In den Klauen des Bären
Russland und die Finanzkrise
Als Premier Putin Anfang September Russland als „ruhigen Hafen im globalen Sturm der Märkte“ bezeichnete, hing das Damoklesschwert der Finanzkrise bereits über dem Land. Durch die Nebeneffekte der Finanzkrise und den rasanten Verfall des Ölpreises ist Russland in eine schwierige Lage geraten. Standard & Poor's hat am letzten Donnerstag den Ausblick für das langfristige Kreditrating Russlands von „stabil“ auf „negativ“ herabgesetzt und der in US-Dollar notierte russische Aktienindex RTS ist mit einem Verlust von 73% seit Mai im weltweiten Vergleich am stärksten vom Börsenbeben betroffen.
Die ersten Auswirkungen auf die Realwirtschaft sind bereits zu verzeichnen und auch in Russland hat sich eine Immobilienblase gebildet, die nun zu platzen droht. Noch ist Russland mit Devisenreserven in Höhe von 515 Mrd. Dollar in der komfortablen Lage, gegensteuern zu können. Die Reserven schrumpfen allerdings rapide und wenn sich die gegenwärtige Lage fortsetzt, sind sie im Juni 2009 aufgezehrt. Wenn die Ölpreise in nächster Zeit nicht wieder steigen, ist der russische Traum ausgeträumt.
Noch im Juli dieses Jahres notierte der Spotpreis für russisches „Urals-Oil“ bei über 140 Dollar pro Barrel. Jeden Tag strömten so Unmengen an Devisen in die russische Volkswirtschaft. Mit dem bisherigen Höhepunkt der Finanzkrise kollabierte der Ölpreis. „Urals-Oil“ wird momentan zu 59 Dollar gehandelt und auch die Weltmarktpreise für andere Rohstoffe, die Russland exportiert, haben in den letzten Monaten kräftig nachgegeben. Die Haushaltsplaner der Duma haben mit einem Mindestpreis von 70 Dollar pro Barrel kalkuliert – sinkt der Ölpreis unter dieses Niveau, müssen die Haushaltsdefizite aus dem Reservefonds gedeckt werden, der bislang mit den Überschüssen aus den Öl- und Gasexporten gespeist wurde.
Laut dem russischen Finanzminister Alexej Kudrin bedeutet jeder Dollar, um den der Ölpreis sinkt, ein Defizit von 2 Mrd. US-Dollar. Die Duma verzichtet momentan noch auf Budgetkürzungen, da die hohen Ölpreise im ersten halben Jahr die neuerlichen Defizite noch decken – sollte der Ölpreis mittel- bis langfristig unter 70 Dollar verharren, wird Russland zum ersten Mal seit der Jahrtausendwende seinen Haushalt zurückfahren müssen. Die Stadt Moskau verbucht bereits jetzt Steuerausfälle in Höhe von 5,7 Mrd. Dollar und hat bereits die ersten Investitionen auf Eis gelegt.
Der russische Aktienindex kannte seit der Überwindung der Rubelkrise im Jahre 1999 nur einen Weg – steil nach oben. Wer vor acht Jahren sein Geld am russischen Markt anlegte, konnte es bis zu Beginn des Jahres verzwölffachen. Anfang August löste der Georgienkrieg an den russischen Märkten eine erste Kapitalflucht aus. Zu Beginn des weltweiten Börsenbebens letzten Monat war der russische Markt bereits angeschlagen und verwundbar. In Moskau brachen Anfang Oktober alle Dämme, Tagesverluste in Höhe von 20% waren keine Seltenheit, immer wieder musste der Handel an der Moskauer Börse für Stunden und Tage ausgesetzt werden.
Als Gründe für diesen rasanten Verfall werden neben den Rohstoffpreisen immer wieder „Margin-Calls“ für Aktienpakete, die auf Kredit gekauft wurden und die Kapitalflucht westlicher Investoren genannt. Viele Fonds und Privatanleger suchten in stürmischen Zeiten einen sicheren Hafen und dieser Hafen war nicht der russische Markt, wie Premier Putin es sich wünschte, sondern festverzinsliche Papiere in der EU und den USA. Diese Kapitalflucht traf vor allem die bei Ausländern beliebten Standardwerte – die Marktkapitalisierung von Norilsk Nickel ging seit Mai dieses Jahres um 5/6 zurück und auch der Gigant Gazprom verlor 4/5 seines Aktienkapitals.
Arme Oligarchen?
Die Dauerbaisse am Aktienmarkt trifft vor allem die russischen Oligarchen, die – Analysten zufolge – rund 30% der Aktien am russischen Markt ihr Eigen nennen. Aktienkurse sind eigentlich nur ein virtueller Wert, auch jetzt besitzen die Oligarchen noch große Teile der Filetstücke der russischen Realwirtschaft; mit Problemen haben allerdings die Superreichen zu kämpfen, die ihre Aktien auf Kredit gekauft haben. Oleg Deripaska galt noch bis vor kurzem mit einem geschätzten Vermögen von 40 Mrd. US$ als der reichste Mann Russlands.
Deripaska hat sich bei der Übernahmeschlacht für einen 25% Anteil an Norilsk Nickel und Beteiligungen anderen Unternehmen jedoch massiv verschuldet und hat dafür seinen Aktienanteil an russischen Unternehmen als Sicherheit hinterlegt. Alleine für die Norilsk-Übernahme hat er rund 4 Mrd. Dollar Kredite aufgenommen, die mit Aktien dieses Unternehmens als Sicherheit abgesichert wurden. Diese Sicherheiten sind nun im Wert massiv gesunken und die westlichen Banken, die Deripaska den Kredit einräumten, verlangen zusätzliche Sicherheiten. Deripaska musste sich daher bereits von seinen Anteilen am deutschen Baukonzern Hochtief und am kanadischen Autozulieferer Magna trennen, die ebenfalls auf Pump gekauft wurden. Wie lange die Banken noch still halten, ist unbekannt.
Wenn sich die russischen Aktienmärkte nicht bald fangen, könnte Deripaskas sagenhafter Reichtum wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Russische Normalverdiener haben glücklicherweise nur sehr selten in Aktien investiert. Seit der Rubelkrise 1999 herrscht in Russland eine gesunde Skepsis gegen Finanzspekulationen jeglicher Art vor.
Banken: Nur noch begrenzt Bargeld über Geldautomaten
Die Finanzkrise hat auch vor dem russischen Finanzsektor nicht halt gemacht, obgleich dieser wesentlich geringer als seine westlichen Pendants in das internationale Kasino verwoben ist. Die rasanten Preisverluste an den Rohstoff- und Aktienmärkten haben die russischen Banken hart getroffen. Viele Banken geben nur noch begrenzt Bargeld über Geldautomaten aus, da die Eigenkapital- und Einlagendecke merklich geschrumpft ist.
Vier Banken wurden bereits aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten auf russische Art und Weise verstaatlicht – sie wurden von der staatlichen Außen- und Wirtschaftsbank VEB und der zum Gazprom-Konzern gehörenden Gazpromenergobank übernommen. Das Kapital für diese Übernahmen stammte aus dem Rettungspaket der russischen Regierung. Ihre eigentlichen Aufgabe, der russischen Wirtschaft Kredite zu geben, können und wollen viele Banken nicht mehr wahrnehmen. Die Finanzspritzen aus dem russischen Rettungspaket, die die Banken zu 8% bekommen, werden entweder als Liquiditätsreserve behalten oder zu horrenden Zinsen von über 25% an Kunden weitergegeben, die dringend liquide Mittel benötigen.
Gazprom
Von dem Austrocknen des Kreditmarktes ist nicht nur der Mittelstand betroffen – auch Unternehmen, die eigentlich als krisenfest galten, bekommen bereits erste Probleme. Der Öl- und Gasmulti Gazprom hat bereits Schwierigkeiten, Schulden zu refinanzieren und neue Kredite zu bekommen. Gazprom hat Verpflichtungen in Höhe von 55 Mrd. Dollar in Krediten und Anleihen, von denen im nächsten Jahr 6,6 Mrd. Dollar fällig werden.
Obwohl Gazprom im letzten Quartal einen Gewinn von 10 Mrd. Dollar melden konnte, ist es mehr als fraglich, ob dieses Jahr, wie geplant, 30 Mrd. Dollar in Investitionen fließen können.
Den hochverschuldeten Staatskonzernen Rosneft und Transneft will die chinesische Regierung unter die Arme greifen. 20 bis 25 Mrd. US$ sollen an die russischen Petrokonzerne gehen – als Gegenleistung möchte China dafür einen Liefervertrag mit einer Laufzeit von 20 Jahren haben.
Der Kampf um den Rubel
Die russischen Devisenreserven schrumpfen. Seit dem 1. August haben sie um 80 Mrd. Dollar abgenommen und momentan hält der russische Staat noch Reserven in Höhe von 515 Mrd. Dollar. Dieser Wert ist allerdings umstritten. Viele Kredite und Kapitalspritzen, die man dem russischen Finanzsektor im letzten Monat zur Begleichung ausländischer Kreditverpflichtungen zur Verfügung stellte, wurden geschickt „verpackt“ - die Gelder werden weiterhin den Devisenreserven zugerechnet, obwohl sie längst das Land verlassen haben.
Die russische Zentralbank führt seit einigen Monaten einen verzweifelten Kampf, den Kurs des Rubels gegen die beiden Leitwährungen Dollar und Euro zu verteidigen, die jeweils zu 50% den Währungskorb bilden. Gegenüber dem Dollar musste der Rubel seit August bereits 13% nachgegeben. Wie lange die Zentralbank gewillt und fähig ist, sich mit Milliardensummen gegen eine notwendige Abwertung zu stemmen, wird in Russland bereits offen diskutiert.
Alleine am vergangenen Mittwoch wurden laut Reuters 4,5 Mrd. Dollar auf den Markt geworfen, um den Rubel zu stabilisieren. In den letzten beiden Wochen musste die russische Zentralbank insgesamt 15 Mrd. Dollar aufwenden - wenn der Trend anhalten würde, wären im Juni 2009 die Devisenreserven aufgebraucht. Galten der Zufluss und der Abfluss von Devisen noch bis in den August diese Jahres mit einer Gesamtsumme von 800 Mrd. Dollar als ausgeglichen, flossen nach Angaben der Zentralbank in den letzten beiden Monaten netto jeweils 25 Mrd. Dollar an Devisen ab. Dies setzt den Rubel massiv unter Druck. Der russischen Volkswirtschaft droht bei Ölpreisen unter 60 Dollar pro Barrel ein Außenhandelsdefizit. Da das Volumen der Importe allerdings ebenfalls sinken wird, kann dieser Schwellenwert auch deutlich niedriger liegen.
Das Vertrauen in den Rubel ist bereits gestört. Privatkunden fragen zunehmend Fremdwährungskonten nach, was eine Trendumkehr darstellt. Vertreter von Banken, die als Tochterbanken westlicher Institute in Russland tätig sind, wurden bereits in die russische Zentralbank zitiert. In Einzelgesprächen wurden ihnen nahe gelegt, keine Devisen mehr aus dem Land abzuziehen, um damit die Eigenkapitaldecke der Mutterbanken zu stärken. Im schlimmsten Falle würde ausländischen Tochterbanken der Zugang zur russischen Zentralbank entzogen, was die Arbeit in Russland deutlich erschweren würde.
Der russische Handel mit China soll zukünftig nicht mehr über Dollar und Euro, sondern nur noch über Rubel und Yuan abgerechnet werden. Dies wurde in den Vorgesprächen zum Gipfeltreffen der Regierungschefs beider Staaten beschlossen, das am Dienstag in Moskau stattfand. Im bilateralen Handel habe die Umstellung bereits begonnen, ob auch Großprojekte zukünftig ohne Devisen finanziert werden, ist derweil noch unbekannt, so ein Sprecher des russischen Finanzministeriums. Diese Maßnahme ist sowohl für China, als auch für Russland ein logischer Schritt. Beide Länder haben im Sog der Finanzkrise mit steigenden Devisenkursen zu kämpfen und können so ihre Mittel besser einsetzen, um die eigenen Währungen gegen Währungsschwankungen zu verteidigen.
210 Mrd. US$ hat der russische Staat bereits in verschiedene Rettungspakete gesteckt – dies sind 15,5% des BIP. 35 Mrd. Dollar wurden alleine den Staatsbanken zur Verfügung gestellt, um das Bankensystem zu stabilisieren. Trotz dieser Maßnahmen steigen die Zinsen für Kredite unaufhörlich und der Geldmarkt zwischen den Banken ist ebenso wie im Westen zum Erliegen gekommen.
Platzt die russische Immobilienblase?
Besonders negativ von der Finanzkrise ist der russische Immobiliensektor betroffen. Jahrelang wurde auf Kredit gebaut und gekauft und die Immobilienpreise erreichten schwindelerregende Höhen. Im Moskau kostet ein Quadratmeter Wohnfläche durchschnittlich bereits über 7.000 Dollar.
Luxusappartements mit 539 Quadratmeter Wohnraum wurden in den letzten Monaten zu Phantasiepreisen von 32 Mio. Euro verkauft; aber auch kleine Eigentumswohnungen in windschiefen Wohnblocks aus den 1950er Jahren werden in Moskau zu 120.000 Euro gehandelt – eine Immobilienblase großen Maßstabs.
Diese Blase droht nun zu platzen. Zwar liegen die Immobilienpreise immer noch 57% über dem Vorjahresniveau, aber im letzten Monat nahm der Preisanstieg mit „nur“ 2,7% bereits merklich ab. Zu diesen Preisen wird indes kaum noch gekauft. Neubauten werden bereits 20 bis 30% unter dem projizierten Wert verkauft und im Bausektor stehen landesweit die Räder still. Am Entstehen dieser Blase hat die russische Regierung eine gehörige Mitschuld.
Als Dimitri Medwedew noch Vizepremier war, gehörte das Projekt „zugänglicher Wohnraum“ zu seinen Steckenpferden. Nur wurden in diesem Projekt kaum bezahlbare Sozialwohnungen gebaut, da dies den Preis für Immobilien gesenkt und damit den Bau- und Immobiliensektor geschädigt hätte. Stattdessen förderte der Staat die Vergabe von Hypotheken, was eine ungesunde Preisspirale ausgelöst hat. Durch die realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise drohen nun viele dieser Hypotheken auszufallen und dadurch eine zusätzliche Abwärtsspirale in Gang zu setzen.
Bis Ende Oktober wird die Zahl der Menschen, die unter verzögerten Lohnauszahlungen zu leiden haben, auf rund 380.000 steigen und rund 100.000 haben in den letzten Wochen ihren Job verloren, so Sergej Mironow, Sprecher des Föderationsrates. In allen Branchen ist bereits ein Arbeitskräfteabbau von rund 10% zu beobachten, besonders kritisch trifft es den Bau-, den Handels- und den Finanzsektor.
Inflation und Automarkt
Die Inflation wird in diesem Jahr nach offiziellen Schätzungen 13% betragen - unabhängige Experten gehen allerdings sogar von 15% bis 17% aus. Neben dem besonders betroffenen Bau- und Finanzsektor ist die Finanzkrise in der Realwirtschaft besonders auf dem russischen Automarkt zu spüren.
Im August hatte Russland erstmals Deutschland als größten Autoabsatzmarkt Europas überholt – für das Jahr 2008 ging man ursprünglich von über 3,2 Mio. Neuzulassungen am russischen Markt aus. Der Neuwagenabsatz ist seit dem Sommer jedoch um bis zu 35% gesunken, die Händler liefern sich bereits eine Rabattschlacht. Als Hauptgrund für diesen Einbruch sind die gestiegenen Zinsen am Kreditmarkt verantwortlich. Neben westlichen Herstellern sind auch russische Hersteller betroffen.
Bei den russischen Automobilkonzernen Kamaz und GAZ stehen bereits die Produktionsbänder still. 10% der Arbeitskräfte wurden entlassen, der Rest in Zwangsurlaub geschickt und die Gehälter wurden um ein Drittel gekürzt. Ähnliche Maßnahmen wurden auch von den Zulieferern unternommen.
Die Prognosen für das russische Wirtschaftswachstum wurden jüngst auf 5% statt der anvisierten 6,7% herabgesetzt - für 2010 gehen die Experten bereits von einem Nullwachstum aus. Das Stimmungsbild in den großen russischen Unternehmen ist desaströs – 81% sind der Ansicht, dass die Finanzkrise ihr Unternehmen bedrohe und weitere 9,5% erklären, dass sie von der Krise zumindest zum Teil betroffen sind. Russlands Absturz ist hausgemacht. In den Jahren des ölpreisgetriebenen Booms hat man es in Moskau versäumt, die Wirtschaft zu diversifizieren und auf eine breitere Basis zu stellen.
Held der Stunde: Finanzminister Alexej Kudrin
Oligarchen, die Millionen für importierte Luxusgegenstände ausgeben, sind keine Stütze für eine Volkswirtschaft. Der tragische Held der Stunde ist der russische Finanzminister Alexej Kudrin. Wie Fafnir vor dem Nibelungenschatz bewachte er die russischen Devisenfonds gegen allerlei Begehrlichkeiten aus Politik und Wirtschaft. Ohne die riesigen Devisenreserven wäre der Absturz Russlands nur noch eine Frage der Zeit.
Anders als die Nachbarn in der Ukraine, in Weißrussland und im Baltikum verfügt Russland aber noch über die Mittel, sich gegen den Absturz zu wehren. Als Schlüsselfaktor für Russlands Zukunft ist der Ölpreis zu sehen. Bleibt dieser auf niedrigem Niveau, wird Russland es schwer haben, sich gegen die Krise stemmen, steigt er alsbald wieder, könnte Russland mit einem blauen Auge davonkommen.