Standards in der Architektur

Seite 2: Normiertes Bauen bedeutet nicht den Tod der Individualität

Weniger bekannt hingegen ist, dass im Rahmen und mit Mitteln des Marshallplanes auf Beschluss der US-amerikanischen Militäradministration mehrere Siedlungen gebaut wurden, um den Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen aufzufangen. Das Bonner Wohnungsbauministerium lobte dann 1951 einen Realisierungswettbewerb für Teams aus Architekten und Baufirmen aus. Dessen Ziel lag in der Einführung kooperative Arbeitsprozesse, sowie dem Test neuer Bautechnologien. Durchgeführt wurde er in 15 deutschen Städten (u.a. Aachen, Reutlingen, Stuttgart, Nürnberg). An diesen Standorten wurden baurechts- und normfreie Bauzonen geschaffen, um maximale Freiheit für die Entwicklung innovativer Arbeitsprozesse zu schaffen.

Im Ergebnis wurden neue Technologien etabliert (u.a. Porenbeton, vorgefertigte Deckensysteme, Leichtbautechnologien). Zwar ist es im Ergebnis nicht gelungen, die Trennung von Planen und Bauen aufzuheben (u.a. aufgrund des Widerstandes der Architektenkammern). Insgesamt hatten die Wettbewerbsergebnisse aber großen Einfluss in der Formulierung des Wohnraumgesetzes von 1956. Wäre es nicht denkbar, diesen Wettbewerb in ähnlicher Form zu wiederholen, um innovative Ansätze im Praxistest (Living Labs) zu erforschen?

Jedenfalls greift es zu kurz, das normierte Bauen als Tod der Individualität darzustellen. Zwar gehört die Kritik an konfektionierter Wohnschachteln und monotonen Großstrukturen längst zum festen Bestandteil unserer kulturellen Wahrnehmung. Doch damit ist die Frage, welchen Platz die Standard-Architektur in einem gesellschaftlichen Umfeld, das nach Individualität und Personalisierung strebt, hat, nicht beantwortet.

Löste einst die Abweichung von der Norm Aggressionen aus, so heute wohl eher die Verteidigung der Normalität. Lauthals beklagt wird die "Regelungswut". Man lamentiert über eine Entwicklung, in der Eigenverantwortung von Warnhinweisen abgelöst wird, wo Spielplätze für Helikoptereltern designt und Geländer allerorts höher, Türen schwerer werden. Doch Regeln und Normen ernst zu nehmen heißt ja nicht, die Mittelmäßigkeit zu preisen. Es heißt vielmehr, daran zu erinnern, dass das Niveau der Baukultur weniger eine Frage der Spitzen als des guten Durchschnitts ist.

Zudem stellt sich die Frage, ob nicht eine durchgängige digitale Prozesskette hier ganz neue Perspektiven skizziert. Im Gegensatz zu den Ansätzen des seriellen Bauens im 20. Jahrhundert bietet sich doch erstmals die Möglichkeit, industrielle Produktionsmethoden mit der stets individuellen Wechselwirkung von Gebäude, Ort und Nutzer in Einklang zu bringen.

Die Frage, wie die Baubranche mit ihren spezifischen Anforderungen und Voraussetzungen auf diese Möglichkeiten reagiert, ist dabei freilich ebenso entscheidend, wie die Auswirkungen auf die künftigen Gestaltungsprinzipien von Architektur. Wir bewegen uns beim Thema Normen und Standards auf einem widersprüchlichen und irgendwie ungesicherten Terrain. Aber es ist unbedingt geboten, hier weiter am Ball zu bleiben.