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Geschichte aufarbeiten oder abschließen? Kolumbien steht einmal mehr am Scheideweg

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Der Friedensprozess, den der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe Vélez 2003 öffentlichkeitswirksam eingeläutet hat, ist nicht ohne Folgen geblieben. Doch der Bürgerkrieg, der allein in den letzten 20 Jahren rund 70.000 Menschenleben gefordert hat, prägt nach wie vor den Alltag des südamerikanischen Staates - auch deshalb weil es den beteiligten Parteien nicht gelingt, sich über den Umgang mit der gewalttätigen Vergangenheit zu einigen.

Das im Juni dieses Jahres verabschiedete "Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden", das die Demobilisierung paramilitärischer Einheiten sowie linker Guerillagruppen und den Aufbau einer Zivilgesellschaft entscheidend voranbringen sollte, bewirkt nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international nichts oder das genaue Gegenteil.

In dem Ende vergangener Woche in Madrid vorgestellten Bericht "Colombia. The Paramilitaries in Medellín: Demobilization or Legalization?" zeigt amnesty, wie die Bestimmungen zur Demobilisierung in der Praxis zu einer Amnestie der Täter führen, während ihre Opfer vergeblich auf eine Entschädigung für erlittenes Unrecht warten. Mörder und Vergewaltiger würden ohne Bestrafung in die kolumbianische Armee oder bewaffnete Sicherheitsdienste übernommen, außerdem ließen die (ehemaligen) Mitglieder paramilitärischer Gruppen nicht davon ab, weiter die Zivilbevölkerung zu terrorisieren.

Allein in Medellín hat amnesty seit der vermeintlich bahnbrechenden Waffenstillstandsvereinbarung zwischen der Regierung und den Paramilitärs im Jahr 2003 rund 2.300 Fälle von politischem Mord und "Verschwindenlassen" dokumentiert. Heute wird sich die Europäische Union entscheiden, ob und in welcher Form sie den Prozess der Demobilisierung unterstützen will. Die Menschenrechtsorganisation fordert die Union nachdrücklich auf, durch ihr Verhalten nicht zu einer Legalisierung des Unrechts in Kolumbien beizutragen.

Wie das verhindert werden könnte, weiß amnestys Kolumbien-Experte Jörg Lehnert, mit dem Telepolis im Vorfeld der EU-Sitzung gesprochen hat.

Inwiefern haben Entscheidungen der EU unmittelbaren Einfluss auf die Ereignisse in Kolumbien?

Jörg Lehnert: Sie sind wichtig, weil jetzt die Weichen gestellt werden, ob die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten den Prozess der Demobilisierung in dieser Form unterstützen wollen. Das ist ein großes Ziel der Regierung Uribe, und zwar nicht weil sich der Präsident für sein Land besondere finanzielle Vorteile erhofft. Sollte die EU ihre Unterstützung signalisieren, würde die kolumbianische Regierung aber erheblich an Reputation gewinnen. Wir hoffen deshalb, dass die EU bei ihrer bisherigen kritischen Haltung bleibt.

Warum genau?

Jörg Lehnert: Weil die sogenannte Demobilisierung in der Praxis eine Legalisierung bedeutet. In Kolumbien haben sowohl die Paramilitärs als auch die linken Guerillatruppen eine Größe erreicht, die kaum mehr zu kontrollieren ist. Insofern muss die Regierung selbstverständlich auf schnelle Verhandlungslösungen setzen. Aber die jetzige Regelung bedeutet insbesondere für die Angehörigen paramilitärischer Einheiten: Sie lassen sich demobilisieren, behalten aber ihre Ausrüstungen; sie werden nicht bestraft, sondern recycelt, und ihre Organisationsstrukturen bleiben unangetastet.

Wer trägt vor Ort die Verantwortung dafür, dass der Friedensprozess immer wieder ins Stocken gerät? Präsident Uribe, bestimmte Parteien oder lokale Warlords? Anders gefragt: Wer hat ein Interesse daran, die Täter schnell zu amnestieren und den Opfern eine Entschädigung vorzuenthalten?

Jörg Lehnert: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Es wäre denkbar, dass sich die Regierung Uribe bemüht, mit der einen Partei Übereinkünfte zu erzielen, und dann mit ihr gemeinsam die andere zu bekämpfen. Nach Lage der Dinge bieten sich die Paramilitärs als Partner an, denn es bestehen seit vielen Jahren enge Verbindungen zwischen diesen Gruppen und großen Teilen der Armee oder Polizei. Dafür gibt es eine Unzahl von Beweisen, und vor dieser gefährlichen Allianz warnt nicht nur amnesty, sondern auch Human Rights Watch oder der UN-Hochkommissar für Menschenrechte. Die Regierung Uribe leugnet diese Allianz und behauptet, gegen Verbindungen zwischen Paras und den eigenen Sicherheitskräften energisch vorzugehen.

Die Situation in Kolumbien ist allerdings auch sehr kompliziert. Die Paramilitärs haben in vielen Landesteilen - etwa an der Atlantikküste - vollständig die Macht übernommen. Dort kann man sich nicht einfach an Regierungsstellen wenden, und eine Opposition existiert ohnehin nicht mehr bzw. ein entsprechendes Engagement ist lebensgefährlich.

Welche Rolle spielt der Drogenhandel in diesen Auseinandersetzungen?

Jörg Lehnert: Das ist nach wie vor ein wichtiger Generator, damit die Konfliktparteien sich in den Besitz der finanziellen Mittel bringen können, die sie brauchen, um den Kampf fortzusetzen. Der Anbau spielt ein wichtige Rolle, aber auch der Transport von Drogen - beispielsweise in die USA. Sowohl die Paramilitärs als auch linke Guerillakämpfer kassieren Schutzgelder und verteidigen im Gegenzug die Plantagen, auf denen Drogen angebaut werden

Woher beziehen die paramilitärischen Einheiten Waffen und Ausrüstungsgegenstände, und welche unmittelbaren Ziele verfolgen sie heute?

Jörg Lehnert: Die erste Frage lässt im Detail nur schwer beantworten, es ist in Kolumbien allerdings sehr einfach an Waffen zu kommen, wenn man das nötige Geld hat. Die Paramilitärs verfolgen im wesentlichen drei Ziele. Erstens: Die Eroberung eines Gebietes mit Hilfe terroristischer Maßnahmen, deren Brutalität selbst für südamerikanische Verhältnisse erschreckend ist. Zweitens: Die Konsolidierung ihrer Machtstellung durch die systematische Ausschaltung aller oppositionellen Bestrebungen. Drittens: Die "Legalisierung" der Macht durch zivile Methoden, etwa die Einsetzung von Bürgermeistern oder Angeordneten. So kann eine terroristische, gewalttätige Gruppe legale Machtpositionen erreichen, und viele Großgrundbesitzer und lokale Entscheidungsträger unterstützen sie in diesem Prozess.

Der amnesty-Bericht spricht explizit von einer "paramilitarization of Colombia" und nennt diese Gruppenbildung "a national phenomenon". Wie ist es eigentlich entstanden?

Jörg Lehnert: Darüber sind schon Doktorarbeiten geschrieben worden - begünstigt wird die Entwicklung sicher durch die geografische Lage, die zu einer langen Abwesenheit staatlicher Gewalt und entsprechenden Kontrollverlusten geführt hat. Außerdem spielen die Bürgerkriege, denen Zehntausende Menschen zum Opfer gefallen sind, eine wichtige Rolle für die Fortdauer der Konflikte. Diese erneuern sich ständig, und einzelne Interessengruppen versuchen immer wieder, das Recht in die eigene Hand zu nehmen.

Ist das politische System Kolumbiens durch die immer wieder aufflackernden Konflikte ernsthaft bedroht? Oder gibt es gar keine ernstzunehmenden Alternativen zur jetzigen Präsidialrepublik?

Jörg Lehnert: Ich glaube nicht, dass das politische System in Gefahr ist. Eine Revolution hätte wohl keine Aussichten auf Erfolg, und das gilt ebenso für einen offenen Militärputsch, der von den Paramilitärs aber wohl auch nicht beabsichtigt wird. Die Regierung Uribe hat ein ganz anderes Problem: Sie steuert auf eine gewaltige Legitimitätskrise zu, wenn es ihr nicht gelingt, das Land dauerhaft zu befrieden. Man muss allerdings einräumen, dass Uribe in der Bevölkerung durchaus populär ist. Es ist ihm gelungen, die Aktivitäten der ehemals linken Guerillagruppen mit ihrer "Entführungsindustrie" einzuschränken. Das hat dazu geführt, dass sich viele Städter zum ersten Mal seit Jahren wieder zu Ausflügen aufs Land trauen. Das Problem dabei sind die Methoden des Kampfes gegen die Guerilla.

Und dauerhaft für Frieden zu sorgen, wäre auch ein anderer Umgang mit der kolumbianischen Geschichte notwendig -auf allen Seiten.

Jörg Lehnert: Das Thema Vergangenheitsbewältigung ist unerschöpflich, das können Sie auch in den Romanen von Gabriel Garcia Marquez nachlesen. Der kolumbianischen Gesellschaft ist es bislang nicht gelungen, sich systematisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, und das entscheidende Problem besteht darin, dass viele Konflikte gar nicht beendet sind. Es kommt auch heute noch zu Massakern und vielen anderen Verbrechen - von einem Ende der Gewalt, und nur das würde einen abschließenden Blick zurück erlauben, kann also keine Rede sein.

Deutschland ist nach Angaben des Auswärtigen Amtes Kolumbiens größter Handelspartner innerhalb der EU und liefert seit 1991 keine Waffen mehr an die kolumbianischen Streitkräfte. Was kann Deutschland - gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Ländern - noch tun, um zu einer Beruhigung der Situation beizutragen?

Jörg Lehnert: Deutschland kann im Rahmen der Europäischen Union moralischen Druck ausüben und so deutlich machen, dass das Projekt einer schleichenden Amnestie hier nicht auf Billigung stößt. Außerdem sollten die bereits laufenden Friedensprojekte im Rahmen der Entwicklungshilfe fortgesetzt werden. Die Haltung Deutschlands und Europas ist, wie eingangs erwähnt, sehr wichtig, relativiert sich allerdings durch die sehr viel größere Bedeutung, welche die Regierung Uribe meiner persönlichen Einschätzung nach der Einstellung der USA beimisst. Und von Präsident Bush hat sie keine kritischen Worte zu befürchten.

Warum nicht?

Jörg Lehnert: Weil Uribe den "Terrorismus" bekämpft, und das ist seit dem 11. September ein Qualitätsmerkmal. Jedenfalls aus Sicht der USA. Was sich tatsächlich dahinter verbirgt, ist für die Bush-Regierung, die Menschenrechten ohnehin keinen hohen Stellenwert beimisst, offenbar nicht so interessant.