Stein im Schwarzen Brett
Wie Pressemitteilungen zu Nachrichten werden
Christian Selz analysierte für seine Abschlussarbeit an der Hochschule Bremen insgesamt 476 Berichte und Meldungen der Agenturen dpa, AP, AFP und ddp zu den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm. Dabei fand er heraus, dass das "Verhältnis der Agenturen zur Polizei [...] deutlich weniger distanziert [war] als [...] zur Partei der Demonstranten."
Herr Selz - wie kamen Sie zu dem Ergebnis?
Christian Selz: Dieser Unterschied war nach der Analyse des Agenturmaterials offensichtlich. Ich habe die Agenturtexte zum Thema empirisch daraufhin untersucht, wie die beiden Konfliktparteien, also Polizei und Demonstranten, darin zu Wort kamen. In drei abgestuften Kategorien habe ich die Distanz der jeweiligen Aussage je nachdem, wie sie in den Text eingebracht wurde, eingeteilt.
Ein Beispiel: Wenn eine Konfliktpartei in dem Agenturtext 'behauptete, etwas sei geschehen' ist das natürlich eine deutlich größere Distanz, als wenn jemand 'feststellte, dass etwas passiert ist'. Mit diesen sprachlichen Mitteln drücken sich Distanz und Nähe in Texten aus.
Die Kategorien und Schlagwörter waren dabei übrigens für Polizei und Demonstranten vollkommen gleich. Beim Auszählen fiel dann auf, dass Aussagen der Polizei beispielsweise viel häufiger im Indikativ, also als Tatsachen, dargestellt wurden und das für die Demonstranten häufig nur der Konjunktiv blieb. Einfach gesagt las es sich meist so: 'Was die Polizei sagt, stimmt so, was die Demonstranten sagen, könnte so gewesen sein.' Das lässt sich aus den nüchternen Zahlen eindeutig ablesen.
Wie sahen die Zahlenverhältnisse genau aus?
Christian Selz: Demonstranten: 506 Aussagen, davon 5 große Distanz, 431 mittlere und 70 Geringe.
Polizei: 500 Aussagen, davon 0 große Distanz, 306 mittlere und 194 geringe.
Die Kategorie große Distanz war dabei von vorneherein so angelegt, dass sie ein eindeutig abwertendes Eingreifen des Verfassers beim Wiedergeben einer Aussage beschreibt. Dazu die Codebuchdefinition der Kategorie:
Diese Kategorie wird gezählt, wenn direkte oder indirekte Zitate mit stark distanzierenden Verben wie beispielsweise 'behaupten' verknüpft werden, sowie wenn Aussagen mit Attributen wie 'angeblich' oder stark distanzierenden Wendungen wie 'nach Darstellung von' versehen werden und gleichzeitig im Konjunktiv formuliert sind. Auch Aussagen, deren Inhalt durch das Textumfeld konterkariert wird, werden hier codiert.
Interessant ist in Hinblick auf die Aussagen übrigens auch, in welchen Genres wer zu Wort kam: In Korrespondentenberichten, die nur 7,6 Prozent der Texte ausmachten, fanden sich fast ein Viertel (24,1 Prozent) der gesamten Aussagen der Demonstranten. Die Polizei verbucht hier nur 5,8 Prozent ihrer Aussagen - sie ist dafür in den anderen Genres, also denen, die am Redaktionsschreibtisch entstehen und von der Pressearbeit der Konfliktparteien leben, stärker vertreten.
Das heißt also, das dies früher, als Nachrichtenagenturen noch mehr mit vor-Ort-Korrespondenten und weniger mit Pressemitteilungen arbeiteten, möglicherweise anders war?
Christian Selz: Anzunehmen ist das, denn wer sich vor Ort ein Bild von der Lage macht, ist logischer Weise zunächst weniger versucht, einfach Pressemitteilungen zu übernehmen. Es wäre zumindest äußerst interessant, diese Vermutung einmal zu vergleichen.
Was aus Polizeimagazinen zu hören ist, geht übrigens auch in diese Richtung. Da liest man dann von in den 60er Jahren feindseliger und außerordentlich kritischer Berichterstattung über die Polizei und davon, dass sich das Verhältnis heute harmonisiert hat. Diese neue Harmonie hat - den Schluss lassen die Zahlen zu - auch mit verstärkter Pressearbeit der Polizei zu tun, denn unter den Korrespondenten ist sie ja längst nicht so ausgebildet. Bei den restlichen Texten treffen dann aber Zeitdruck und Personalknappheit in den Redaktionen auf Konfliktparteien mit völlig ungleichen PR-Budgets.
Ist dann das öffentliche Bild über die Demonstrationsberichterstattung in den 1960ern eventuell zu sehr von Springer geprägt?
Christian Selz: Der Gedanke an 'Bild schoss mit' kam mir auch sofort als mögliches Argument gegen die These der früher zu polizeikritischen Presse. Man muss hier aber auch unterscheiden: Dass die Demonstranten zu Wort kommen, muss auch nicht in jedem Fall heißen, dass die Berichterstattung sie in einem positiven Licht darstellt. In meiner Analyse waren die Ergebnisse gerade in Bezug auf die Korrespondentenberichte zwischen den verschiedenen Agenturen sehr verschieden. So waren bei dpa in diesen Berichten nur fünf Prozent der Aussagen über die Demonstranten positiv, aber 45 Prozent negativ, während sich positive und negative Beschreibungen bei AFP, AP und ddp auf einem Level von jeweils 15 bis 20 Prozent ungefähr die Waage hielten. (Alle anderen Erwähnungen der Demonstranten waren neutral oder nicht zuzuordnen.) Der Fakt, selbst Quelle zu sein, ist also für eine Konfliktpartei meist hilfreich, jedoch nicht zwingend immer.
Zurück zu den Pressemitteilungen. Ergaben sich bei der Auswertung Anhaltspunkte dafür, warum jene der Polizei weniger distanziert wiedergegeben wurden?
Christian Selz: Man kann da viel spekulieren. Zeitdruck, ausgedünnte Redaktionen, der Nachrichtenfaktor Gewalt, den die Polizei in ihren Berichten über die Demonstranten, die ja vor mit Rasierklingen gespickten Kartoffeln und vermummten Krawallmachern nur so strotzten - wahrscheinlich spielte da alles eine Rolle. Darüber hinaus ist die Polizei ja auch in Zukunft noch ein wichtiger Ansprechpartner für die Kollegen, den man eventuell ungern verprellt. Alles möglich, aber ohne eine persönliche Befragung bleibt es für mich im Reich der Vermutung, empirisch belegen lassen sich Motivationen nicht.
Könnte es nicht auch zu einem guten Teil daran liegen, dass die Pressemitteilungen der Polizei etwas - sagen wir mal - weniger ambitioniert formuliert waren, während sich diejenigen verschiedener politischer Gruppen häufig lasen wie unfreiwillige Parodien?
Christian Selz: Der Ticker, den beispielsweise Indymedia recht zeitnah herausgab, schien mir zumeist auch relativ nüchtern gehalten. Und was unfreiwillige Parodien angeht, möchte ich nur an den Kavalla-Sprecher Claassen erinnern, der laut Spiegel Online zum zunächst abgestrittenen, einen Tag später jedoch bewiesenen und gezwungener Maßen zugegebenen Einsatz von Zivilbeamten sagte: 'Was ich gestern gesagt habe, war gestern zutreffend. Was ich heute sage, ist heute zutreffend.' Es scheint mir daher nicht ausschließlich ein Problem der Professionalität der Pressearbeit zu sein, auch wenn das sicherlich ebenfalls eine Rolle spielt.
Wo Sie Indymedia erwähnen: Neben schlechtem Deutsch und Binnen-I fanden sich dort zu einem anderen Ereignis beispielsweise Prahlereien, wie man Zeitungen mit Schwarzer Propaganda irreführte. Müssen Gruppen, die derart offen eine der-Zweck-heiligt-die-Mittel-Ideologie propagieren, nicht damit rechnen, dass Nachrichtenagenturen ihre Meldungen entsprechend skeptischer handhaben?
Christian Selz: Indymedia an sich ist ja keine homogene Gruppe, sondern eher eine Plattform, die unter anderem auch von den Demonstranten gegen den G8-Gipfel genutzt wurde. Das ein solches Medium inhaltlich angreifbar ist, ist immer klar - auch wenn die von Ihnen angesprochene Irreführung von Medien ja nicht durch Publikationen auf der Indymedia-Seite geschah. Vielmehr haben die Irreführer dort von ihrer Aktion berichtet.
Aber es geht mir hier auch gar nicht darum, Indymedia in den Himmel zu heben. Ich habe auch nichts gegen die kritische Beurteilung von Nachrichten - gerade wenn es Nachrichten sind, die von in einen Konflikt involvierten Parteien kommen. Im Gegenteil, meiner Meinung nach müssen Journalisten solche Verlautbarungen immer hinterfragen. Blindes Vertrauen in die seriöser aufgemachte Quelle kann - wie in Rostock geschehen - zu Falschmeldungen und im Endeffekt zu einer verzerrten Darstellung des Geschehens führen.