Sterbehilfe bei "vollendetem Leben" - oder "Entsorgung" der Alten?
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Bürgerlich-liberaler Vorstoß in den Niederlanden belastet auch die Koalitionsverhandlungen
Die Niederlande sind ein internationaler Vorreiter auf dem Gebiet der Sterbehilfe. Hierzulande spricht man von "Euthanasie" (von altgriechisch eu = schön und thanatos = Tod), doch der Begriff ist im deutschsprachigen Bereich wegen der Vernichtungsprogramme kranken und behinderten Lebens von den Nationalsozialisten vorbelastet.
Die aktive Sterbehilfe ist zwar nach wie vor strafrechtlich verboten. Das Gesetz zur Lebensbeendigung vom 12. April 2001 stellt sie unter bestimmten Umständen aber straffrei (also ähnlich wie bei der Abtreibung in Deutschland).
Entscheidend ist dafür der eigene Wunsch des Betroffenen sowie das Vorliegen von unerträglichem und aussichtslosem Leiden. Meistens geht es um Krebspatienten im Endstadium.
Ein Arzt oder eine Ärztin darf die Sterbehilfe ausführen, wenn dabei einige Regeln befolgt werden: Erstens muss es um einen freiwilligen und abgewogenen Wunsch des Patienten gehen; zweitens muss das Leiden, wie gesagt, unerträglich und aussichtslos sein; drittens muss eine Beratung stattgefunden haben; viertens müssen Arzt und Patient zusammen feststellen, dass es keine sinnvolle Alternative gibt; fünftens muss ein anderer Arzt oder eine andere Ärztin diese Punkte schriftlich bestätigen; und sechstens muss die Sterbehilfe sorgfältig ausgeführt werden.
Das Gesetz wurde damals von den Parteien D66 (deutsch: Demokraten 66), VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) sowie PvdA (Partei für die Arbeit) verabschiedet. Ausgenommen sind bisher Kinder unter zwölf Jahren (nicht so in Belgien).
Jugendliche im Alter von zwölf bis 15 Jahren können den Wunsch äußern, der aber von den Eltern beziehungsweise Erziehungsberechtigten bestätigt werden muss. 16- und 17-Jährige können die Entscheidung im Prinzip selbstständig treffen.
Bei psychiatrischen Störungen ist die Sterbehilfe auch möglich, doch natürlich stärker umstritten.
Schließlich ist ein Todeswunsch Kennzeichen bestimmter Störungsbilder, beispielsweise einer depressiven Störung. Und auch die Beurteilung, welches Leiden als unerträglich und aussichtslos gilt, ist hier schwieriger.
Vorstoß "vollendetes Leben"
Der liberal-bürgerlichen D66, die man sich in Deutschland vielleicht als eine Mischung aus Grünen und FDP vorstellen könnte, reicht das aber nicht: Das Recht auf Selbstbestimmung schließt demnach auch Sterbehilfe bei einem "vollendeten Leben" (niederl. voltooid leven) ein.
In der niederländischen Fernsehgeschichte dürfte ein Moment während des Wahlkampfs 2017 in Erinnerung bleiben: In der Talkshow Nieuwsuur wurde der damalige Fraktionsvorsitzende von D66, Alexander Pechtold, überraschend und vor laufender Kamera mit dem Todeswunsch des 57-jährigen Martin Kock konfrontiert (hier den Ausschnitt auf niederländisch).
Die Gesetzesinitiative "Würdevolles Lebensende" einer Parteigenossin Pechtolds sollte Menschen ab 75 mit Todeswunsch bei einem "vollendeten Leben" unter bestimmten Bedingungen und nach zwei Beratungsgesprächen mit einem "Sterbebegleiter" die Sterbehilfe ermöglichen. Doch der 57-jährige Koch fragte: "Warum muss ich noch 18 Jahre warten?"
Ich hatte mich natürlich auf dieses Gesetz gefreut. Doch als ich es las, dachte ich: Was, ich muss erst noch 18 Jahre warten? Und ich habe keine Lust mehr, 18 Jahre zu warten. Ich will jetzt. [langer Moment der Stille]
Martin Kock am 2. März 2017; dt. Übers. d. A.
In der weiteren Diskussion bestätigt Politiker Pechtold zwar, dass jeder über sein Lebensende selbst entscheiden solle. Nach Einführung der Sterbehilfe für Schwerstkranke im Jahr 2002 sei die Initiative über das "vollendete Leben" aber noch ein großer Schritt. Man müsse die Gesellschaft darauf langsam vorbereiten. Daher halte er vorerst an der Lebensgrenze von 75 Jahren fest.
Der Betroffene mit Todeswunsch äußert die Befürchtung, die Sterbebegleiter würden ihn umstimmen wollen. Darauf erwidert der Politiker, es gehe um die Feststellung der Freiwilligkeit und auch der Zurechnungsfähigkeit. Nach rund sechs bewegenden Fernsehminuten erklärt die Moderatorin, hierbei solle man es nun belassen. Danach folgte eine intensive gesellschaftliche Diskussion.
Ungelöstes Problem
Auch vier Jahre später ist das Problem ungelöst und liegt der Gesetzesvorschlag zur Diskussion beim Parlament. Zurzeit blockiert die Frage sogar die Regierungsbildung: Seit den Wahlen vom 17. März 2021 blieben alle Koalitionsverhandlungen erfolglos; für D66, zweitgrößte Fraktion, ist das Gesetz ein zentrales Anliegen, für die möglichen Regierungspartner CDA (Christlich-Demokratischer Aufruf) und ChristenUnie (ChristenUnion) aber ein rotes Tuch (Keine Koalition in Sicht: Niederlande erwägen außerparlamentarische Regierung).
Die Befürworter heben die Selbstbestimmung hervor; die Gegner befürchten, das Gesetz könne ungewünschten Druck auf ältere Menschen ausüben, ihr Leben zu beenden. In Deutschland mag eine derartige Diskussion im Moment vielleicht noch unvorstellbar sein; es sei aber an die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 erinnert, mit der das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt wurde. In den Grundsätzen dieses Urteils heißt es:
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das […] schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.
BVerfG, 2 BvR 2347/15
Hierbei mag es erst einmal um Sterbehilfe bei Todkranken gehen. Den letzten Grundsatz könnte man aber auch so lesen, dass lebensmüde Menschen ebenfalls ein Recht auf Sterbebegleitung haben.
Lebensmüdigkeit
2017 veröffentlichte der Belgische Rat für Bioethik eine Empfehlung zur Sterbehilfe bei psychischem Leiden. Dieser greift auch die Diskussion in den Niederlanden auf und bespricht das Thema Lebensmüdigkeit.
Darin heißt es, Ärztinnen und Ärzte in Flandern würden regelmäßig und häufiger mit dem Thema Sterbehilfe bei Lebensmüdigkeit konfrontiert. Diese wird als "psychisches Leiden von einer Person, die durch (eine Kombination von) medizinischen oder nicht-medizinischen Faktoren keine oder nur mangelnde Lebensqualität (mehr) erfährt und infolgedessen den Tod gegenüber dem Leben vorzieht" verstanden (dt. Übers. d. A.).
Die Ethikerinnen und Ethiker diskutieren in diesem Kontext auch ein Phänomen, auf das ich selbst seit vielen Jahren in meinen Artikeln über psychische Gesundheit hinweise: die Medikalisierung gesellschaftlicher Probleme.
Das heißt, immer mehr Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft beziehungsweise ihren Institutionen werden als medizinische Probleme verstanden, für die es dann ärztliche Lösungen geben soll. Das Gebiet der psychischen Störungen ist wegen der schwammigen Grenze zwischen "normal" und "gestört" hiervon besonders betroffen (Das Einmaleins psychischer Störungen.
Schon heute wissen wir, dass das Geschlecht, die Herkunft, das Bildungsniveau und der Wohlstand eines Menschen im Zusammenhang mit dessen Gesundheit und Lebenserwartung steht. Kritiker befürchten darum, dass Sterbehilfe bei Lebensmüdigkeit vor allem ausgegrenzte, vereinsamte Menschen betreffen würde.
Anstelle von Bemühungen, diese Menschen zu integrieren und ihnen ein sinnvolles Leben zu ermöglichen, liefe eine Sterbebegleitung dann auf deren "Entsorgung" hinaus. In diesem Zusammenhang könnte man noch einmal an Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" denken und den Umgang mit dem Tod in dieser medizinisch-biologischen Dystopie, die hinter den Kulissen eben doch nicht ganz so perfekt ist.
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