Stell dir vor, es ist Krieg und keiner schaut hin

Zerstörter Behandlungsraum einer Klinik in Tel Rifat. Foto: ANF

In Nordsyrien und dem Nordirak sind türkische Bombardements und Drohnenangriffe alltäglich. Eine unvollständige Chronik der letzten zwei Monate

Seit Wochen greift die Türkei das Gebiet der Selbstverwaltung in Nord- und Nordostsyrien an. Täglich werden durch türkische Kampfdrohnen und Artillerie Gebäude zerstört, Menschen verletzt und getötet. Dabei gelten diese Angriffe nicht nur den Syrian Democratic Forces (SDF), wie Ankara behauptet.

Recep Tayyip Erdogans Ziel ist die Vertreibung der Stammbevölkerung und die Destabilisierung der Region von Aleppo bis Mossul. Mit diesen Angriffen verstoßen der türkische Präsident und sein Militär gegen den 2019 mit der Selbstverwaltung – unter Vermittlung der USA – vereinbarten Waffenstillstand. Das US-Außenministerium ist "sehr besorgt", die Bundesregierung schweigt indessen hartnäckig, das Außenministerium hat "keine eigenen Erkenntnisse".

In deutschen Medien wird jeden Tag ausführlich über die russischen Angriffe in der Ukraine berichtet. Was sich täglich in Nordsyrien und im Nordirak abspielt, ist. Ein Bericht in der ZDF-Sendung "Kulturzeit" vom 27. Mai zeigt anschaulich das Leid der Bevölkerung in Nordsyrien und im Nordirak, das die Türkei verursacht.

Ergänzend dazu lässt sich auf Basis kurdischer, syrisch-kurdischer und türkischer Nachrichtenquellen ein Rückblick auf die letzten zwei Monate zusammenstellen:

1. Juni: Eine Frauenklinik im nordsyrischen Tel Rifat wird durch einen türkischen Drohnenangriff schwer beschädigt. Laut einem Bericht der kurdischen Nachrichtenagentur ANF wurde bei dem Angriff am Mittwochmorgen eine Wand der Klinik durchschlagen und Behandlungsräume zerstört. Nach bisherigen Erkenntnissen entstand schwerer Sachschaden, der die Versorgung von Patientinnen gefährden dürfte.

27. Mai 2022: Im Nordirak erfolgten innerhalb von 24 Stunden 60 Luftschläge des türkischen Militärs. 30 Mal soll es im selben Zeitraum auch Chemiewaffen gegen vermeintliche Stellungen des militärischen Arms der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingesetzt haben – diesen Vorwurf erhob das Pressezentrum der kurdischen Volksverteidigungskräfte (HPG).

Nicht zum ersten Mal: Bereits Anfang Mai hatte ein in der Region tätiger Arzt eine Untersuchung durch internationale Organisationen gefordert, um zu klären, welche mutmaßlich verbotenen Kampfstoffe die türkische Armee hier einsetze.

Das türkische Verteidigungsministerium bestätigte am 27. Mai zumindest Militäraktionen an diesem Tag im Nachbarland, erklärte aber laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Anadolu, man habe im Nordirak "die Terrorzonen der Region ins Visier genommen" und "16 PKK-Terroristen neutralisiert".

Von den Bombardements sind immer wieder auch Zivilisten in den Bergdörfern betroffen.

26. Mai 2022: Ein türkischer Militärkonvoi erreicht besetzten Gebiete in Nordsyrien, berichtet das Rojava Information Center (RIC). Unbestätigten Berichten zufolge sollen 56 Panzer darunter sein.

Im Nordirak werden zwei Kinder im Alter von sechs und sieben Jahren bei Dohuk durch einen türkischen Drohnenangriff getötet. Die Kinder waren mit ihren Eltern in einem Naherholungsgebiet picknicken und spielten auf einem Feld. Es gab zwei weitere Schwerverletzte.

25. Mai 2022: Türkische Bombardements auf syrischem Gebiet in der Gegend um Tel Rifat, Al-Muhsinli nördlich von Manbidsch, sowie die Gegend um die Stadt Ain Issa.

Nördlich von Hasakah wurden zwei Dörfer mit schweren Waffen beschossen. Nördlich von Zarkan (Abu Rasin) wurden die Dörfer al-Boubi und Dada Abdel mit mehr als 15 Artilleriegeschossen und Mörsern beschossen. Es entsteht erheblicher Sachschaden.

22. Mai 2022: In der syrischen Kleinstadt Ain Issa wird ein Zivilist bei einem türkischen Drohnenangriff am Kopf verletzt und muss stationär behandelt werden.

Bei Angriffen auf die Region Tel Tamir und Zirgan wurden drei Bauern verletzt und ihre Felder in Brand gesetzt, berichtet das RIC.

21. Mai 2022: Eine türkische Kampfdrohne tötet im Flüchtlingscamp Maxmur im Nordirak einen Bewohner. Maxmur steht mit seinen 12.000 Bewohnern unter dem Schutz des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). Am selben Tag erfolgt ein Luftangriff bei Suleymania, bei dem fünf Menschen getötet werden.

18. Mai 2022: Eine geflüchtete arabische Mutter und ihre vier Kinder werden bei einem Artillerieangriff der türkischen Armee im Umland von Ain Issa in Syrien verletzt.

In Tel Rifat zerstörte eine Drohne eine Seite eines Wohnhauses einer geflüchteten Familie aus Afrin neben einem Kinder-Bolzplatz, berichtete das RIC.

17. Mai 2022: Mehrere Dörfer im Umland von Ain Issa werden mit Mörsergranaten und Artilleriegeschossen angegriffen, was Panik in der Bevölkerung auslöst und Sachschäden verursacht.

13. Mai 2022: Durch Artillerieangriffe der türkischen Armee brechen im Kanton Kobane mehrere Brände auf Agrarflächen aus. Sie vernichteten die Lebensgrundlage mehrerer Dörfer. Die Angriffe auf Kobane erfolgen durch Außenposten der türkischen Armee. Zeitgleich sind am Himmel über Kobane fünf Aufklärungsflugzeuge der türkischen Luftwaffe im Einsatz.

12. Mai 2022: Innerhalb eines Tages sind in mehr als 50 Dörfern und Siedlungen insgesamt mehr als 1000 Granaten eingeschlagen, meldet das Presse- und Kommunikationszentrum der Syrian Democratic Forces (SDF). Der beschossene Korridor erstreckt sich über eine Länge von 280 Kilometern von Afrin bis nach Ain Issa. Dabei wurden gezielt dicht besiedelte Dörfer, Bauernhöfe, Städte und Gemeinden angegriffen.

11. Mai 2022: Durch einen gezielten Drohnenangriff wird ein Mitglied der Syrian Democratic Forces (SDF) getötet. Der Mann war 2014 nach Kobane gekommen, um die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zu bekämpfen.

Am selben Tag beschießt die von der Türkei finanzierte islamistische "Syrian National Army" (SNA) die Umgebung des Dorfes Aoun al-Dadat bei Manbidsch mit mittelschweren Waffen und verletzt dabei zwei Zivilisten.

22. April 2022: Bei einem Artillerieangriff auf das Zentrum der Stadt Kobane in Nordsyrien werden zwei Zivilisten verletzt; es entsteht Sachschaden an Gebäuden.

21. April 2022: Durch einen gezielten Drohnenangriff werden drei Soldatinnen der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), die Teil der Syrian Democratic Forces (SDF) sind, getötet.

4. April 2022: Bei einem türkischen Drohnenangriff auf ein Fahrzeug nahe Til Temir wurden ein Kommandant des aramäisch-assyrischen Militärrats und ein Übersetzer verletzt. Der Wagen eskortierte eine russische Patrouille zu einem Umspannwerk.

1. April 2022: In Tirbespiyê wird ein Mitglied der Syrian Democrativ Forces von einer türkischen Drohne getötet, zwei weitere Menschen werden verletzt.

Für das Jahr 2021 zogen die Syrian Democratic Forces (SDF) folgende Bilanz der Angriffe von Afrin bis Dêrik entlang der türkischen Mauer: Mindestens 89 Zivilisten wurden durch Angriffe der türkischen Armee und der verbündeten islamistischen Milizen getötet, 139 verletzt.

Es gab 47 Bodenoffensiven zur Ausweitung der Besatzungszone, 1300 Angriffe mit Artillerie-, Panzer- und Mörsergranaten, 89 Drohnenangriffe. 58 Dörfer und 2 Städte wurden angegriffen, es gab 52 Angriffe von Scharfschützen auf Zivilisten, um diese daran zu hindern, ihre Höfe zu erreichen. Mehr als 700 Zivilisten in den besetzten Gebieten Afrin, Girê Spî und Serêkaniyê wurden verschleppt.

22 archäologische Stätten wurden geplündert und zerstört, Friedhöfe der im Kampf gegen den IS Gefallenen geschändet und im Fall des Avesta-Friedhofs in Afrin sogar die Leichen verschleppt. Es gab Angriffe auf einen assyrischen Friedhof bei Til Temir im christlichen Chabur-Tal. Im türkisch besetzten Serêkaniyê wurde der Gefallenenfriedhof dem Erdboden gleich gemacht und darauf ein Militärzentrum errichtet.

Die Liste ließe sich noch endlos erweitern, um beispielsweise die vielen Angriffe auf das jesidische Siedlungsgebiet Shengal im Nordirak. Die Auflistung soll den Lesern und Leserinnen einen Eindruck verschaffen, welchem Terror die Bevölkerung in Nordsyrien und im Nordirak ausgesetzt sind.

Die Drohnen- und Artillerieangriffe sind aber nur ein Teil des Terrors. Durch die Angriffe der Türkei ermutigt, gibt es auch immer wieder Attentate von IS-Schläferzellen. Manche finden zeitgleich mit Angriffen der Türkei statt, wie bei dem Gefängnisausbruch von IS-Mitgliedern in Hasakah Anfang des Jahres.

Neben der bevorstehenden Veränderung der Demographie durch die Zwangsansiedlung syrischer Geflüchteter aus der Türkei ängstigt die Menschen auch die Drohung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, in nächster Zukunft eine neue völkerrechtswidrige Besatzung in Nordsyrien entlang der türkischen Grenze zu installieren.

Absehbare Folgen einer weiteren Besatzung

Die Durchsetzung einer 30 Kilometer breiten Sicherheitszone entlang der türkischen Grenze beträfe fast alle großen Städte der Region, wie etwa Kobane, Amudê, Hasakah, Qamishlo oder Dêrik mit einer Einwohnerzahl von rund 2,7 Millionen Menschen.

Neben der überwiegend kurdischen Bevölkerung würde dies auch fast alle Bewohner der christlichen Siedlungsgebiete betreffen. Die Folge dieser ethnischen Säuberung wäre ein weiterer Flüchtlingsstrom in die Nachbarländer und nach Europa, verursacht durch die Türkei.

Alle Grenzübergänge zum Nordirak wären in türkischer Hand. Große IS-Gefängnisse in Qamishlo und Dêrik wären unbewacht. Die für die Selbstverwaltung wichtige Öl- und Gasinfrastruktur bei Dêrik würde in türkische Hände fallen. Für das verbliebene Gebiet der Selbstverwaltung gäbe es nur noch drei öffentliche Krankenhäuser und eine Universität, da die meisten sich in den Städten im Grenzbereich befinden.

Die ehemalige Leiterin der US-Kommission für internationale Religionsfreiheit, Nadine Maenza, besuchte vergangene Woche die Region und warnte, die Praktiken der Türkei im Nordosten Syriens ähnelten der Politik des IS. Eine erneute türkische Invasion würde für religiöse Minderheiten bedeuten, unter ähnlichen Bedingungen zu leben, wie sie sie unter dem IS erlebt haben. Dagegen hätten im Gebiet der Selbstverwaltung religiöse Minderheiten die besten Bedingungen im Nahen Osten.

"Sie haben eine Regierung aufgebaut, in der sie diese bemerkenswerten Bedingungen haben und Toleranz akzeptieren. Davon kann der Rest der Welt wirklich lernen", bemerkte sie im Interview mit North Press. Maenza hofft, dass die internationale Gemeinschaft und die UNO sich gegen die türkischen Bedrohungen stellen, denn "die USA haben sich in einer Erklärung gegen eine mögliche Invasion ausgesprochen".

Der Sprecher der Vereinten Nationen, Stephane Dujarric, betonte, eine politische Lösung und humanitäre Hilfe habe in Syrien Priorität, Syrien brauche keine weiteren Militäroperationen, von welcher Seite auch immer.

Der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, sagte: "Wir erwarten von der Türkei, dass sie sich an die gemeinsame Erklärung vom Oktober 2019 hält, einschließlich der Einstellung der Offensivoperationen im Nordosten Syriens." Das syrische Außenministerium rief ebenfalls die Vereinten Nationen auf, sich ernsthaft mit der Angelegenheit zu befassen. Es forderte sie außerdem auf, zu den türkischen Praktiken nicht zu schweigen.

Der nationale türkische Sicherheitsrat erklärte ungeachtet der Kritik: "Die laufenden und künftigen Militäroperationen an den Südgrenzen des Landes sind eine Notwendigkeit für die nationale Sicherheit der Türkei".

Mögliche nächste Angriffsziele der Türkei im Juli

Wie in der Vergangenheit wird die Türkei zunächst wieder ein begrenztes Gebiet besetzen. Der auf die Region spezialisierte kurdische Journalist Amed Dicle vermutet, dass das nächste Angriffsziel die Städte Tell Rifat und Manbij im Nordwesten Syriens sein werden. Dies ist die sogenannte Sheba-Region, in der zehntausende Geflüchtete aus dem türkisch besetzten Afrin immer noch in Geflüchtetencamps der Selbstverwaltung leben.

Russland hat nach Aussagen von Dicle sein Okay zu der völkerrechtswidrigen Militäroperation gegeben. Russisches Militär ist auch in Tell Rifat und Manbij stationiert. Die Afrin-Geflüchteten werden erneut flüchten müssen. Doch wohin sollen sie flüchten? Sie werden gegen Osten flüchten, Richtung Kobane, Qamishlo und Dêrik, in die Gebiete der Selbstverwaltung, die schon jetzt die hunderttausenden von Geflüchteten kaum unterbringen und versorgen kann.

Viele werden weiter in den Nordirak ziehen und versuchen, über diesen Weg nach Europa zu kommen. Die mit der Türkei verbündete Regierung des kurdischen Autonomiegebietes im Nordirak wird diese Flüchtlinge nicht willkommen heißen, sie müssen ja im Moment die erneut geflüchteten Eziden aus dem Shengal wieder unterbringen.

Das ezidische Shengal-Gebiet, das 2014 Ort des Genozids an den Eziden durch den IS war, wird ebenfalls immer wieder von der Türkei mit Killerdrohnen attackiert. Zuletzt gab es dort gewaltsame Auseinandersetzungen mit dem irakischen Militär, das auf Druck von Ankara versuchte, den ezidischen Selbstverteidigungseinheiten die Kontrolle über das Gebiet zu entziehen. Seitdem sind über 7000 Eziden zurück in die kurdische Autonomieregion geflohen, die sie aber auch nicht haben wollen.

Amed Dicle vermutet, dass der nächste Angriff der Türkei im Juli erfolgen wird. Die türkische Regierung ist bekannt dafür, wichtige historische Daten für ihre Aktivitäten zu nutzen. So markiert der 19. Juli den Jahrestag der Revolution in Rojava, die in der Stadt Kobane am 19. Juli 2012 begann und seitdem von den demokratischen Kurden weltweit gefeiert wird.

Der 24. Juli ist der Jahrestag des Vertrags von Lausanne, der die heutigen Grenzen der Staaten im Nahen Osten festlegte und die Erdogan wieder rückgängig machen will. Neben Russland wird auch die USA grünes Licht für diese Intervention der Türkei geben, vermutet Dicle.

Die EU und Deutschland werden weiter die "drei Affen" machen und nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – ungeachtet der Folgen für die EU: neue Flüchtlingsströme, ein Erstarken des IS im Nahen Osten und damit einer erhöhten Gefahr für Europa. Die Syrian Democratic Forces hatten den IS besiegt und damit den Westen vor weiteren Terroranschlägen des IS bewahrt.