"

Die Abschlussfrage lautet wie die Überschrift Ihres letzten Kapitels: Ein guter Kapitalismus, kann es den geben?
Robert Misik: Natürlich kann es den geben. Die Geschichte des europäischen Wohlfahrtsstaates zeigt ja, dass die Interessen der breiten Bevölkerung auf soziale Absicherung, gute Löhne, Teilhabe am Wohlstand und die eigentlichen "Interessen" des Kapitalismus so antagonistisch nicht sind, wie die Altvorderen der Arbeiterbewegung gedacht haben. Der moderne Kapitalismus ist vom Massenkonsum getrieben, und braucht damit die Konsumnachfrage vor allem normaler Bürger. Hohe Löhne sind auch ein Incentive, ein Anreiz zur Innovation, deshalb sind ja Länder mit hohen Sozialstandards und steigenden Durchschnittlöhnen auch die Länder, in denen die Produktivität am schnellsten wächst.
Ein moderner Kapitalismus braucht auch mehr und mehr gut ausgebildete Arbeitnehmer, und das ist auch ein mächtiger Hebel für soziale Aufwärtsmobilität. Egalitäre Gesellschaften, also Gesellschaften, die nicht krass in Arm und Reich zerrissen sind, sind nicht nur Gesellschaften, in denen es sich besser lebt - es sind auch die Gesellschaften, die langfristig ökonomisch besser funktionieren, auch unter den Bedingungen einer kapitalistischen Marktwirtschaft. All das ist im Kapitalismus realisierbar. Dass Kapitalismus immer auch Machteffekte generiert, macht es natürlich ein wenig frivol, in diesem Zusammenhang von "gut" zu sprechen. Das gebe ich schon zu.

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