Straße vor Schiene, Privat vor Staat: Wissing lässt plündern
Trotz anderslautender Vorsätze baut die "Ampel" bei Infrastrukturprojekten weiter auf öffentlich-private Partnerschaften. Der Verkehrsminister plant mindestens sieben weitere. Transparenz? Fehlanzeige.
Was das Handelsblatt vor knapp einem Jahr titelte, klang verheißungsvoll: "Ampel nimmt Abschied von öffentlich-privaten Partnerschaften im Fernstraßenbau." Aber die letzte Überzeugung wollte sich damals auch bei Autor Daniel Dalhaes nicht einstellen, denn, so seine Einordnung, die Bauindustrie "reagiert gelassen auf die Ansage".
Heute, elf Monate nach dem Start von "Rot-Grün-Gelb", weiß man mehr: Nicht nur hat die Regierung den Abschied von ÖPPs niemals verkündet. Ganz im Gegenteil könnte das Konzept demnächst sogar noch stärker gepusht werden als bisher. So jedenfalls lassen sich die Antworten des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag deuten.
Wie deren Abgeordneter Victor Perli am Dienstag gegenüber Telepolis erklärte, sei der Anwendungsbereich von ÖPPs im Verkehrssektor gegenüber der Vorgängerregierung "sogar ausgeweitet" worden, womit sich die behauptete Einschränkung des Finanzierungsmodells als "Nullnummer" entpuppte. "Neue Projekte werden vorangetrieben, als hätte es keinen Regierungswechsel gegeben", so Perlis Befund.
Wissings Hintertürchen
Eine Abkehr von den umstrittenen Kooperationen zwischen Staat und Privatwirtschaft hatten sich vorneweg Bündnis 90/Die Grünen auf die Fahnen geschrieben. Neben der Linkspartei waren sie es, die jahrelang gegen Milliardengräber, Verschwendung von Steuergeld und krumme Geschäfte im Wirkkreis eines Bundesverkehrsministeriums unter CSU-Dauerherrschaft wetterten. Noch im Mai des Vorjahres brachte die Grünen-Fraktion einen Gesetzentwurf ins Parlament ein, der Autobahnprojekte der Sorte ÖPP gänzlich verbieten sollte.
Und jetzt? Mit Volker Wissing (FDP) schwingt im Verkehrsressort zwar nicht länger ein Christdemokrat das Zepter. Aber die Gangart – Straße vor Schiene, Privat vor Staat – setzt sich trotzdem fort. Daran ändert auch der schöne Wortlauf des Koalitionsvertrags nichts. "Bei Kernaufgaben des Staates verbleibt es grundsätzlich bei einer staatlichen Umsetzung und Finanzierung", heißt es darin. Lediglich "ausgewählte Einzelprojekte und Beschaffungen" könnten unter Einbindung der Privaten umgesetzt werden.
Aber dann ist das dieses Hintertürchen. Während sich die große Koalition in ihrem damaligen Regierungsprogramm auf die Realisierung "noch nicht fertiggestellter" ÖPP der ersten bis dritten Staffel beschränkt hatte, ist diese Bindung gemäß BMDV-Antwort neuerdings "nicht mehr vorgesehen". Damit kämen "neben den genannten Projekten gegebenenfalls auch andere in Betracht". Der Fokus liege darauf, "geeignete Projekte im Hinblick auf ihre Umsetzbarkeit im Rahmen einer ÖPP zu untersuchen", wobei der "Maßstab der Beurteilung" die Bundeshaushaltsordnung (BHO) sei.
Verriss durch Rechnungshöfe
ÖPPs sind Goldgruben für Investoren und die Steuerzahler die Angeschmierten. Bei den Konstruktionen übernehmen Konzerne Planung, Bau und Unterhaltung von Straßen, Brücken oder Tunneln und lassen sich dafür in der Regel für 30 Jahre aus staatlichen Schattenhaushalten jenseits parlamentarischer Kontrolle vergüten. Wiederholt haben die Rechnungshöfe in Bund und Ländern bemängelt, dass die dabei fälligen langfristigen Kosten die Aufwendungen einer klassischen staatlichen Beschaffungsmaßnahme so gut wie immer und zumeist massiv übersteigen.
Zum Beispiel hatte der Bundesrechnungshof (BRH) 2014 sechs dieser Unternehmungen begutachtet, wovon fünf insgesamt 1,9 Milliarden Euro mehr verschlangen als eine Realisierung in öffentlicher Hand. 2019 musste die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion einräumen, dass von 15 laufenden oder geplanten ÖPP-Autobahnprojekten zwölf den ursprünglich veranschlagten Ausgabenrahmen gesprengt hatten.
Die bis dahin aufgelaufenen Extrakosten beliefen sich auf 3,2 Milliarden Euro. Schon im Jahr davor hatte der Europäische Rechnungshof konstatiert, ÖPPs könnten "nicht als wirtschaftlich tragfähige Option zur Verwirklichung öffentlicher Infrastrukturvorhaben angesehen werden".
Gleichwohl setzten die Regierenden in Deutschland den Raubbau an den öffentlichen Kassen unvermindert fort und beriefen sich dabei stets, so wie jetzt auch Wissing, auf die Vorgaben der BHO sowie in jedem Einzelfall auf sogenannte Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen, die die vermeintliche Überlegenheit von ÖPPs in puncto Effizienz, Termin- und Kostentreue belegen sollen.
Beraten und verkauft
An sich widerspricht das zwar jeder Logik, schließlich muss ein Privatunternehmen Gewinne generieren, während der Staat ohne Profitmaximierungsgebot agiert. Aber um Logik geht es nicht, sondern um Augenwischerei. Und tatsächlich folgen den ursprünglichen Ausgabenansätzen bei nahezu allen diesen Unternehmungen immer wieder neue Kostenexplosionen. Wissenswert ist zudem: Besagte Wirtschaftlichkeitsgutachten werden regelmäßig von Beratungsgesellschaften – wie etwa Pricewaterhouse Cooper (PcC) oder KPMG – verfasst, die wiederum selbst mit den ÖPP-Profiteuren geschäftlich verbandelt sind.
Nicht zufällig gehörte PvC auch zu den Architekten der "Autobahn GmbH des Bundes", in der seit 1. Januar 2021 die Fernstraßenverwaltung in Bundeshoheit zentralisiert ist (zuvor Ländersache) und von der Kritiker wie der Verein Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) sagen, dass sie als "ÖPP-Maschine" die Privatisierung des Straßenbaus vorantreiben wird.
Die geistige Schöpferin der Reform war die sogenannte Fratzscher-Kommission, ein von Ex-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) bestellter Zirkel aus marktliberalen Ökonomen und Vertretern der Finanzbranche unter Vorsitz des Chefs des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. Betraut wurde der Expertenrat 2014 mit dem Auftrag, hochprofitable Anlagemöglichkeiten für von Niedrigzinsen gebeutelte Banken und Versicherungen "zur Stärkung von Investitionen in Deutschland" aufzuspüren.
Teure Rechtsstreitigkeiten
Ergo sind ÖPPs zuallererst Geldvermehrer auf Kosten der Allgemeinheit. Die neu errichtete Autobahngesellschaft will bis 2025 nicht weniger als 300 Bau- und Sanierungsvorhaben im Umfang von 30 Milliarden Euro stemmen. Angesichts der in Jahrzehnten personell ausgebluteten öffentlichen Planungs- und Bauämter wird die Privatwirtschaft gerne mit ihrer Expertise einspringen, bevorzugt in öffentlich-privater Partnerschaft.
Schon für die aktuell rund 20 laufenden ÖPP-Projekte hat der Bund bis 2050 mehr als 20 Milliarden Euro reserviert, wobei sich mit jedem Jahr neue Risiken auftürmen. Allein die gehäuften Rechtsstreitigkeiten mit Betreibern verursachen Unsummen. Laut Replik des BMDV verschlang etwa das Schlichtungsverfahren zum Autobahnausbau zwischen Bockenem und Göttingen über 35 Millionen Euro an Staatsgeld.
Offen ist der Ausgang der Wirren um die sogenannte Hansalinie zwischen Hamburg und Bremen. Das Betreiberkonsortium hatte den Bund erfolglos auf Schadensersatz in Höhe von 778 Millionen Euro verklagt, weil der Streckenabschnitt infolge der Finanzkrise weniger LKW-Maut-Erlöse als erhofft abgeworfen hatte. Vor Gericht obsiegte der Bund zwar. Was aber passiert, wenn die insolvenzbedrohte Gesellschaft A1 Mobil, die zwischenzeitlich mehrmals weiterverkauft wurde, den Laden am Ende dicht macht?
Aber all das schreckt die Verantwortlichen nicht. In seinem "Kompendium" zum Entwurf für den Bundeshaushalt 2023 nennt das Ministerium sieben "mögliche weitere Projekte" nach ÖPP-Machart im Fernstraßenbau, versehen mit dem Hinweis: "Aufzählung nicht abschließend". Immerhin verspricht der Koalitionsvertrag gewisse Korrekturen in Richtung mehr Transparenz der Verträge und einer stärkeren "exekutiven, parlamentarischen und öffentlichen Kontrolle".
Finanzieller Supergau
Aber was folgt daraus? Auf Perlis Frage, ob sich hierdurch Neuerungen ergäben und ob die Regierung die Risikoverteilung in den ÖPP-Kontrakten ändern werde, setzte es ein knappes "Nein". Auch werde von der "Veröffentlichung konkreter Inhalte der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen (…) mit Blick auf laufende und noch durchzuführende Vergabeverfahren im Ergebnis abgesehen".
Für Perli liegt hier ein "klarer Bruch" des Koalitionsvertrags vor, zumal die Verträge auch weiterhin "nach Abstimmung" mit dem Auftragnehmer lediglich "teilgeschwärzt" publiziert werden sollen. Damit bleibt wohl auch in Sachen Transparenz alles wie gehabt, sprich im Dunkeln. GiB-Sprecher Carl Waßmuth kommentierte dies gegenüber Telepolis: "Es zeigt sich überdeutlich, was für ein grandioser Unfug ÖPP sind. Und trotzdem grenzt die Ampel diese nicht wie versprochen ein."
Dabei droht angesichts der massiv gestiegenen Bau- und Energiekosten schon mit den laufenden Projekten der finanzielle Supergau. Wie das BMDV einräumte, sind "die Auftragnehmer (...) wegen Preissteigerungen und Lieferschwierigkeiten auf den Auftraggeber zugekommen". Erste Gespräche hätten bereits stattgefunden, "konkrete Verhandlungen" seien aber noch nicht geführt worden. Kommt Zeit, kommt Rat – beziehungsweise Geld.