Steht Russland eine Revolution bevor?
Die Kritik an Putins Regierung verstärkt sich, viel hängt davon ab, welche Politik Präsident Medwedew einschlagen wird
Am 30. Januar fand in Kaliningrad die größte Demonstration seit 10 Jahren statt. Es waren wirtschaftliche Gründe, die die 10.000 bis 12.000 Menschen auf die Straße zwang, doch ziemlich schnell wandelte sich diese Demonstration zu einem politischen Protest. Der Rücktritt Putins und seiner Regierung war eine der Forderungen der Demonstranten. Es war ein Schock, der den Kreml erschütterte und die Opposition ermutigte. Doch steht Russland wirklich eine Revolution bevor, wie manche Beobachter unken? Dies eher nicht. Die Mehrheit der Russen steht immer noch hinter der Politik Putins. Falls es zu radikalen Veränderungen im Staat kommen sollte, dann nur dann, wenn diese von ganz oben initiiert werden.
Es waren Bilder, die man in den deutschen Medien schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hat. In Moskau demonstrieren einige hundert Menschen und die Miliz greift mit aller Härte gegen sie durch. Diese Szenen, die vor zwei Jahren noch zum festen Bestandteil hiesiger Nachrichtensendungen gehörten, als in den russischen Städten das durchaus seltsame Oppositionsbündnis Anderes Russland von Garri Kasparow auf die Straße ging, hätten die hiesigen Fernsehzuschauer wahrscheinlich auch am 31. Januar nicht gesehen, wenn die Moskauer Miliz nicht einige prominente Demonstranten festgenommen hätte. Neben Oleg Orlow, dem Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation Memorial, und Jurij Dschibladse, dem Vertreter der Bewegung Für Menschenrechte, ist Boris Nemzow der bekannteste verhaftete Demonstrationsteilnehmer vom letzten Januarsonntag. In den Jahren 1997/98 war Nemzow Vize-Premierminister und gehörte bis zum Ausbruch der Rubelkrise im August 1998 zu den populärsten Politikern des Landes.
Heute ist Boris Nemzow, der während seiner Kabinettszeit auch als möglicher Nachfolger des damaligen Präsidenten Boris Jelzin gehandelt wurde, Mitinitiator und einer der führenden Köpfe des Oppositionsbündnisses Solidarnost, das am 13. Dezember 2008 gegründet wurde. Eine große Akzeptanz, so wie es sich die Gründer erhofft haben, konnte Solidarnost in der Bevölkerung bisher zwar nicht erreichen, doch das Oppositionsbündnis ist dennoch sehr aktiv. So trat am 26. April 2009 Boris Nemzow in seiner Geburtsstadt Sotschi, Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014, als Kandidat der Gruppierung bei den Bürgermeisterwahlen an und unterlag seinem Widersacher Anatolij Pachamow von der Putin-Partei Einiges Russland, der 77 Prozent der Stimmen, die ein Ergebnis von Wahlmanipulationen sein sollen, erhielt.
Solidarnost ist aber nicht nur bei Wahlen aktiv. Seit mehreren Monaten demonstrieren Anhänger der Bewegung am 31. eines jeden Monats mit 31 Tagen, um an den Artikel 31 der russischen Verfassung zu erinnern, in dem die Versammlungsfreiheit garantiert wird. Und so war es auch am 31. Januar. Nach Angaben der russischen Internetzeitung Gazeta.ru nahmen 500 Anhänger der Opposition an der Demonstration in der russischen Hauptstadt teil, von denen 100 von der Miliz, die für ihr Vorgehen ungewöhnlich stak von den russischen Zeitungen kritisiert wurde, zeitweilig in Gewahrsam genommen wurden.
An diesem Januarwochenende wurde aber nicht nur in Moskau demonstriert. Neben Sankt Petersburg, fanden Proteste auch in Uljanowsk, Jekaterinenburg, Wladiwostok, Murmansk, Omsk und einigen anderen Städten des Landes statt. Doch die größte Demonstration, die in den hiesigen Medien wenig Beachtung fand, wurde in Kaliningrad organisiert. Zwischen 10.000 und 12. 000 Menschen folgten dem Aufruf von Konstantin Doroschok, dem lokalen Vorsitzenden der Oppositionsbewegung, und versammelten sich auf dem zentralen Platz in dem ehemaligen Königsberg.
Und obwohl die Demonstration friedlich und ohne Zwischenfälle ablief, wie die Organisatoren und die Miliz unabhängig voneinander erklärten, war es ein Protest, der die politische Elite im weit entfernten Moskau erschütterte. Denn es war nicht nur die größte Demonstration ,seitdem Wladimir Putin in Russland die politische Richtung angibt, sondern auch ein Protest, in dem wie noch nie zuvor die Regierung in Moskau kritisiert wurde. Die Kaliningrader verlangten nicht nur die Abberufung des 2005 vom Kreml eingesetzten Gouverneurs Georgij Boos, sondern auch die Wiedereinführung der Gouverneurswahlen. Und als ob dies nicht genug wäre, forderten sie auch gleich den Rücktritt von Premierminister Wladimir Putin und seiner gesamten Regierung.
Doch nicht nur die hohe Anzahl der Demonstranten und deren Forderungen waren für die Regierung in Moskau ein Schock. Bis auf Politiker der Putin-Partei Einiges Russland, traten auch alle lokalen Vertreter der in der Duma vertretenen Parteien auf der Protestkundgebung auf. Und dieser Umstand ist vielleicht die größte Überraschung bei der in Kaliningrad stattgefundenen Demonstration, denn bis auf die Kommunisten, waren die nationalistisch-populistische LDPR von Wladimir Schirinowski und Gerechtes Russland, die mit ihrem Vorsitzenden Sergej Mironow auch den Vorsitzenden des Föderationsrats stellt, der zweiten Parlamentskammer, eher als "Blockparteien" verschrien.
Der Wunsch nach politischen Veränderungen war jedoch nicht der ursprüngliche Grund für die Kaliningrader Großdemonstration. Seit Dezember 2008, als die Einfuhrzölle für Gebrauchtwagen aus dem Ausland drastisch angehoben wurden, protestieren die Menschen regelmäßig in der westlichen russischen Enklave. Doch während es im Dezember 2008 nur wenige hundert Menschen waren, die ihren Unmut laut zu äußern wagten, sollen es ein Jahr später bereits 5.000 gewesen sein. So viele Kaliningrader, auch wenn genauere Angaben fehlen, sollen am 12. Dezember gegen die Erhöhung der Kfz-Steuer sowie die Preissteigerungen bei Strom, Gas und Wasser demonstriert haben. Bis zum 30. Januar waren diese Proteste jedoch nicht mit politischen Forderungen verbunden.
“System Putin“ in der Krise
Dass dies nun der Fall war, ist auf den ersten Blick durchaus überraschend. Bis auf einige wenige kritische Stimmen von außerparlamentarischen Oppositionsgruppen waren Unmutsbekundungen gegenüber Wladimir Putin und seiner Politik bisher nicht zu vernehmen. Dank den seit 2000 gestiegenen Einnahmen aus dem Gas- und Erdölexport konsolidierte sich nicht nur der in den 90er Jahren stark gebeutelte Staatshaushalt, sondern auch der Lebensstandard der Bevölkerung verbesserte sich im Vergleich zu den Jahren unter Präsident Jelzin. Ein Umstand, der Putin so beliebt machte, dass sich die Menschen nicht daran störten, als er ihre bürgerlichen Rechte beschnitt, Wahlen manipulierte und die Partei Einiges Russland nach sowjetischen Muster zu einer Staatspartei machte (Die Wiedergeburt der Sowjetunion).
Dass dieses "System Putin" jedoch zu abhängig von den Einnahmen aus dem Rohstoffexport ist, zeigte sich mit der Wirtschaftskrise, die im September 2008 zuerst die russischen Finanzmärkte erfasste und einen Monat später die Realwirtschaft (In den Klauen des Bären). Doch während sich die russischen Oligarchen mittlerweile von der Krise erholen und seit 2008 ihre Vermögen sogar verdoppeln konnten, wie ein aktuelles Ranking des Wirtschaftsportals Finans zeigt, bekommen die Regionen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise stark zu spüren. Vor allem jene, die infrastrukturell schwach entwickelt sind, von einem bestimmten Industriezweig dominiert werden und kaum Anschluss an die Weltmärkte haben, mussten einen wirtschaftlichen Niedergang seit Herbst 2008 verkraften.
Mit für einige Regionen und deren Einwohnern auch für die nähere Zukunft erschreckenden Konsequenzen. Nach Meinung von Natalja Subarewitsch, Professorin an der Fakultät für Geographie an der Moskauer Universität und Direktorin des Regionalprogramms des Unabhängigen Instituts für Sozialpolitik, wird sich die Wirtschaftskrise weiterhin in den meisten Regionen Russlands bemerkbar machen. Was auch Folgen für die Russen hat, deren Arbeitslöhne und private Einnahmen auch in den nächsten Monaten rückläufig sein werden. Eine Entwicklung, die 2009 bereits der Einzelhandel zu spüren bekam, als zwischen Januar und September die Umsätze um 5 Prozent zurückgingen.
Eine Ausnahme bei diesem negativen Trend werden nur jene Regionen bilden, in denen exportstarke Industrien beheimatet sind oder politisch gewollte Großprojekte realisiert werden. Wie offizielle Statistiken zeigen, gehört Kaliningrad jedoch nicht zu diesen privilegierten Regionen Russlands. Im Vergleich zum Vorjahr fiel zwischen Januar und September 2009 die Industrieproduktion im Gebiet Kaliningrad um ca. 12 Prozent. Ein Wert, der im Vergleich zu den Wirtschaftszentren Moskau und Sankt Petersburg, wo zu dem gleichen Zeitraum die Industrieproduktion um über 20 Prozent zurückging, sogar noch paradiesisch wirkt. Doch während in den beiden Metropolen der Rückgang der Industrieproduktion eine Anstieg der Arbeitslosenquote von 0.4 auf 1.2 Prozent in Moskau und in Sankt Petersburg von 0.5 auf 2.7 zur Folge hatte, stieg die Arbeitslosigkeit in Kaliningrad zwischen Januar und September 2009 von 1.4 auf 4.6 Prozent an. Eine Entwicklung, für die der Kreml, trotz einer Wirtschaftssonderzone, durch die Abschottung der Enklave mitverantwortlich ist.
Und obwohl es Regionen gibt, die von der Wirtschaftskrise noch mehr gebeutelt sind, wie das von der Schwerindustrie dominierte Gebiet Kemerowo, wo zwischen Januar und September 2009 die Arbeitslosigkeit von 2.8 auf 5 Prozent anstieg und der Einzelhandelsumsatz sogar um 22 Prozent zurückging, ist es nicht verwunderlich, wenn die Menschen in Kaliningrad auf die Straße gehen. Vor allem dann, wenn mit der Erhöhung der Kfz-Steuer weitere finanzielle Belastungen auf sie zukommen.
Doch es ist nicht das erste Mal, dass seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise in Russland die Menschen auf die Straße gehen. Im Dezember 2008 fanden in Wladiwostok mehrere Wochen lang Demonstrationen statt, als Putin zum Schutz der heimischen Automobilindustrie die Einfuhrzölle für ausländische Gebrauchtwagen erhöhte und somit die Stadt und ihre Einwohner um eine wichtige Einnahme brachte. Für Aufsehen sorgten im Juni 2009 auch die Proteste in der 300 Kilometer nördlich von Sankt Petersburg gelegenen Kleinstadt Pikaljewo, als nach der Schließung der Zementfabrik auch das Wasserwerk seinen Betrieb einstellte und die Bewohner Straßenbarrikaden errichteten, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen.
Die Reaktionen Moskaus waren unterschiedlich auf diese Proteste. Während die Demonstrationen in Wladiwostok von OMON-Truppen, Sondereinheiten der Miliz, nieder geprügelt wurden, eilte Wladimir Putin zu den protestierenden Einwohnern von Pikaljewo, um vor laufenden Kameras den Oligarchen Oleg Deripaska dazu zu verdonnern, die ausstehenden Löhne auszuzahlen und die Zementproduktion wieder aufzunehmen. Bei landesweit 500 Monostädten, die wie Pikaljewo nur einen einzigen Arbeitgeber haben, keine Lösung mit Zukunft.
Enzig Präsident Medwedew könnte in Russland für Veränderungen sorgen
Ganz anders sahen die Reaktionen der Regierung auf die Demonstrationen in Kaliningrad aus. Moskau entsandte einige Vertreter in die westliche Enklave, um die Situation zu entspannen. Zudem plante die Partei Einiges Russland eine Gegendemonstration, verwarf diese Idee jedoch wieder. Wahrscheinlich auch deshalb, weil man sich von einem für August angekündigten Besuch Putins in Kaliningrad mehr erhofft. Doch am meisten soll ein Gerichtsurteil die Kaliningrader Bevölkerung besänftigen. Am 12. Februar sprach sich das Kaliningrader Verwaltungsgericht gegen die Erhöhung der Kfz-Steuer aus.
Ob dieses Urteil auch die Protestwelle abschwächt, ist fraglich. Bereits für den 20. März kündigte der Kaliningrader Solidarnost-Vertreter Konstantin Doroschok in einem Interview für den Radiosender Echo Moskwy weitere Proteste an. Und auch in weiteren Städten des Landes sollen in den nächsten Wochen Demonstrationen stattfinden, bei denen mit einem "zweiten Kaliningrad" gedroht wird. Für die Regierung mehr als unangenehm, da im März auch in einigen Regionen Kommunalwahlen stattfinden werden. Mit einem "zweiten Kaliningrad" droht aber nicht nur die außenparlamentarische Opposition.
Bei einer Dumasitzung am 10. Februar drohten Vertreter der LDPR und der Kommunisten der Regierung mit massiven Demonstrationen nach Kaliningrader Vorbild, falls es bei den Kommunalwahlen im März zu Manipulationen kommen sollte. Noch überraschender als die Warnung war jedoch die Kritik des Gerechtes-Russland-Vorsitzenden Sergej Mironow. Im russischen Staatsfernsehen, was in den letzten 10 Jahren unvorstellbar war, kritisierte der Vorsitzende des Föderationsrates die Wirtschaftspolitik von Wladimir Putin so scharf wie noch nie jemand zuvor. Eine Kritik, die Mironow noch heftigere Kritik und Rücktrittforderungen aus den Reihen von Einiges Russland einbrachte.
Ob dies alles aber Vorzeichen einer Revolution sind, wie einige westliche Beobachter mittlerweile vermuten, ist jedoch unwahrscheinlich. Die Proteste von Kaliningrad sind ein bisher zwar nicht gekanntes Phänomen in Putins Russland, wo bisher höchstens nur kremltreue Organisationen in solch einer Stärke demonstrierten, doch es sind die Unmutsbekundungen von Menschen, die Angst um ihre wirtschaftliche Zukunft haben. Doch die Mehrheit der Russen ist bisher immer noch zufrieden mit der Politik von Wladimir Putin. In einer im Januar durchgeführten Meinungsumfrage des renommierten Levada-Zentrums, stimmten 78 Prozent der Befragten der Politik Putins zu.
Der einzige, der in Russland tatsächlich für Veränderungen, ja für eine Revolution sorgen könnte, wäre Präsident Dimitrij Medwedew. Und das nähere Umfeld scheint Medwedew zu diesem Schritt zu ermutigen. Am 3. Februar präsentierte das Institut für moderne Entwicklung (INSOR) seine Vision vom Russland im 21. Jahrhundert. Darin fordert der präsidentennahe Think-Tank radikale Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zulassung von echter politischer Konkurrenz, Wahlrechtsreformen, die Direktwahl der Gouverneure, Entbürokratisierung der Wirtschaft und eine grundlegende Umstrukturierung der Sicherheitsorgane. Außenpolitisch ziehen die Experten des Instituts sogar die russische Mitgliedschaft in NATO und EU in Betracht. Das sind Forderungen, die das heutige Russland wirklich revolutionieren würden.