Stadtverwaltung von Istanbul im Visier der AKP
Das Regime wackelt, der türkische Präsident sucht verzweifelt nach Auswegen. Bereitet Erdogan die Einsetzung eines AKP-Zwangsverwalters vor?
Die Regierung Erdogan hat den Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, ins Visier genommen. Er gehört der kemalistischen Partei CHP an. In den türkischen Staatsmedien läuft eine Kampagne, in deren Zentrum der Vorwurf steht, der Bürgermeister beschäftigte Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Stadtverwaltung Istanbuls.
Vor zweieinhalb Jahren verlor Erdogans Regierungspartei die Oberbürgermeisterwahl an die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP. Oberbürgermeister Imamoglu ließ in den folgenden Monaten die Zuwendungen der Stadtverwaltung an Einrichtungen, die der islamisch-konservativen AKP nahestehen, kürzen oder komplett streichen. Ein harter Schlag für Erdogans Regierungspartei, die vor allem aus den AKP-nahen Einrichtungen und Stiftungen ihre Propagandamaschine für Wahlkämpfe finanziert.
Anfang Dezember ließ der türkische Präsident verlautbaren, Istanbul müsse bei der nächsten Wahl wieder "seinen Herrscher" finden, und das sei die AKP.
Nur, wie soll das gehen, bei der desolaten Wirtschaft und sinkenden Umfragewerten? Was im Südosten der Türkei ging, muss doch auch im Westen funktionieren, wird sich der türkische Präsident gedacht haben, als er nun erneut die "Terrorismuskarte" zückte – diesmal gegen die Stadtverwaltung von Istanbul.
Innenminister Süleyman Soylu behauptete im türkischen Parlament, dass der Istanbuler Bürgermeister rund 33.000 Beschäftigte in der Verwaltung neu eingestellt habe, wovon 557 Beziehungen zu Terrororganisationen hätten, 455 davon sollen Verbindungen zur PKK haben, der Rest zu anderen linken Organisationen. "Wir bekämpfen den Terror in den Bergen. Sollen wir den in der Stadt etwa nicht bekämpfen?", sagte Soylu am Montag.
Im Innenministerium wird auf seine Anordnung hin eine Stelle eingerichtet, um die Beschwerden zu den 557 Personen zu prüfen. Merkwürdig ist nur, dass alle neu eingestellten Personen schon eine Sicherheitsüberprüfung durch das Innenministerium durchlaufen haben.
Imamoglu stellte sich hinter seine 89.000 Mitarbeiter der 16-Millionen-Metropole und wies die Vorwürfe zurück. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu äußerte den naheliegenden Verdacht, das die AKP-Regierung die Absetzung Imamoglus plane und ihn – wie in den Jahren zuvor zahlreiche Bürgermeister der HDP – durch einen Zwangsverwalter ersetzen wolle.
Oppositionspartei HDP wird ebenfalls auf allen Ebenen bekämpft
Auch die HDP steht immer wieder im Fokus der staatlichen Hetzkampagne gegen die demokratische Opposition: in Istanbul wurde vor ein paar Tagen das Büro der HDP im Stadtteil Bahçelievler angegriffen, zwei Mitglieder der Partei wurden dabei mit einem Messer verletzt. Bereits im Juni war eine Mitarbeiterin des HDP-Büros in der westtürkischen Stadt Izmir bei einem Angriff getötet worden.
Nach wie vor droht der Partei auch ein von der AKP-MHP-Koalition angestrebtes Verbotsverfahren. Der oberste Ankläger am türkischen Kassationshof, Bekir Şahin, hat beim Verfassungsgericht in Ankara seine Stellungnahme eingereicht. Der Generalstaatsanwalt will die drittgrößte Fraktion im türkischen Parlament verbieten lassen und ein politisches Betätigungsverbot für mehr als 450 Funktionäre der Partei erwirken.
Die Entscheidung über ein Verbot der HDP hängt von einer Zweidrittelmehrheit in der 15-köpfigen Jury des Verfassungsgerichtshofs ab. Dessen Entscheidung ist bindend, auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kann das Verfahren nicht stoppen. Damit versucht die AKP-Regierung, die HDP politisch handlungsunfähig zu machen.
Der Herausforderer
Diesmal könnte für die AKP und Innenminister Soylu der Schuss nach hinten losgehen, denn der Istanbuler Oberbürgermeister ist derzeit landesweit beliebter als Erdogan. Auch in religiösen Kreisen gilt er als wählbar. Imamoglu könnte der Herausforderer bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2023 gegen Erdogan bzw. Soylu, der als potentieller Nachfolger Erdogans in AKP-Kreisen gehandelt wird, werden.
Gut möglich, dass er sich dann, sollte er abgesetzt werden, als Opfer Erdogans präsentiert. Damit hat er schon 2019 gepunktet, als die AKP die erste Wahlrunde zur Bürgermeisterwahl annullierte, weil der AKP-Kandidat knapp unterlegen war. Nachdem die HDP auf einen eigenen Kandidaten verzichtete und ebenfalls zur Wahl Imamoglus aufrief, siegte er im zweiten Wahlgang mit deutlicher Mehrheit gegen den AKP-Kandidaten.
Seitdem versucht die AKP-Regierung die Arbeit der Istanbuler Stadtverwaltung zu blockieren: staatliche Banken wurden angewiesen, der Stadt keine Kredite zu gewähren; per Gesetz wurde verhindert, dass Imamoglu Kredite bei ausländischen Banken aufnehmen kann. Der Stadtverwaltung wurde verboten, Gelder für Opfer der Corona-Pandemie zu sammeln.
Seine Chancen dürften durch den von Erdogans Zinspolitik maßgeblich verursachten Absturz der türkischen Lira und die damit einhergehenden Preissteigerungen gewachsen sein. Folgerichtig wertete er die erneuten Angriffe auf ihn als Ablenkungsmanöver von der Wirtschaftskrise.
Präsident Erdogan setzt mittlerweile alle ihm möglichen Mittel ein, um von seinem Verlierer-Image wegzukommen. Als Grund für den rasanten Verfall der Lira bediente er sich des in der Türkei beliebten "äußeren Feindes", der die Türkei zerstören wolle. Der Westen ist es – und die Sozialen Medien. Gegen Experten, die öffentlich bezweifelten, dass Erdogans Operation Erfolg haben könnte, wurden Strafverfahren wegen Verleumdung der Zentralbank eingeleitet.
Ein riskantes Manöver war das künstliche Hochtreiben der türkischen Lira vor wenigen Tagen, das allerdings nur kurz währte: Über Nacht verkauften zwei türkische Banken 20 Milliarden US-Dollar von ihren Devisenreserven. Zudem versprach Präsident Erdogan, dass der Staat die Verluste von Sparern ausgleichen wird, die durch den Kursverfall der Lira entstehen. Die Zentralbank soll nun jeden Tag einen amtlichen Dollarkurs bekannt geben.
Die Sparer sollen selbst festlegen, ob sie nach drei, sechs, neun oder zwölf Monaten abrechnen wollen. Liegt der Wertverlust der Lira zum Dollar über dem Leitzinssatz von 14 Prozent, bekommen sie die Differenz vom Staat erstattet. Damit räumt Erdogan dem US-Dollar indirekt eine Rolle als Leitwährung für die Türkei ein.
Der gemeine Bürger versteht "Bahnhof", denn eigentlich sind ja Dollars böse und alle sollen ihre Dollars in Lira umtauschen. Finanzexperten sprechen von einem Taschenspielertrick und einer verdeckten Zinserhöhung auf Kosten der Steuerzahler.
Da auf den Staat wegen der Garantien für die Spareinlagen zusätzliche Milliardenausgaben zukommen, will sich Erdogan diese offenbar sofort bei den Steuerzahlern zurückholen: Von einem Tag auf den anderen wurden die Steuern auf Immobilien, Autos und Internet-Nutzung angehoben.
Dass der neue Plan auf Dauer funktioniert, ist deshalb unwahrscheinlich. Kurzfristig erholte sich die Lira zwar um fast 40 Prozent (von fast 20 Lira/ein Euro auf rund 13 Lira / ein Euro). Seit Tagen bröckelt der Kurs jedoch wieder. Was heißt das für die Bevölkerung? Bülent Mumay gibt mit seinem letzten "Brief aus Istanbul" in der FAZ ein anschauliches Beispiel, wie die Realität in der Türkei derzeit aussieht:
Innerhalb der letzten zwei Wochen kamen hier sieben Kinder ums Leben. Sechs starben bei Feuern, die elektrische Heizgeräte auslösten, mit denen die Familien versucht hatten, die Wohnung zu heizen. Sie hatten ihre Rechnungen nicht bezahlen können, so war ihnen das Gas abgedreht worden. Ein kleiner Junge starb, weil der Strom abgestellt war. Wegen Bronchitis war er auf das elektrische Sauerstoffgerät angewiesen.
Binnen weniger Monate kamen rund hundert Menschen nach Konsum von gepanschtem Alkohol um. Warum sie den tranken? Weil das Originalprodukt ständig verteuert wird. Die Steuer beträgt inzwischen 76 Prozent. (…) Staatliche Krankenhäuser können wegen Materialmangel nicht einmal mehr lebensnotwendige Operationen durchführen. Wir winden uns in Schmerzen, weil medizinische Artikel, die importiert werden müssen, aufgrund der gestiegenen Devisenkurse unerschwinglich geworden sind. (…)
Zahlen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD zufolge ist die Anzahl türkischer junger Leute, die in den letzten drei Jahren zum Studieren nach Deutschland gingen, jedes Jahr um zehn Prozent gestiegen. Vorher lag die Steigerungsrate, wohlgemerkt, bei 0,3 Prozent. Nicht allein "ausländische Kräfte" konstatieren, dass die talentierte Jugend des Landes ihre Zukunft im Ausland sucht.
Sogar Erdogans Sohn Bilal erklärte, einer Studie zufolge hätten vierzig Prozent der Jugendlichen gesagt, sie wollten ins Ausland. Vierzig Prozent! Ich betone, dass die Studie von einer von Bilal Erdoğan geleiteten, mit staatlichen Mitteln geförderten islamistischen Stiftung durchgeführt wurde.
Brief aus Istanbul / FAZ
Formiert sich ein neues Mitte-Links-Bündnis?
Unterdessen scheint sich die Opposition parteiübergreifend gegen Erdogan und die AKP-MHP Koalition für vorgezogene Wahlen zu formieren. Die Ko-Vorsitzende der HDP, Perwin Buldan, setzt auf Neuwahlen, um mit einer neuen Denkweise in einer neuen Regierung die vielschichtigen Probleme in der Türkei zu lösen. Dabei steht auch ein neues Regierungssystem auf der Agenda.
Die HDP führt derzeit Gespräche über mögliche Bündnisse mit der CHP und der neuen Partei DEVA des ehemaligen AKP-Politikers Ali Babacan. In Ankara fand im Anschluss an Gespräche zwischen HDP und CHP eine gemeinsame Pressekonferenz mit den HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar sowie dem CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu statt.
Kilicdaroglu betonte das Bedürfnis nach Aussöhnung: "Nicht der Streit, der Frieden muss für uns Vorrang haben. Wir müssen zusammenkommen und miteinander sprechen. Die Türkei hat kein Problem, das nicht gelöst werden könnte. Alle Probleme können mit Verstand, Logik, Erfahrungspotential und Scharfsinn gelöst werden. In diesem Rahmen haben wir die Probleme der Türkei auf den Tisch gelegt. (...) Sicherlich vertreten wir unterschiedliche Meinungen, aber jede Meinung hat für uns einen hohen Wert."
Der HDP-Vorsitzende Mithat Sancar betonte, ein Ausweg aus der Krise der Türkei lasse sich nur über einen breiten Dialog finden. Die Opposition sei in der Pflicht, die Demokratie in der Türkei wiederzubeleben: "Wenn wir zusagen, dass wir diesem Land Demokratie bringen werden, müssen wir das der Gesellschaft vor allem auch im Umgang miteinander zeigen", so Sancar.
"Wenn es uns gelingt, die Botschaft zu vermitteln, dass wir unsere Unterschiedlichkeiten beibehalten, aber über den gemeinsamen Willen verfügen, gesellschaftlichen Frieden herzustellen, werden wir von der Gesellschaft unterstützt werden. Dann werden wir die Regierung abwählen und gleichzeitig die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Zukunft mit demokratischen Grundsätzen und im Frieden gestaltet werden kann."
Sancar betonte, dass die demokratische Opposition auf Dialog, Verhandlungen und Sozialen Frieden setzen müsse statt auf gesellschaftliche Polarisierung, Hetze und Feindseligkeit, wie dies die AKP-Regierung praktiziere.
Ein Knackpunkt in den Gesprächen zwischen HDP und CHP dürfte die Lösung der kurdischen Frage sein. Nach Jahrzehnten des Staatsterrors gegen die kurdische Bevölkerung ist deutlich geworden, dass es keine militärische Lösung gibt.
Die Anerkennung der Kurdinnen und Kurden als größte ethnische Minderheit in der Türkei dürfte für die eher nationalistische CHP ("ein Land, ein Volk, eine Sprache") zur Bewährungsprobe werden, inwieweit sie in der Lage ist, sich von den nationalistischen Maximen Kemal Atatürks zu emanzipieren und zu modernisieren. Erste Ansätze dazu gibt es schon in der jüngeren Generation.
Unterstützung erhält die Opposition unter anderem von Gewerkschaften und NGOs. Auf einer Pressekonferenz in Ankara gaben sie die Gründung eines Bündnisses für gerechte Wahlen bekannt.
Darin sind neben den Gewerkschaftsverbänden KESK und DISK der türkische Ärztebund TTB, die alevitische Bektaşi-Föderation, die sozialdemokratische Stiftung SODEV, der Menschenrechtsverein IHD sowie weitere Institutionen vertreten. Ziel sei, dass sich demokratische Massenorganisationen, zivile Initiativen, Arbeits- und Berufsverbände für gerechte und sichere Wahlen einsetzen. Auch sie rechnen mit vorgezogenen Wahlen.
Deutsch-türkische Beziehungen – alles beim Alten?
Kurz vor Weihnachten führte die neue Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ein Telefonat mit ihrem türkischen Amtskollegen Cavusoglu. Darin betonte sie nach einer Meldung von der regierungskonformen deutschsprachigen Internetplattform TRT Deutsch die Bedeutung der Türkischstämmigen als "Brücke" zwischen beiden Ländern. Bei außenpolitischen Themen wolle man sich "eng abstimmen". Bleibt also alles beim Alten?
Der neue grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir durfte wohl auch deshalb nicht Außenminister werden, weil er als Kritiker der Erdogan-Regierung womöglich die demokratische Opposition in der Türkei gestärkt hätte.
Das widerspricht der Politik des Auswärtigen Amtes, die zu den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und den völkerrechtswidrigen Interventionen der Türkei in Nordsyrien und im Nordirak stets die "drei Affen" machte: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Es scheint, Annalena Baerbock tritt genau in diese Fußstapfen. Ob sie wohl auch ein goldenes Spieglein von Erdogan erhält, wie einst Angela Merkel und dann "Gewehr bei Fuß" steht? Trotz der Weigerung, die türkischen Grünen als Partei zuzulassen?