Steigende Zahl der Syrienkämpfer aus Deutschland

Seite 2: Die Syrienrückkehrer als Sicherheitsrisiko

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Mehdi Nemmouche ist ein französischer Staatsbürger algerischer Abstammung, der sich am Dschihad in Syrien auf Seiten der ISIL beteiligte. Am 18. März 2014 reiste er via Malaysia, Singapur und Thailand nach Frankfurt und weiter nach Belgien. Hier verübte er am 24. Mai einen Terroranschlag auf das Jüdische Museum (Musée Juif de Belgique) in Brüssel, bei dem vier Menschen erschossen wurden. Eine Woche später flüchtete er mit einem Überlandbus nach Marseille Saint-Charles (Frankreich), wo er festgenommen wurde.

Die französischen Sicherheitsbehörden hatten Mehdi Nemmouche zur "verdeckten grenzpolizeilichen Beobachtung" im Schengener Informationssystem (SIS) - ohne Angabe von Gründen - ausgeschrieben. Daher war Nemmouche bei seiner Zwischenlandung auf dem Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt von der Bundespolizei diskret erfasst worden. Daraufhin informierte das BKA die Behörden in Frankreich. Allerdings wurde Nemmouche weder observiert noch festgenommen. "Die Franzosen haben uns nicht gesagt, warum sie den Aufenthaltsort wissen wollten und wie gefährlich Nemmouche ist", beklagte sich anschließend ein deutscher Sicherheitsbeamter. Immerhin bestand die theoretische Gefahr, dass Nemmouche seinen Anschlag nicht in Belgien, sondern in der BRD hätte verüben können

Als der Bundesinnenminister Thomas de Maiziére am 18. Juni 2014 in Berlin den neuen "Verfassungsschutzbericht 2013" vorstellte, nahm er das Brüsseler Attentat zum Anlass, um vor weiteren Anschlägen durch Syrienheimkehrer zu warnen: "Der Anschlag von Brüssel hat uns vor Augen geführt, dass aus der Möglichkeit eines Anschlags durch solche Syrien-Rückkehrer eine tödliche Realität geworden ist. (…) Inzwischen wissen wir, dass diese Sorge mehr als berechtigt war: Aus einer abstrakten Gefahr von kampfbereiten Rückkehrern ist eine konkrete tödliche Gefahr geworden in Europa " (http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/06/18/innenminister-de-maiziere-warnt-vor-terror-anschlag-in-deutschland/) Und der BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen ergänzte bei der gleichen Gelegenheit: "Deutschland ist nicht weit entfernt vom Terrorismus. Wir sind weiterhin Ziel von Anschlagsplanungen." Konkrete Pläne benannte Maaßen allerdings nicht.

Die Terrorgefahr im Inland erhöht sich durch die Rückkehr fanatisierte Syrienkämpfer. Rund 100 Personen sind mittlerweile in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Einige wollen hier ihre Kriegsverletzungen auskurieren, andere organisieren den logistischen Nachschub für ihre Kampforganisation. Bisher haben sie noch keinen Anschlag in Deutschland verübt. Dennoch sind gegen die Rückkehrer Ermittlungsverfahren auf Basis des modifizierten § 89a (StGB) "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat" anhängig. Darin heißt es:

(1) Wer eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Eine schwere staatsgefährdende Gewalttat ist eine Straftat gegen das Leben in den Fällen des § 211 oder des § 212 oder gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder des § 239b, die nach den Umständen bestimmt und geeignet ist, den Bestand oder die Sicherheit eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beeinträchtigen oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben. (...)

(3) Absatz 1 gilt auch, wenn die Vorbereitung im Ausland begangen wird. Wird die Vorbereitung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union begangen, gilt dies nur, wenn sie durch einen Deutschen oder einen Ausländer mit Lebensgrundlage im Inland begangen wird oder die vorbereitete schwere staatsgefährdende Gewalttat im Inland oder durch oder gegen einen Deutschen begangen werden soll.

So ist bereits der Aufenthalt in einem ausländischen Terrorcamp bereits strafbar, wenn damit der Vorsatz verbunden ist, eine schwere staatsgefährdende Straftat zu begehen. Allerdings ist der Nachweis dieses Vorsatzes nur schwer möglich. So hatte der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes am 8. Mai 2014 die Verurteilung des afghanisch-stämmigen Bombenbauers Keramat G. zu einer Haftstrafe von drei Jahren aufgehoben. In dem Urteil des BGH (Aktenzeichen: 3 StR 243 / 13) heißt es zur Begründung, zur Verurteilung sei es nötig, "dass der Täter bereits fest entschlossen ist, später eine schwere staatsgefährdende Gewalttat zu begehen; es reicht nicht aus, dass er dies lediglich für möglich hält und billigend in Kauf nimmt."

Dennoch hält das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) die bisherige Regelung für ausreichend. Dessen Pressesprecherin erklärte: "Die dem BMJV bekannt gewordene hohe Zahl von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auf der Grundlage des Paragrafen 89a Strafgesetzbuch, die unter anderem auch die Syrienfälle betreffen, zeigt, dass die derzeitige Gesetzeslage greift."

Wiederholt haben die Sicherheitsbehörden den Rückkehrern ihre Ausweispapiere abgenommen, um zu verhindern, dass sie erneut nach Syrien ausreisen. Allerdings besteht in diesen Fällen die Gefahr, dass die Dschihadisten dann in der BRD selbst Anschläge verüben könnten. Möglich sei auch, dass Attentäter mit den Personalpapieren ausgereister Syrienkämpfer als "Dokumentendoublette" in die Bundesrepublik einreisen, um hier einen Anschlag zu verüben, da die Kriegsfreiwilligen in Syrien ihre amtlichen Personalpapiere an ihre Organisation i. d. R. abtreten müssen.

Staatliche Initiativen zur Terrorabwehr

Der Einschätzung des Bundesjustizministeriums widersprach der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt. Er hält eine gezieltere Überwachung dieser "potentiellen Gewalttäter" für zwingend geboten, zugleich aber "ziemlich unwahrscheinlich". "Schon die permanente Beobachtung einer einzelnen Person ist immens personalintensiv und an strenge rechtliche Voraussetzungen geknüpft", erklärte der Gewerkschaftschef. Um eine Überforderung des heimischen Polizeiapparates angesichts der Vielzahl der Tatverdächtigen zu verhindern, forderte er eine Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten im Ausland:

Es ist richtig und notwendig, technische Mittel zur besten Überwachung einzusetzen, dazu zählt natürlich die Kontrolle und Auswertung vorhandener Daten, aber auch eine umfangreiche Auslandsaufklärung. (…) Die derzeitige absurde Diskussion darüber, wie der Bundesnachrichtendienst seine Möglichkeiten zur Optimierung seiner Erkenntnisgewinnung erhöht, zeigt aber jetzt schon, wie solche Debatten in Deutschland geführt werden. (…) Manche Politiker glauben eben immer noch, die eigenen staatlichen Behörden seien der Feind unserer demokratischen Ordnung, statt unseren Sicherheitskräften die notwendigen Mittel zur erfolgreichen Terrorbekämpfung zu geben.

Bisher können vom Bundesnachrichtendienst nur 3 bis 5 Prozent der transnationalen Telekommunikation tatsächlich abgefangen werden. Nun plant die BND-Abteilung 2 (Technische Aufklärung) den Ausbau ihrer Spionage-Kapazitäten. Beim Projekt "Strategische Initiative Technik" (SIT) geht es um fünf Bereiche: 1. Internetüberwachung, 2. Speicherung von Meta-Daten, 3. Aufklärung der telemetrischen Daten bei Raketentests fremder Staaten (Russland), 4. Entwicklung von Software für eigene Cyberattacken und 5. Biometrie (Daktyloskopie und Iris-Scans) zur Enttarnung von gegnerischer Agenten. Im Internet sollen die verschiedenen Social Media-Dienste (Facebook, Flickr, Instagram, Twitter, Youtube, etc.) überwacht werden. Es geht u. a. um die "Echtzeitanalyse von Streaming-Daten". In sozialen Netzwerken seien politische Ereignisse abzulesen, man könne sich dadurch ein vollständigeres Lagebild verschaffen, ja sogar Trends vorhersehen (Der BND braucht mehr Geld zum Lauschen).

Das SIT-Projekt wurde 2013 gestartet. Dazu führt die Bundeswehr-Universität in München z. Zt. eine Machbarkeitsstudie "Automatisierte Beobachtung von Internetinhalten" durch. Anfang Juni 2014 genehmigte die Bundesregierung die geforderte erste Rate von 6 Millionen Euro zur Durchführung von Software-Tests. Im Herbst 2014 soll endgültig über die Durchführung des Programms entschieden werden. Bis zum Jahr 2019 wird das SIT-Projekt voraussichtlich knapp 300 Millionen Euro kosten.

Es ist allerdings zu bezweifeln, dass man in einem vom Bürgerkrieg weitgehend zerstörten Land ausgerechnet durch Überwachung des modernen Internetverkehrs substantielle Informationen über deutsche Dschihadisten sammeln kann. Offensichtlich muss hier die Terrorgefahr herhalten, um die Pläne des BND zu legitimieren, damit der deutsche Auslandsgeheimdienst den Anschluss an die amerikanische NSA oder den britischen GCHQ nicht völlig verliert. Derweil sollen auch in Großbritannien die Geheimdienstkompetenzen noch weiter ausgedehnt werden (Abschreckung vom "Abenteuer Dschihadismus" durch brutale Bilder?).

Neben dem Ausbau des staatlichen Überwachungsapparates soll auch das Repressionsinstrumentarium ausgeweitet werden. Die militärischen "Erfolge" der ISIL im Juni 2014 lenkten das öffentliche Interesse auf die Problematik der deutschen Syrienheimkehrer. Politiker fühlten sich dadurch zu Gesetzesinitiativen berufen. So forderte die Hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU), man müsse das Recht auf Freizügigkeit einschränken und schon im Vorfeld eine Ausreise von potentiellen Terrorverdächtigen verhindern: "Wir dürfen es nicht zulassen, dass junge Menschen mit dem Ziel, an bewaffneten Konflikten teilzunehmen, ins Ausland reisen." Dies müsse der Staat "mit Mitteln des Strafrechts unterbinden".

Zuvor war bereits der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) vorgeprescht und hatte am 17. Juni 2014 eine Rückkehr der Dschihadtouristen ausgeschlossen: "Wir müssen dafür Sorge tragen, dass diese Leute nicht wieder nach Deutschland einreisen und zu einer lebensbedrohlichen Gefahr für alle anderen werden." Sein Parteifreund Dietmar Woidke, Ministerpräsident von Brandenburg, stimmte ihm zu.

Und am 20. Juni 2014 ging der Stellvertretende Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion Thomas Strobl noch weiter und verlangte - unter Missachtung von Artikel 16 und 116 des Grundgesetzes - eine Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG). Dazu postulierte er einen Drei-Punkte-Plan: "Wir brauchen ein Einreiseverbot für solche potenziellen Terroristen. Zudem wollen wir die Ausbildung in terroristischen Lagern unter Strafe stellen. Man müsste sogar überlegen, ob man solchen Leuten - falls sie Deutsche geworden sind - unsere Staatsangehörigkeit wieder entziehen kann." Allerdings sind über sechzig Prozent der Kriegsfreiwilligen von Geburt an deutsche Staatsbürger, ihnen kann die deutsche Staatsbürgerschaft (bisher) weder entzogen, noch können sie ausgewiesen werden.

Der deutsche Abu Mudschahid al-Muhadschir ruft in einem Video zum Kampf auf

Allein mit einer verschärften staatlichen Repression durch Polizei und Verfassungsschutz lässt sich das Problem langfristig nicht lösen. Der Islamwissenschaftler Jörn Thielmann vom Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE) sieht in den Syrienheimkehrer traumatisierte Kriegsopfer, die deswegen besonders gefährlich und gefährdet sind und daher einer psychotherapeutischen Behandlung bedürfen:

Ich glaube, sie können besonders gefährlich sein. Das liegt unter anderem auch an zu erwartenden massiven posttraumatischen Belastungsstörungen durch den Aufenthalt in absolut entmenschlichten, brutalisierten Kampfgebieten, durch die Beteiligung an Kampfhandlungen und Erfahrungen mit entfesselter Gewalt, vielleicht auch mit aktiver Beteiligung an Gewalt. Diese Menschen brauchen nicht nur eine kriminalistische Behandlung, sondern vor allem medizinische und psychotherapeutische Hilfe, damit sie nicht gefährlich werden - so wie traumatisierte Soldaten, die heimkehren, Betreuung und Hilfe brauchen, damit sie nicht Amok laufen oder sich selbst verletzten und schädigen. Das ist ein medizinisch-psychologisches, therapeutisches Problem, das man ernst nehmen muss und nicht nur mit Bewachung und Vorladung zur Polizei in den Griff bekommt. (…)

In islamistischen Zirkeln haben sie mit Sicherheit Reputation und Respekt als Menschen, die etwas gewagt haben für ihren Glauben und den Islam - was immer das im Einzelfall sein mag. Insofern werden sie eine positive Aufnahme erfahren. Die Frage ist, ob diese positive Aufnahme ihrer Lebenssituation auch ihrer psychosozialen Situation gerecht wird. Da habe ich meine Zweifel. Denn vieles von dem, was sie erlebt haben, werden sie nicht erzählen und berichten können. Sie können vielleicht sagen: Wir sind von der syrischen Regierung beschossen oder bombardiert worden. Und da haben wir uns heldenhaft verhalten. Aber all die Gewalt, Gewaltakte, die man selbst und vielleicht an Unschuldigen verübt hat, das lässt sich ja nicht erzählen.

Jörn Thielmann

Allerdings ist anzunehmen, dass die Dschihadisten mit dieser "Psychiatrisierung" keineswegs einverstanden sind. Außerdem sind die vorhandenen Aussteigerprogramme nicht in der Lage, eine psychosoziale Betreuung einer größeren Zahl von Betroffenen zu gewährleisten.

Namensliste der Dschihadisten aus Deutschland in Syrien

Die am syrischen Bürgerkrieg beteiligten Dschihadisten haben sich verschiedenen, konkurrierenden Gruppierungen angeschlossen. Hier folgt ein aktueller Überblick (Mehrfachnennungen möglich). Die bekannten Todesopfer sind mit einem "+" gekennzeichnet:

Islamische Staat im Irak und Levante (ISIL oder ISIS): "Abu Mudschahid al-Muhadschir", Robert Baum (+), Philipp Bergner, Kreshnik B., Lufti B., Denis Mamadou Gerhard Cuspert, Ayoub Ch. (+), David Gäble (+), Fatih I., Ismail I., Majdi J., Fatih Kahraman, Mustafa K., Sarah O., Karolina R., "Sulayman" (+), und Benjamin X.

Jabhat al-Nusra (JaN oder JN): "Abu Ahmad al-Almani" (+), Gökhan C. und Munir Ibrahim

Jaish al-Muhajirin wal-Ansar (JAMWA): Mohammed Sobhan A., Ismail I., Munir Ibrahim und Reda Seyam

Junud al-Sham: Fatih Kahraman

Liwa al-Schabah: "Abu Yassin"

Jugend der Armee Mohammed im Land von Scham: Kerim B.

Unbekannte Gruppenzugehörigkeit: Sabri Ben Abda, "Abu Ibrahim al-Almani" (+), "Abu Muhammad al-Almani", "Abu Zaid al-Almani" (+), "Abu Handalah al-Maghribi" (+), Mohamed A., Hilal Bulut, Khalid B., Mustafa B., Rashid B., Zied B., Gökhan C. (+), Enes D. (+), Aslanbek F. (+), Omar G., Mohamad Osama Kahf, Burak Karan (+), Mohannad K., Mustafa K., Sven Lau, Hajan Masmoum, Samra Nedeljkovic, Sarah O., Harun P., Rajah, Ibrahim R., Bilal Selvarajah, "Abu Schubidanski", Mustafa T., Bilal Ünal (+), "Abu Usamah", "Abu Yassin" und Ertuğrul Y..

Durchreisende Syrien-Rückkehrer: Nemmouche B. und Mehdi Nemmouche

Unterstützer in der BRD: Außerdem wurden folgende Personen als Unterstützer bekannt bzw. konnten an einer Ausreise nach Syrien durch eine Festnahme gehindert werden: Mohamed A., Mohammad Sobhan A., Zied B., Ahmad Mutaz Faysal, Ezzeddine I., Ismail I., Izudin J., Hamid K., Michael N. und Ismail S..